Rock im Park
Der große Festivalbericht vom Rock im Park 2014 in Nürnberg
Konzertbericht
Samstag, 07. Juni
Der erste Tag, an dem alle drei Bühnen geöffnet sind, hält auch wieder zahlreiche Konzert-Highlights bereit. Wir gehen ihn an mit einem gepflegten Metal-/Mathcore-Massaker von ARCHITECTS, die ein wahres Inferno in der Clubstage inszenieren: vor der Bühne tobt ein nicht enden wollender Circle Pit, im Sekundentakt trudeln Stagediver vorne am Bühnengraben ein. Parallel auf der Centerstage streut die britische Band KASABIAN ihren ungewöhnlichen, atmosphärischen Mix aus Indie, Elektro, Britpop, Motown, HipHop und Sixties-Rock in die Menge. Darunter natürlich ihre Hits, etwa „Days Are Forgotten“, „Re-Wired“ und „Switchblade Smiles“ vom UK-Nummer-Eins-Album „Velociraptor!“, den obligatorischen Kracher „Fire“, aber auch diverse neue Stücke (z.B. „Eez-Eh“ und „Bumblebee“) vom gerade erst ganz frisch veröffentlichten Album „48:13“ – die Ziffer benennt übrigens die Spieldauer der 13 Tracks, und prangt live nicht nur auf einem großen Backdrop im Bühnenhintergrund und auf der Bass-Drum, sondern , damit es auch wirklich alle mitkriegen, zudem auf dem T-Shirt von Sergio Pizzorno.
Wir wechseln zurück zur Clubstage, wo mittlerweile SUICIDE SILENCE aus Riverside / Kalifornien mächtigen Deathcore abrocken und die Stimmung ihrer Clubstage-Vorgänger auf demselben hohen Niveau weiterbrodeln lassen – keine Zeit zum Verschnaufen, der Saal ein großer Moshpit, und auch die Wall Of Death darf natürlich nicht fehlen. Die Zutaten: Ein Wechsel zwischen tiefen Growls und hohen Screams von Hernan „Eddie“ Hermida (früher bei ALL SHALL PERISH), der letztes Jahr nach dem Unfalltod von Mitchell Lucker als neuer Sänger zur Band stieß, dazu ein extrem schnelles Schlagzeug-Gewitter und fette, verzerrte Gitarrenriffs. Pure Energie. „You Only Live Once“, das Eddie zum Großteil aus dem Fotograben direkt vor den Fans herausschreit, mobilisiert zum Abschluss nochmal sämtliche Reserven.
Zurück zur Centerstage, wo die sechs Schweden MANDO DIAO im technoiden Schwarz-Weiß-Look erscheinen (dazu passend Gustaf Erik Norén mit nun platinblonden Haaren). Zunächst gedenkt man, begleitet von langgezogenen Keyboard-Klängen, einem guten Freund, der den Kampf gegen den Krebs verloren hat. Ihm widmen sie das ruhige, leicht melancholische Duett „If I Don’t Have You“ vom neuen Album „Ælita“. Nach einem kurzen Danke dann die Frage: „Are you ready to party?“ Die Antwort kann sich wohl jeder denken, und sofort wird es mit „God Knows“ eine Spur rockiger. Es folgt ein bunter Strauß an groovig-tanzbaren Songs, zum Teil mit gesanglicher Unterstützung eines Gasts vom Art Collective Caligola, und als Sahnehäubchen bekannte Clubhits à la „Gloria“ und „Dance With Somebody“; dazwischen mogelt sich als kleines Highlight die schöne, zwölf Jahre alte Ballade „Mr. Moon“, bei der das edle, rauchige Sangesorgan von Herrn Dixgård am Mikro ganz besonders glänzen kann.
Nach sexy Stimmen, sanften Rhythmen und Dancefloor-Smashern geben wir uns nochmal das Kontrastprogramm und erleben für eine restliche halbe Stunde, wie die Kalifornier OF MICE & MEN mit ihrem druckvollen, kompromisslosen Dampfhammer-Mix aus Post-Hardcore und NuMetal fast die Clubstage zerlegen. Dann steht eine schwere Entscheidung an: Kings oder Queens, das ist hier die Frage. Wir entscheiden uns für beides, teilen uns auf und wechseln, können dadurch aber leider das jeweilige Set nicht durchweg genießen. QUEENS OF THE STONE AGE bieten auf der Alternastage ihren hypnotischen, stets leicht psychedelischen, sich in die Gehörgänge fräsenden Schrammelgitarrensound, der Wüste atmet. Die dargebotenen Songs sind ein Querschnitt aus den bisherigen Alben, darunter gleich jeweils vier von „Songs For The Deaf“ und „… Like Clockwork“. Auch nicht fehlen darf die Hit-Single „Feel Good Hit Of The Summer“ vom „Rated-R“-Album, deren Text sich ausschließlich aus einer Aufzählung diverser Drogen zusammensetzt: “ Nicotine, Valium, Vicadin, Marijuana, Ecstasy, Alcohol“ und im Refrain ein „Co-Co-Co-Co-Cocaine“. Josh Homme, seines Zeichens Sänger, Ausnahme-Gitarrist, Rampensau und einziges ständiges Bandmitglied seit 1996, weiß ja durchaus von was er singt, schließlich prägen Drogenexzesse, Verhaftungen und ein Herzstillstand seinen Weg. Auf der Bühne wirkt er fit und aufgeräumt, und vor allen Dingen, im bunten Scheinwerferkegel, mit konzentriertem Mienenspiel und ausladendem Hüftschwung, stets cool und auf eine sehr sympathische Weise abgeklärt. „A Song For The Dead“ setzt den Schlusspunkt.
Auf der Centerstage schicken sich derweil KINGS OF LEON an, ihren Ruf als eine der besten Live-Bands dieses Planeten zu zementieren. Die Familienbande Followill aus Nashville/Tennessee (drei Brüder und ein Cousin) fangen ohne jegliches verbales Vorgeplänkel mit dem ruhigeren Stück „Rock City“ von ihrem neuen Album „Mechanical Bull“ an, doch die Drehzahl steigt gleich anschließend mit „Taper Jean Girl“, das die weite Wiese in eine Art überdimensionale Tanzfläche verwandelt. Sänger Cab Followill begrüßt das Publikum mit den Worten: „Thank you very much, we are KINGS OF LEON. I hope you have a good time“, und viel mehr wird er nicht mehr reden. Der intensive, treibende Mix aus Blues, Southern Rock und Alternative Rock braucht auch keine Worte, um zu zünden. Zu allen Singleauskopplungen des neuen Albums („Supersoaker“, „Wait for Me“ und „Temple“) und älteren Krachern wie „Molly’s Chamber“, „The Bucket“ oder „Notion“ flimmern Animationen einer Leuchtreklame mit dem Albumtitel „Mechanical Bull“ oder Zusammenschnitte schwarz-weißer Videoclips über die seitigen LED-Screens; im Bühnenhintergrund setzen atmosphärische Visuals die Songs in Szene. Eines der Highlights der durchweg fesselnden Performance ist der letzte reguläre Song „Use Somebody“, mit dem das Quartett nahezu den ganzen riesigen Mob auf dem Zeppelinfeld zum Mitsingen und Tanzen bringt. Nach langen Minuten des Wartens und Bittens ertönt ein Basston, das Schlagzeug setzt ein, das Licht geht wieder an, und die Kings Of Leon stehen für eine Zugabe von drei weiteren Liedern auf der Bühne. Nach ihrem Nummer-Eins-Kracher „Sex On Fire“ sind sie jedoch endgültig weg und lassen ein sichtlich begeistertes Publikum zurück.
Man mag es kaum für möglich halten, aber wir erhaschen zwischen den Kings und Queens auch noch einen zugegebenermaßen nur kurzen visuellen und akustischen Happen der Okkult-Rocker von GHOST in der Clubstage, die eine Art düsteres Theater mit „Hohepriester“ und Sänger Papa Emeritus II im schwarzen Papst-Outfit zelebrieren. Immerhin erleben wir just den Moment, als sie ihren Hit „Ritual“ darbieten, dem frenetisch gehuldigt wird.
Dann steht mal wieder eine schwere Entscheidung zwischen zwei großartigen Bands an, und wieder versuchen wir, von beiden etwas mitzunehmen. In der Clubstage spielen MASTODON, deren schwer tätowierter Gitarrist und Sänger Brent Hinds einst in einem Interview erklärte: „Wir möchten Grenzen überschreiten und den Horizont von Menschen, die sonst SLIPKNOT oder SLAYER hören, erweitern“. Kurzum: sie scheren sich einen Dreck um die reine Lehre des Metal, man weiß nicht, wo man sie einsortieren soll, und das ist verdammt gut so. Düstere, komplexe Soundstrukturen variierender Intensität mischen sich bei ihnen mit brettharten Mosh-Gitarren, verqueren Schlagzeug-Beats, sinistren Sludge-Passagen und atmosphärischen Prog-Elementen zu unvergleichlichen Klangbildern.
Unter lauten „Mastodon“ Rufen betreten die vier Musiker die Bühne. Der ruhige Anfang ist trügerisch: es dauert nicht lange, bis die kräftigen, durchdringenden Stimmen, klare Gitarrenmelodien, ein tief wummernder Bass und das präzise, sich oft ins Brachiale steigernde Schlagzeug sich zu einem musikalischen Sturm zusammenbrauen. Doch der methaphorische Sturm hält auch nicht ewig an und wird wieder zu einem warmen Nieselregen, bevor der sich wieder zu einem Orkan zusammenbraut. Diese Wechsel von Dynamik und Atmosphäre erzeugen eine knisternde Spannung. Es ist eine Reise durch all ihre Konzeptalben und Stimmungen, die der Großteil der Anwesenden lediglich mit einem leichten Kopfnicken begleitet und dafür konzentriert die Präzision jeder kleinen Nuance der vielschichtigen Klänge förmlich in sich aufsaugt. Hier geht es nicht um Party, sondern um Elementares, um Lebenszyklen, Geburt und Tod. Das herrlich melancholische „The Sparrow“ ist schließlich das würdige Ende eines großartigen Auftritts.
Parallel zu MASTODON betritt Mastermind Trent Reznor, und somit der Mann, der Industrial salonfähig gemacht hat, mit seinen aktuellen Mitstreitern die Alternastage. Auch NINE INCH NAILS versprühen auf ihren Konzerten eine ganz spezielle, höchst intensive Energie, die auch an diesem Abend zum Tragen kommt. Das hängt einerseits vor allem mit den vielen alten Song-Denkmälern zusammen, die heute zu hören sind: Destruktive, tobende Stücke aus Zeiten, in denen Reznor noch kein cleaner Familienvater war, sondern einem Lebenswandel aus Wut, Selbstzweifeln, Aggressionen und Drogen frönte. Zum anderen an Reznor selbst, der sich völlig in sein Werk fallen lässt, was sein Gesicht und die Gestik in jeder Sekunde widerspiegeln. Und zu guter Letzt an einer außergewöhnlichen Lichtproduktion, die mittels monströser Strahlenquader von oben und wechselnder Farbstrukturen auf einem LED-Screen im Hintergrund eine beklemmende, von Song zu Song wechselnde Atmosphäre kreiert.
Kredenzt werden neben drei Stücken vom aktuellen „Hesitation Marks“-Album, darunter als Opener „Copy Of A“, vor allem zahlreiche frühe Klassiker: aus der „Broken“-EP ( „Wish“ und „Gave Up“), vom „Pretty Hate Machine“-Album („Sanctified“ und „Head Like A Hole“), vom 1999-er-Werk „The Fragile“ („The Frail“ und „The Wretched“), vor allem aber, und von der Masse natürlich besonders gefeiert, gleich vier Stücke vom bahnbrechenden Album „The Downward Spiral“. Darunter die brachial wütende Lärmattacke „Closer“ mit der prägnanten Textzeile „I Want To Fuck You Like An Animal, I Want To Feel You From The Inside“, die von der Menge lautstark mitgegrölt wird; und als letztes Lied und perfekter Abschluss die traurig-schöne Ballade „Hurt“ mit der nicht minder prägnanten Zeile “ I hurt myself today, to see if I still feel“. Ganz großes Dramen-Kino für Augen und Ohren, das noch eine Weile nachlodert.
Zum Abschluss holen uns ANTHRAX dann wieder in den Partymodus zurück: die Thrashmetaller um Sänger Joey Belladonna und Gitarrist Scott Ian bringen, und das ist kein bloßes Idiom aus der Sprüchekiste, im wahrsten Sinne des Wortes die völlig überfüllte Clubstage zum Beben. Die Zutaten dazu sind einfach: man nehme altgediente Stars der Thrash-Szene, statte diese mit reichlich Charisma, Leidenschaft, Spielfreude und Bewegungsdrang aus, und lasse sie Hits am Fließband wie „Caught In A Mosh“, „Madhouse“, „Indians“ oder das TRUST-Cover „Antisocial“ servieren. Das Ganze kombiniere man mit einer Prise Humor und lockeren Sprüchen, und das Ergebnis sind tausende flatternder Haarmatten, Massenpogo und jede Menge Spaß. Wow, was für ein Tag! Oder wie Scott Ian es nach der Show formulierte: „Holy Fuck“.
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