„Die Zeit ist Satans Weg zu verhindern, dass alles gleichzeitig geschieht“, hat Albert Einstein gesagt. Zumindest sinngemäß. Ich finde, damit ist Satan in dieser von Spendenwut und Sozialarbeiter-Fernsehen durchdrungenen Welt eine ganze Menge an Einfluss eingeräumt. Bis in die Köpfe von ABIGOR hat des Teufels klamme Hand diesmal aber nicht gereicht, denn auf „Time Is The Sulphur In The Veins Of The Saint“, das konzeptionell auf Einsteins Eingangszitat fußt, passiert eine ganze Menge zur selben Zeit. Fast so, als habe Satan für knappe 40 Minuten die Zügel ein bisschen schleifen lassen, um das neue ABIGOR-Album zu hören.
Und ich bin mir sicher, er hätte eine Menge Freude an „Time Is The Sulphur…“. Das aus zwei überlangen Stücken bestehende Album vereint alle Attribute, die man dem Gehörnten gemeinhin nachsagt: Bösartigkeit, Wahnsinn, Chaos, Unberechenbarkeit, Hässlichkeit, aber auch Anmut, Direktheit, Genie. ABIGOR schreiten ohne Zögern auf dem Weg voran, den sie mit „Fractal Possession“ vor zwei Jahren eingeschlagen haben. Im Gegenteil, sie haben sich die schnellsten Pferde besorgt und reiten wie die Besessenen in Richtung einer noch intensiveren Ausdrucksform für ein satanistisches Weltbild.
Die Gitarrenarrangements sind noch ein Stück komplexer, die Rhythmen vertrackter, die Songstrukturen völlig undurchsichtig. Das staubtrockene Drumming ist noch immer präziser als jede Atomuhr und bei aller für den Black Metal typischen Raserei unvergleichlich kreativ. Was in den Gitarren geschieht, spottet jeder Beschreibung: eine von verwirrenden Effekten, flirrenden Leadgitarren-Kontrapunkten, verstörenden Obertönen und polyrhythmischen Stakkato-Riffs durchzogene, schimmernde Lache, untermalt von wummernden Basslinien. Als sei das nicht genug, verziert Sänger A.R. diesen Wahnwitz mit einer fantastischen Vokalleistung, die beeindruckend vielfältig und ausdrucksstark ist und weit über das hinaus geht, was man sonst aus dem Genre gewohnt ist.
Trotz dieser irrwitzigen Komplexität, mit der ABIGOR das bisherige Verständnis von Black Metal ein ganzes Stück weit aus den Angeln heben, ist „Time Is The Sulphur…“ auf seine eigene Art und Weise eingängig. Obwohl die üblichen Strukturen eines Albums als Tracks aufgehoben sind, man von Strophen oder Refrains nicht sprechen kann und das Material alles andere als tauglich zum Mitsingen ist, haben ABIGOR in dieser schweren See von einem Album Leuchttürme für den Hörer gebaut. Samples einer Uhr, längere Sprechpassagen, cleane Gesangsparts, Chöre, Industrialbreaks, Keyboardtupfer, kurze Intermezzi. Inmitten dieser Achterbahn aus Disharmonien und diszipliniertem Chaos sind das wohltuende Inseln der Orientierung, die nötig sind, um dieses bis zum Bersten intensive Album überhaupt am Stück zu hören.
ABIGOR sind mit „Time Is The Sulphur…“ an einem Punkt angekommen, an dem sie sich gängigen Kategorien der Beurteilung entziehen. Was man objektiv bewerten kann – die etwas dünne, aber sehr gute Produktion und die absolut perfekte Performance – ordnen die Platte definitiv am oberen Ende der Black-Metal-Skala ein. Die unbegreifliche Ausdruckskraft und Bösartigkeit, die vermeindliche Strukturlosigkeit und Ungewöhnlichkeit, die die beiden Stücke für ungeübte Ohren unhörbar macht, kann kein Mensch wirklich bewerten. Da kann man nur staunend davorstehen und dieses Gewitter über sich ergehen lassen, in dem es vielleicht einen Anfang, aber kein wirkliches Ende zu geben scheint. Was Einstein dazu sagen würde?
Kommt qualitativ nahe an "Supreme Immortal Art" heran, erreicht es aber nicht ganz. (In meinen Ohren.) AR hat stimmlich nicht ganz Silenius Qualitäten, die Gitarren sind mir dann doch ein wenig zu abgefahren. Wer Atheist schon immer zu eingängig fand, Ulver William Blake zu wenig komplex und überhaupt 99% aller Schwarzwurzelgitarristen zu einfallslos, der muß dieses Album kaufen. 🙂