Polyphia
RTYWD Tour 2023
Konzertbericht
Wer sich am 22.05 in der Nähe des Backstage-Werks in München aufgehalten hat, wird verwirrt gewesen sein.
Eine große Schlange kündigte ein besonderes Event an. BWL-Hipster mit käseweißem Teint, Metaller in Kutte, Emo-Girls mit bunten Haaren, Technofans, Afroträger, zugeknöpfte Musikstudenten, Mode-Tussis und Hip-Hopper samt Baseball Caps bildeten ein äußerst kurioses Potpourri an Leuten.
Der durchschnittliche Leser von metal.de wird sich fragen, welche Veranstaltung wohl so ein diverses Publikum anziehen könnte: Ist es eine Lehrstunde in Musik? Der Besuch von Stars? Ein Rockkonzert? Ein Rave? Eine Art Hip-Hop-Jam?
Alles und Nichts davon: POLYPHIA gaben sich nämlich die Ehre.
JOHAN LENOX: Mal etwas Anderes
Eine weitere Band aus dem instrumentalen Bereich, wäre wohl die offensichtlichste und langweiligste Wahl für den Opening-Slot gewesen. Die meisten Künstler hätten einfach etwas aus dem Bereich Djent oder Metalcore ausgesucht und basta.
Nicht so Polyphia: Der aus Massachusetts stammende Künstler JOHAN LENOX mischt nuscheligen Autotune-Rap mit Einflüssen aus der klassischen Musik. Da er sowieso an der Produktion des neuen Albums beteiligt war, lag es nahe, ihn gleich mit auf Tour zu nehmen.
Weil das Publikum viel offener und neugieriger als auf einem Metalkonzert ist, kommt der Rapper wirklich hervorragend an. Von zwei Geigerinnen und einem Dj/Gitarristen begleitet, feuert er einige Hits heraus und sammelt genuinen Applaus.
Das eigentliche Highlight seiner Show bildet allerdings der instrumentale Block. Als sich der Amerikaner an das E-Piano setzt und die Violinistinnen teilweise mit der Hand dirigiert, ist es auch um die skeptischsten Gemüter geschehen: Über 15 Minuten lang erzeugen die Musiker eine dunkle und erhabene Atmosphäre, die für spürbare Ergriffenheit sorgt.
JOHAN LENOX hat das Publikum überzeugt und wirklich so etwas wie progressiven Rap geboten. Jeder, der bei Hip-Hop nicht sofort aus dem Fenster springen will, sollte unbedingt ein Ohr riskieren.
Die Band der Stunde – POLYPHIA
Um eines klarzustellen: „Remember That You Will Die“ ist das innovativste Album der letzten 20 Jahre. Die Idee, sich von den organischen Sounds von Rock und Metal zu entfernen, ist absolut brillant. Der Fakt, dass eine progressive Instrumental-Band mit den Größen aus Pop und Hip-Hop konkurriert, ist wahnwitzig und war zuvor undenkbar.
Fast jeder Song von POLYPHIA demütigt in seiner Virtuosität selbst die technischsten Musiker im Bereich des Metal – ganz nebenbei kann man darüber auch noch super rappen.
Kein Wunder also, dass Gatekeeper Alarm schlagen und alles versucht haben, den Aufstieg der Band zu stoppen. Die bloße Existenz von Polyphia stellt das Selbstbild vieler selbsternannter Szenewächter infrage und reißt nebenbei alle denkbaren Genregrenzen ein. Tim Henson hat den Status eines berühmten Schauspielers, Rappers oder Pop-Sternchens – nicht den eines ungeduschten Gitarrennerds.
Die totale Eskalation
Als das Intro vom Band läuft, bricht das Backstage in einen so lauten Jubel aus, dass es in seinen Grundfesten erschüttert wird. Gefühlt jedes Handy ist dabei, den Einmarsch von POLYPHIA zu dokumentieren – „Genesis“ ist allerdings kein Song der versucht den Zuhörer zu beeindrucken, sondern gleicht eher dem lässigen Flanieren auf dem roten Teppich.
So ist es kein Wunder, dass Quasi-Frontmann Tim Henson sich einfach nur auf sein Spiel konzentriert und sich vom Publikum feiern lässt. Die Ansagen übernimmt sein Sekundant Scott LePage. Der Texaner ist ein absoluter Sympathiebolzen, der mit einer Zunge aus Gold ausgestattet ist. Ab dem zweiten Song „Neurotica“, verführt er das Backstage immer mehr zum kollektiven Ausrasten.
Die ersten Töne von „O.D.“ gleichen einem Funken, der ein Lauffeuer auslöst. Das Publikum beginnt sich wie auf einer Rave-Party zu verhalten. Vergessen sind trockene Guitar-Clinics und Prog-Abende mit Alt-Hippies: Die Avantgarde der Gitarrenmusik bringt Mädels zum Zappeln und ist jung, cool und sexy.
Obwohl die Musik von POLYPHIA extrem anspruchsvoll und vertrackt ist, befinden sich teilweise bis zu 7 Crowdsurfer gleichzeitg in der Luft. In den Moshpits geht es teilweise ruppiger zu als bei Hardcore-Shows. Band und Publikum schaukeln sich gegenseitig hoch.
Besonders „Champagne“ erfreut sich großer Beliebtheit:
Die mitsingbare Hook erfreut das ausverkaufte Backstage und stellt eins der vielen Highlights des Abends dar. Doch POLYPHIA wissen genau, dass sie den Bogen nicht überspannen dürfen. Es ist am besten zu gehen, wenn es am schönsten ist.
Als Tim Henson und Scott LePage mit ihren Nylon-Gitarren erscheinen, kann es nur eins bedeuten: „Playing God“ ist an der Reihe. Der populärste Song der Band löst natürlich das Verlangen nach Zugaben aus, welchem die Band rasch nachkommt. Nach weit unter zwei Stunden Spielzeit, verabschieden Sich POLYPHIA von der Bühne.
POLYPHIA = Des Messers Schneide
Bei Internetphänomenen ist generell Vorsicht geboten. Künstler die viral gehen, stellen oftmals nur ein Gimmick dar und schmieren auf der Bühne ab. POLYPHIA haben allerdings bewiesen, dass sie keine Eintagsfliege, sondern die absolute Cutting-Edge der globalen Musikszene sind. Wer die Band noch nicht gesehen hat, verpasst nicht nur die wohl makelloseste Performance technischen Gitarrenspiels die es live zu sehen gibt, sondern auch eine wirklich ausgelassene Party.
POLYPHIA gehört die Zukunft!
- Genesis
- Neurotica
- O.D.
- Goose
- 400z
- Icronic
- Champagne
- All Falls Apart
- Drown
- The Worst
- Reverie
- The Audacity
- Playing God
Zugabe:
- G.O.A.T
- Euphoria
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