Nightwish
Live in Gelsenkirchen

Am 12.06.2023 flirrt die Luft im Gelsenkirchener Nordsternpark bei 29 Grad am Frühabend. Kinder planschen auf dem Wasserspielplatz unweit der Brücke zum Amphitheater und staunen nicht schlecht über ein eher unsommerliches Schauspiel: Hunderte Menschen in überwiegend schwarzer Kleidung reihen sich brav in einer schier endlosen Schlange auf. Ihr Ziel: Der Einlass zum vorerst letzten NIGHTWISH-Auftritt in Deutschalnd vor einer Pause von unbestimmter Länge „aus persönlichen Gründen“. Wer an der Schlange vorbei spazieren will, braucht dafür mehrere Minuten. Der Marsch wird belohnt: Während von Seite der Brücke die Wartezeit zum Einlass die Nerven auch der ganz harten Fans deutlich strapaziert, gibt es am zweiten Einlass aus Richtung Parkhaus erst gar keine Schlange. ROCK HARD FESTIVAL-Besucher:innen mit entsprechender Ortskundigkeit sind hier klar im Vorteil. Ein bisschen mehr Personal zur Regelung des Andrangs hätte wohl manche Lendenwirbelblockade verhindert.

Zumindest dem Konzertgenuss tut das Warten keinen Abbruch, denn die nächste Planungspanne hat sich der Veranstalter bei der angekündigten Startzeit geleistet: 18:50Uhr ist auf den Tickets ausgewiesen. Doch dabei ging man wohl davon aus, dass eine zweite Vorband einen weiteren Konzertslot belegen würde. Bei rund 85€ Ticketpreis wäre das sicher selbst bei einem hochkarätigen Headliner wie NIGHTWISH nicht allzu dekadent gewesen. Der Slot blieb jedenfalls leer, die Startzeit wurde um eine knappe Stunde auf 19:45Uhr verschoben – mitgeteilt hat man das aber offenbar nicht einmal der Security an der Bühne, die um kurz vor sieben irritiert nach hinten funkt, wann denn die Menschen mit Fotopass nun vorgelassen werden sollen. Aufklärung über die Situation erhält so nur ein kleiner, erlauchter Kreis (die Fotograf:innen nämlich). Der Rest brät zunehmend irritiert in der prallen Sonne, die sich erst in etwa anderthalb Stunden hinter dem Theater senken wird. Immer wieder versucht die Menge mit kurzen Ruf- und Klatscheinlagen eine Band auf die Bühne zu beschwören, vergeblich.

Galerie mit 11 Bildern: Bloodred Hourglass - An Evening with Nightwish 2023

Kein leichtes Spiel für die eher unbekannten BLOODRED HOURGLASS, die schließlich pünktlich, aber dann eben irgendwie doch zu spät auf die Bretter treten. Die Finnen klingen ein bisschen wie hardcoregetünchte IN FLAMES – also eher nicht nach „Mir ist viel zu heiß und ich hab Durst, aber da kann ich spontan mitschunkeln!“. Umso bemerkenswerter ist, dass der Sechser mit ungewöhnlichen vier Gitarren ab dem dritten Titel die zuvor überfordert-genervte Menge klar auf seiner Seite hat. Sänger Jaredi Kuokonen freut sich über den ersten Auftritt „in einem Amphitheater“ und erkundigt sich, wer denn schon vorab mal von der Band gehört habe. „Wow, ganze zwölf Leute!“ Zum Ende des Sets mag man das kaum glauben. BLOODRED HOURGLASS verlassen die Bühne zu enthusiastischem Applaus und – das gibt‘s wohl wirklich hierzulande nur im Amphitheater – Standing Ovations auf den Steinrängen.

Setlist BLOODRED HOURGLASS:

• The Sun Still In Me
• In Lieu Of Flowers
• Leaves
• Waves of Black
• Drag Me the Rain
• Alysia
• Veritas
• The Unfinished Story
• Nightmares Are Dreams Too
• Where the Sinners Crawl

Das Panorama des Amphitheaters verleiht dem typischen NIGHTWISH-Aufbau mit riesigem Podest vor überdimensionierten Monitorinstallationen im gleißenden Sonnenlicht eine imposante Wirkung, die erfrischend abseits von Pomp und Kitsch liegt.
Auch wenn die Band betont, dass dies nicht der Grund für den anstehenden Hiatus sei, ist die Unumgänglichkeit einer Bühnenpause nicht zu übersehen: Sängerin Floor Jansen kommt gewohnt energiegeladen, aber ungewohnt auch minimal ungelenk auf die Bühne – was ihr im sechsten Monat ihrer aktuellen Schwangerschaft ohne Zweifel zusteht. Auf die Stimmgewalt und Bühnenpräsenz der Niederländerin ist natürlich dennoch Verlass. Besorgte Fans werden hinsichtlich der Abstinenzbekundungen der Band gleich zu Beginn entlastet: „Wir wissen noch nicht wann, aber wir werden zurückkehren“, versichert Jansen.

Galerie mit 15 Bildern: Nightwish - An Evening with Nightwish 2023

Bis dahin haben NIGHTWISH in Gelsenkirchen eine würdige Verabschiedung in die Ruhepause abgeliefert. Die Setlist des anderthalbstündigen Auftritts umfasst Highlights vom aktuellen Album „HUMAN. :II: NATURE.“ wie „Noise“, „Tribal“ und „How‘s The Heart“. Abwesend sind indes Live-Favoriten wie „Seven Days To The Wolves“, die zentral auf die Stimme des ausgestiegenen Bassers Marco Hietala setzen – dankenswerterweise versucht die Band nicht, ihn in diesem Punkt zu ersetzen, sondern lässt die Lücke einfach klaffen. Nostalgie kommt mit Klassikern wie „Nemo“, „Sleeping Sun“ oder „Dark Chest Of Wonders“ dennoch nicht zu kurz. Insbesondere auch „Ghost Love Score“ in voller Länge zu hören, dürfte viele Fans gefreut haben und vielleicht auch ein bisschen Wehmut erzeugen – immerhin ist der Langspieler „Once“ inzwischen rund 19 Jahre alt und wer bei dessen Erscheinen jung war ist es heute – ähm – eher nicht mehr. Das ändert nichts daran, dass NIGHTWISH zwar vorrangig ein Ü30-Publikum anziehen, gleichzeitig wie eh und je aber auch Menschen weit über und weit unter dieser Marke anlocken. Und das übrigens längst nicht nur im Amphitheater, sondern auch auf der gegenüberliegenden Seite des Rhein-Herne-Kanals, der direkt hinter der Bühne fließt, sowie auf manchem Frachtschiff, das während des Auftritts frenetisch winkende Kapitäne hinter NIGHTWISH vorbei trägt.

Erst gegen Ende senkt sich die Sonne hinter den Zuschauerrängen, doch auch davor erzeugen die hoch gehaltenen Handylichter im Publikum zu „Shoemaker“ eine magische Atmosphäre, die schließlich mit aufwendiger Videoinstallation ihren Höhepunkt im letzten Song des Abends findet: Auch „The Greatest Show On Earth“ wird in voller Länge gespielt. Die Band verneigt sich zum Abschied vom deutschen Publikum. Wir dürfen gespannt sein, was die Zukunft bringt und bis dahin diesen Abend, durchgeschwitzt mit leichtem Rückenschmerz, in bester Erinnerung behalten.

Setlist NIGHTWISH:

• Noise
• Storytime
• Tribal
• Élan
• Sleeping Sun
• Dark Chest Of Wonders
• How’s The Heart
• I Want My Tears Back
• Sahara
• Our Decades In The Sun
• Nemo
• Shoemaker
• Last Ride Of The Day
• Ghost Love Score
• The Greatest Show On Earth