Roadburn Festival
Roadburn Festival 2015 – der große Festivalbericht
Konzertbericht
Donnerstag, 9. April 2015
Der Auftakt. Es ist das klassische Match-up eines jeden ersten Festivaltages: In der einen Ringecke die Anreisenden, in der anderen die Zeit. Zwei Drittel der „Roadburn Coverage Unit“, namentlich die Kollegen Klug & Kostudis, rollen zwar pünktlich in der RTL-Metropole Hürth vom Hof, werden auf dem Autobahnzubringer alsbald jedoch von unzähligen konfus umhersteuernden Ruhrpottvehikeln eingebremst. Es folgt ein zäher Kampf: Meter um Meter schiebt sich das silbergraue Luxusmobil (Sonderausführung „ÓP elcors A“) unter Klug’schem Steuer in Richtung niederländische Grenze, während Kollege Kostudis – im geräumigen Cockpit lümmelnd – ein Dosenbier nach dem anderen veratmet. Kein Wunder, denn Kollege Klug betreibt vom Start hinweg ein bemerkenswertes Genre-Hopping, legt nacheinander PINK FLOYD, NOCTE OBDUCTA und schließlich ELEMENT OF CRIME auf – und findet das auch als einziges Mitglied der Reisegruppe gut so.
Während sich die beiden Geisterfahrer doch noch irgendwie ihrem Ziel nähern, fingert sich Kollege Lattemann einige Hundert Kilometer weiter soeben eine Röstzwiebel aus dem Mundwinkel. Der erfahrene und schlachterprobte Festivalgänger ist frühzeitig angereist – wohl wissend, welche Probleme eine späte Anfahrt durch das Ruhrgebiet mit sich bringen kann. Zwar ist der Merchandise-Bereich samt opulenter Vinyl-Auswahl noch nicht ganz abgegrast und die Lage kaum vernünftig sondiert – dennoch wartet auf den Kollegen schon die erste musikalische Spezialität im Hauptsaal der Venue 013. In wenigen Minuten werden SÓLSTAFIR dort den isländischen Wikinger-Western „Hrafninn Flýgur“ aus dem Jahre 1984 stimmungsvoll musikalisch untermalen.
Natürlich wird der Streifen in seiner Originaltonfassung gezeigt – aber immerhin mit englischen Untertiteln. Das erleichtert den Zugang zum (zugegebenermaßen nicht sehr verzwickten) Plot, der sich im Wesentlichen an die übliche „Ich-töte-alle-meine-Feinde-weil-die-meine-Familie-umgebracht-haben“-Geschichte anlehnt – wie in den Marvel-Comics um Punisher, nur mit kantigen Felslandschaften, lauter ungewaschenen Kriegern (mit Bärten) und lustig trottenden Ponys. Mit einem Potpourri aus bekannt-markanten SÓLSTAFIR-Melodien untermalt, vage aneinander geknüpft, ist der Film tatsächlich überaus unterhaltsam und kurzweilig – und ein entspannter Einstieg in das Festival, dessen weiteres Programm eine sinnvolle Verteilung der Kraftreserven fordert. Auf jeden Fall bietet „Hrafninn Flýgur“ schon mal einen angemessenen Vorgeschmack auf die kommenden cineastischen Darbietungen, inklusive einer geradezu bibliotheksartigen Stille im Saal, die sogar mit vereinzelten Ermahnungen zur Ruhe in Form von „Pssssst“-Lauten vehement eingefordert wird – auch mal was Neues im bunten und ansonsten eher lauten Rockzirkus. Das erste Bierchen schmeckt auch schon – obwohl der gemütliche Kinosessel ein bisschen fehlt.
Im Land der Wohnwagen und Käseräder lichtet sich derweil endlich der Verkehr, es geht jetzt besser voran. Dennoch schauen Klug & Kostudis in immer kürzeren Abständen auf die Digitalanzeige ihres rollenden Untersatzes – um kurz vor sieben werden RUSSIAN CIRCLES auf dem Roadburn ihre Post-Rock-Urgewalt entfachen. Die beiden Kollegen sind sich ausnahmsweise einmal einig: Es wäre ein mittelschweres Drama, sollte dieser Programmpunkt verpasst werden.
Kurz nach halb sieben steuert Kollege Klug seinen Wagen über die Stadtgrenze Tilburgs. Noch 20 Minuten. Jetzt schnell in der Nähe der Halle einen Parkplatz finden – und dann ab zu RUSSIAN CIRCLES. Das Problem: Es gibt ihn nicht, diesen einen Parkplatz. Verzweifelt eiert das Gespann durch die Tilburger Gässchen, händeringend auf der Suche nach einem Stellplatz. Keine Chance. Und das befürchtete mittelschwere Drama nimmt allmählich Formen an.
Kollege Lattemann stellt derweil fest: Ungefähr so muss es klingen, wenn man Rudersklave in einer römischen Galeere ist. RUSSIAN CIRCLES – die ja gar keine Russen sind, sondern US-Amerikaner – malträtieren das Publikum mit einem wuchtigen und grollenden Schlagzeugsound, der direkt ins Mark geht und das gesamte Skelett zum Wackeln bringt. Darüber werden die experimentellen und schweren Spielereien gelegt, die bedrohlich um diesen Taktgeber herumflirren – apokalyptischer Post-Rock mit Metal-Schlagseite, der live nochmals eindrucksvoller klingt als vom heimischen Tonträger. Der akustischen Beklemmung stehen eine minimalistische Darbietung der Protagonisten und ein graues Bühnenbild zur Seite – was will man eigentlich mehr an einem lauen Frühlingsabend?
Apropos Bühnenaufbau: Die technischen Apparatschaften, die Bassist Brian Cook vor sich auf dem Boden platziert hat, nehmen bestimmt einen Quadratmeter ein und leuchten und blinken wie eine Rummelbude. Allein dieses Zusammenspiel aus Saiteninstrument und Effektschrauberei von der oberen Galerie aus zu beobachten, ist ein Fest für Equipmentfetischisten. Zum letzten Song genehmigt sich Kollege Lattemann schließlich noch einmal einen kräftigen Schluck Gerstensaft und fragt sich, wo zur Hölle eigentlich Klug & Kostudis bleiben, die diese Show hier doch „unbedingt sehen wollten“. Entführt? Verfahren? Noch ein Nickerchen gemacht?
Unter beständigem Fluchen und anhaltendem Gemecker über das Stellplatzangebot in mittelgroßen niederländischen Städten hat das Gespann Klug & Kostudis mittlerweile ein Parkhaus ausfindig gemacht und endlich das Auto abgestellt. Wie von der Tarantel gestochen wetzen die beiden in Richtung Venue 013. Einige Augenblicke später und gut angeschwitzt erklimmt das Duo die Treppen, stolpert in den Jupiler Zaal – und bekommt exakt die letzten 30 Sekunden von RUSSIAN CIRCLES mit. Was für ein Pech, was für ein Frevel! Dass man SÓLSTAFIR verpassen würde, war von vornherein einkalkuliert und nicht zu vermeiden. Aber das?! Klug & Kostudis im Stimmungstief – dabei hat das Roadburn doch gerade erst begonnen. Auch ein fröhlich grinsender Kollege Lattemann kann daran nicht viel ändern, der die beiden Häufchen Elend in einer dunklen Ecke des Saales erspäht und überschwänglich begrüßt.
Deutlich angesäuert und immer noch den Tränen nahe machen sich die Kollegen auf, das Areal zu erkunden. Vor der Bühne des Jupiler Zaals haben etwa 2000 Menschen Platz, wobei die Halle im hinteren Teil (ähnlich dem C-Club in Berlin) stufenweise ansteigt. Das hat nicht nur den Vorteil, dass die Bühne von ziemlich überall gut zu sehen ist, sondern bietet zu fortgeschrittener Stunde oder bei den Filmvorführungen auch die Gelegenheit, sich niederzulassen und die geschwollenen Füße etwas zu entlasten. Zudem befinden sich in der Venue 013 noch zwei weitere Bühnen: der „Green Room“ im Erdgeschoss sowie die „Stage 01“ im zweiten Stock. Diese allerdings sind jeweils nur durch eine Tür begehbar – was zu teils heftigem Gedränge führt. Die Maßgabe lautet: Sei lieber eine Viertelstunde eher da, wenn du die Band sehen willst – außer du hast kein Problem damit, dich durch ein Knäuel aus verschwitzen Leibern zu kämpfen. Die zwei weiteren Bühnen befinden sich schräg gegenüber der 013 („Het Patronaat“) sowie eine Straße weiter im hinteren Teil der Bar „Cul de Sac“. Vom Jupiler Zaal aus, in welchem Klug & Kostudis inzwischen wieder angekommen sind, sind folglich alle Stages in wenigen Minuten zu erreichen.
Auf der Hauptbühne macht derweil David Eugene Edwards eine völlig unverständliche, weil vom Hall verzerrte Ansage und führt mit der rechten Hand eine Art eurythmischen Gruß aus. Was genau er damit ausdrücken wollte, bleibt sein Geheimnis. Tatsache ist hingegen, dass WOVENHAND in der Folge eine ansprechende Show hinlegen, wobei sich die Band mit flirrenden Gitarren, krautigem Flair und einer gewissen Entrücktheit sofort trefflich in den Roadburn-Kontext einfügt. Skurril sind dabei vor allem Edwards‘ hölzerne Bewegungen, die er mit sturem Blick, aber vollster Überzeugung aufs Parkett legt. Die Stimmung in der Halle ist während der Show der US-Amerikaner zwar noch nicht nennenswert gut, aber eben auch nicht schlecht. Es ist einfach entspannt – typisch Roadburn.
Die Kollegen eilen in der Pause zum fußläufig etwa 20 Minuten entfernten Zeltplatz, um noch im Hellen ihr Lager zu errichten. Dank jahrelanger Festivalerfahrung und herausragendem Teamplay stehen die Zelte nach wenigen Minuten. Der Nachbar stellt sich höflich vor und eröffnet den etwas perplexen Kollegen nach wenigen Minuten, dass er ein „ganz besonderes Experiment plane“. Nach Einnahme einer halben Tüte „Magic Mushrooms“ wolle er bei WARDRUNA und ENSLAVED eine Art Grenzerfahrung im Wikinger-Nirwana machen. Oder so ähnlich. Was Klug & Kostudis noch nicht ahnen: In den kommenden drei Tagen wird der inzwischen liebevoll „Magic Mushroom Man“ getaufte Kollege noch den einen oder anderen bemerkenswerten Auftritt haben. Aber dazu später mehr.
Es ist bereits nach zehn Uhr am Abend und bei EYEHATEGOD ist es nun wesentlich voller im Jupiler Zaal – wohl auch, weil diverse Festivalbesucher bei der Anreise noch größere Probleme als Klug & Kostudis hatten und erst jetzt zur Venue kommen. Andere wiederum haben in einer der zahlreichen Fressbuden ihr Abendmahl eingenommen oder aber draußen noch eine – ähem – Tilburger Entspannungszigarette geraucht. Nun geht allerdings drinnen die Post ab: Die Sludge-Zausel aus New Orleans rumpeln ohne großartiges Vorgeplänkel los und präsentieren sich in bester Spiellaune. Fronter Mike Williams stützt sich gemächlich auf seinen Mikrofonständer und röhrt zum „Down To Earth Motherfucken Post-Amplification Blues“, den der Fünfer aus New Orleans nicht immer ganz tight, dafür aber ziemlich mächtig von der Bühne rollt. Nicht übel, die Herren!
Direkt im Anschluss hören Klug & Kostudis bei GOATWHORE im Green Room rein. Nachdem mehrere zaghafte Versuchen scheitern, sich noch irgendwie in den Raum zu drängeln, bleiben die Kollegen im Eingangsbereich stehen, von wo immerhin etwa ein Drittel der Bühne zu sehen und die Band immer noch gut zu hören ist. Sofern vom aktuellen Standort aus zu beurteilen, gehen die US-Amerikaner herrlich derb zu Werke und feuern ihre dreckigen Black-Death-Kracher mit Nachdruck ins Publikum. Die Stimmung ist entsprechend gut – nach einigen Songs zwischen Tür und Angel entschließen sich die Kollegen jedoch, wieder zur Hauptbühne zurückzukehren – dort wartet bereits das nächste Highlight.
Denn wessen Magengrube nach EYEHATEGOD noch nicht genug Schläge abbekommen hat, der darf sich in der Folge ein Bild davon machen, welche Früchte deren frühe Pionierarbeit bis heute trägt. Die sich nun auf der Main Stage die Ehre gebenden BONGRIPPER sind dem alljährlichen Roadburn-Besucher allerdings keineswegs unbekannt. So konnte das Quartett bereits im Jahre 2012 zwei gefeierte Auftritte hinlegen, deren Mitschnitte im Anschluss über das hauseigene Label Roadburn Records veröffentlicht wurden. Mit ihrem aktuellen, heute in seiner Gänze dargebotenen Werk „Miserable“ beweisen die Chicagoer Instrumental-Doomer, dass auch minutenlange Herumreiterei auf einem einzigen Ton eine eindrucksvolle Wirkung haben kann. Womit BONGRIPPER EYEHATEGOD in Sachen Druck weit hinter sich lassen. Auch sonst berufen sich die US-Amerikaner in den überlangen Kompositionen (70 Minuten, drei Songs) gern einmal auf die auf zahlreichen Shirts im Publikum allgegenwärtigen SLEEP. Kein Wunder also, dass die noch immer stattliche Zuschauerschar die in tiefes Lila getauchte Show abfeiert, wie kaum einen anderen Auftritt an diesem Tag.
Setlist:
- Endless
- Descent
- Into Ruin
Auf dem Zeltplatz weht am späten Abend eine ziemlich frostige Brise. Und da der Magic Mushroom Man den Campingstuhl des Kollegen Kostudis in Beschlag genommen hat, friert der sich jetzt den Arsch ab und muss auf die Zähne beißen. Aber immerhin erfahren die Kollegen in heiterer Runde vieles über die Vergangenheit ihres illustren Zeltnachbarn, der angibt, morgen sei der große Tag. Der mit dem Experiment. Mit ambivalentem Behopfungsgrad begeben sich die drei Herrschaften schließlich zu viel zu später Stunde in ihre Betten und versuchen, möglichst wenig zu frieren. Das gelingt zu Teilen.
Alle Fotorechte liegen bei Alex Klug, Anton Kostudis, Erik Luyten, Susanne Maathuis, Kris T. Therrian und Niels Vinck. Bericht von Alex Klug, Anton Kostudis und Sven Lattemann.
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