Long Distance Calling
Tanzen im Regen oder Moshen ohne Pit
Konzertbericht
LONG DISTANCE CALLING konnten ihre „Seats and Sounds-Tour“ aufgrund der Pandemie-Bestimmungen noch nicht beenden, brachten aber im Juni schon die neue Platte „How Do We Want To Live?“ auf den Markt. Kurzerhand schob die Band vor der kalten Jahreszeit noch wenige Release-Shows ein. In Stuttgart findet das Open-Air-Konzert im Rahmen des Kulturwasen 2020 statt – nicht als Autokonzert, sondern mit Lounges und Liegestühlen. „Seats And Sounds“ sozusagen. Der Fanbereich vor der Bühne ist wirklich liebevoll gestaltet, die Hackschnitzel riechen frisch, sogar künstliche Topfpflanzen sollen das Herz erfreuen.
Pünktlich zum Einlass öffnet aber der Himmel seine Pforten und wir trauern kurz um das trockene Plätzchen im Auto. Jeder Besucher bekommt einen einfachen Regenponcho in die Hand gedrückt, der hält auch eine Weile trocken. Bei Konzertbeginn sind aber die meisten Fans (der Andrang hält sich bei diesem Wetter in Grenzen) doch irgendwo nass, das Wasser bahnt sich einfach seinen Weg. Statt kaltem Gerstensaft wäre heute Glühwein angenehm.
LONG DISTANCE CALLING lassen im Regen tanzen
Die Münsteraner behaupten einfach, sie hätten den Regen aus ihrer Heimatstadt mitgebracht, sozusagen als Geschenk in den regenarmen Süden. Also dann! Regen hin oder her, „Curiosity“ öffnet die Schleusen ebenso wie der Himmel, auch wenn es hier musikalische Schleusen sind. Das Publikum ist von Anfang an in Bewegung, die Regenponchos flattern im Wind, denn Tanzen und Moshen ist angesagt – wenn auch ohne Pit. Kein Problem für die Anwesenden, die Songs von LONG DISTANCE CALLING sind sowieso mehr für introvertiertiertes Hineinspüren geeignet als für Rempeleien. Und der Vorteil der Pandemie-Konzerte ist, dass fast nur beinharte Fans der jeweiligen Band vor der Bühne erscheinen und ihre Bands konzentriert feiern, Regen hin oder her. LONG DISTANCE CALLING sind im Gegenzug glücklich, dass sie überhaupt spielen dürfen und das ergibt diese einzigartige Atmosphäre der Dankbarkeit auf beiden Seiten. In unserer schnelllebigen Zeit sind Konzerte plötzlich wieder etwas Besonderes geworden und da drängt sich für die Zukunft die Frage auf: „How Do We Want To Live?“ oder eben auch: How do we want to rock?
Post-Rock at it’s best
Der Sound ist trotz Regen glasklar, jedes Instrument hat seinen eigenen Raum und trotzdem fügt sich alles zusammen. Der Fokus liegt natürlich auf dem neuen Album, eingeschoben sind aber auch Klassiker wie „Black Paper Planes“ (Yeah!) oder „In The Clouds“, bei dem bezeichnenderweise der Regen nachlässt. Zu „Sundown Highway“ hat er sich ganz verzogen, die Zuschauer entledigen sich der Regenponchos und geben sich ungestört den Post-Rock-Klängen hin. Jeder Song wird abgefeiert, aufgesogen, die neuen Songs etwas gemäßigter als die alten. Sie sind ja auch ruhiger, ein bisschen elektronischer, fügen sich aber gut in die Gesamtatmosphäre ein, weil sie live nichts an Intensität vermissen lassen. „Voices“ kommt auch ohne Video etwas gruselig rüber, das könnte sich zu einem Liveklassiker entwickeln.
Nicht nur für die Metaller unter den Zuschauern gibt es als krönenden Abschluss noch „Metulsky Curse Revisited“, dieses magische Stück Musik, das alle wieder zum Tanzen animiert und ohne das man sich ein LONG DISTANCE CALLING-Konzert nicht vorstellen kann. Es tut der Magie auch keinen Abbruch, dass man diesen Song auf keinem regulären Album kaufen kann. (Nur erhältlich auf einer alten Split-CD mit Leech und auf dem Live Album „Stummfilm“.)
Band und Fans geben noch einmal alles, jetzt ist auch dem letzten Zuschauer wieder warm geworden. Veränderte Regeln und das bisschen Regen konnten diesem Konzert nichts von seinem Zauber nehmen. Wir waren einfach bei LONG DISTANCE CALLING und es war wie immer: magisch.
Galerie mit 25 Bildern: Long Distance Calling - How Do We Want To Live? Release Show 2020Original-Setlist:
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