Roadburn Festival 2019
Frostige Nächte, brodelnde Tage
Konzertbericht
Sonntag, 14. April 2019
Der vierte Tag. Finale. Tilburg verabschiedet sich auf ganz besonders angenehme Weise – und zwar mit der kältesten Nacht des gesamten Festivals. Entsprechend ausgelassen ist die Stimmung am Morgen auf dem Zeltplatz. Hatte sich die Kollegschaft bislang halbwegs zusammengerissen, bröckelt es jetzt im zwischenmenschlichen Bereich merklich an allen Ecken und Enden.
Erst gibt es Zank um den Wasserkocher (Kostudis braucht laut Klug zu lange, um sich zu entscheiden, wo er das wackelige Ding nun hinstellt), beim „Zelt-um-die-Wette-Abbauen“ triumphiert Klug, aber eben nur, weil dessen lobberiche Dederon-Mühle einfach schneller in der Sonne trocknet, und überhaupt muss der ganze Mist, der irgendwie hergekarrt wurde, ja wieder angemessen im obendrein geliehenen fahrbaren Untersatz verstaut werden. Nach drei Tagen Festival ist die Geduldsgrenze dann eben erreicht – und dann soll ja noch den ganzen Tag Musik gehört werden. Ohr nee!
Da Kostudis lieber pseudo-gewissenhaft am Bericht des Vortages arbeitet, muss sich also Klug die Kamera umschnallen und sich ins Fotograben-Getümmel stürzen. Schmoll-Faktor auf beiden Seiten in diesem Moment: ungefähr sieben von zehn.
Europa-Premiere für HAVE A NICE LIFE
Und dabei versprechen HAVE A NICE LIFE nicht einmal unbedingt Besserung fürs Gemüt. Mit ihrem Debütalbum „Deathconsciousness“ von 2008 konnte sich die Band binnen eines Jahrzehnts als depressives Post-Punk- und Internet-Phänomen mausern. Trotz pessimistischer Grundstimmung herrscht hier heute eine Menge positiver Energie zwischen Sänger Dan Barrett und einem gar nicht mal so kleinen Zirkel von Die-Hard-Fans in der vorderen Reihen. Kein Wunder: Die beiden Auftritte, die die um drei Livemusiker erweiterte Gruppe beim Roadburn spielt, sind die ersten auf europäischem Territorium. Und dafür funktioniert das alles ziemlich gut.
Gerade den elektronisch programmierten Momenten der Platte stehen Live-Drums und -Chöre ziemlich gut zu Gesicht, auch wenn der gelegentlich zum Männergesangverein mutierende Fünfer nicht mit jedem Ton auf die Zwölf schlägt. Aber das passt ja irgendwo auch zum alles mitschmetternden Publikum. Punk, Lo-Fi, Post-Hardcore und ein blutjunger Engineer, der seine Visuals live per Nintendo-64-Joystick kreiert. Schon stark.
Der Kurator spricht
Während sich Klug also die Super-Mario-Eskalation auf der Hauptbühne gibt, schleicht sich Kostudis in den zweiten Stock des Gebäudes gegenüber, wo gerade das Q&A mit Festival-Chef Walter Hoeijmakers und Kurator Tomas Lindberg läuft. Und tatsächlich lässt der Haupt-Organisator in einem mehrminütigen Monolog tief blicken. „Immer, wenn ich am Patronaat vorbeilaufe und die lange Schlange sehe, versuche ich mich zu verstecken. Klar macht mich das traurig, wenn die Leute ewig anstehen müssen und die Bands nicht sehen können. Es ist eben eine riesige Herausforderung, die Bewegung von 5000 Menschen zwischen den Venues zu kanalisieren. Und ja, das schaffen wir nicht immer“, gesteht der Roadburn-Boss offen.
Die Konsequenz wird am späten Sonntagnachmittag auf Instagram verkündet: So geben die Organisatoren bekannt, dass das Patronaat im kommenden Jahr nicht mehr im Portfolio der Locations auftauchen wird. Vermutlich dürfte die altehrwürdige Halle zugunsten einer größeren Location weichen. Ob das allerdings wirklich so kommt oder ob eher an der Running Order gedreht wird, bleibt abzuwarten. Fakt ist: Das ehemalige Klostergebäude wurde bereits verkauft.
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Klug, Kostudis und Lattemann träumen noch einmal von all jenen Auftritten, die sie im Patronaat erleben durften: Basslastige Synthwave-Eskapaden und fernöstliche Funeral-Doom-Bands sind dabei nur ein kleiner Teil des Kuchens.
So viele negative Vibes
Jetzt ist Klug derjenige, der fleißig in die Tasten haut. Bedeutet: Kostudis muss DAUGHTERS übernehmen. Traditionell missmutig stapft er also in Richtung Main Stage. Und dort erwartet ihn: das blanke Chaos. Eben noch hatte Frontmann Alexis Marshall wenige Meter entfernt von den Kollegen im Presseraum gesessen, mit bedachten, ernsten Worten über seine Drogenvergangenheit, seine künstlerischen Visionen und seinen Alltag als Musiker gesprochen. Nun, auf der Bühne, verwandelt sich der hagere Mann plötzlich in ein ausgewiesenes Energiebündel.
Und heidewitzka, geht diese Truppe ab! Die US-Amerikaner sind quasi ständig in Bewegung (ein Fest für den geneigten Hobby-Fotografen mit mittelmäßigem Equipment), versprühen unglaublich viel Energie und hämmern ganz nebenbei ihre quirligen, unglaublich energetischen Songs in die Menge. Marshalls Mitstreiter stehen der wilden Performance ihres Anführers dabei in nichts nach und verdreschen ihre Instrumente nach allen Regeln der Kunst. Kostudis sieht sich genötigt, Klug über den hohen Unterhaltungswert der Show unverzüglich ins Bild zu versetzen.
Klug lässt gegenüber alles stehen und liegen und verschafft sich selbst ein Bild vom munteren Treiben. Augenblicklich lösen sich seine Mathcore-Hoffnungen in Luft auf, werden aber nach wenigen Minuten und kurzem Blick auf die Setlist schnell übertrumpft: Das aktuelle Studioalbum „You Won’t Get What You Want“, das hier vorwiegend präsentiert wird, scheint ja wohl eine der besten Industrial-Platten der letzten Jahre zu sein. Und wie Kostudis schon gewohnt treffsicher versprach: Diese Performance ist über jeden Zweifel erhaben – auch wenn man sich wohl nicht im Radius des Mikrokabels aufhalten sollte.
Nun braucht es definitiv erst mal etwas Entschleunigung. Wenngleich es THOU damit als nächster Act ein bisschen übertreiben. Nicht, weil die Sludge-Formation aus Louisiana – als Artist In Residence schon an den drei Vortagen im Einsatz und zum Finale nun schließlich auf der Hauptbühne aufspielend – sich in Sachen Intensität und Spielfreude lumpen ließe. Nö nö, ganz im Gegenteil.
Tiefe hat das Ganze in den Augen von Kollege Kostudis aber auch nicht, was die Truppe, die im Jahr 2018 mal eben viereinhalb Releases rausgehauen hat, da anbietet. Fronter Bryan Funck mäandert wie schon das gesamte Festival über krächzend auf ein und demselben Ton herum. Das ist irgendwie passend, aber irgendwie auch eindimensional. Und in puncto Dynamik geht dann am Ende eben auch nicht viel.
Wenngleich die Band natürlich das eine oder andere Hosenbein vor der Main Stage ordentlich zum Schlackern bringt. Das allein ist aber – auch vor dem Hintergrund der an den vorangegangenen Tagen gewonnen Eindrücke – kein herausstechendes Qualitätsmerkmal mehr. Highlight-Potenzial mag der Kollege den Südstaatlern am Ende somit nicht attestieren – gemeinsam mit EMMA RUTH RUNDLE lief da am Freitag einfach mehr.
Todesfrickeln für Profis
Um jetzt dem (durchaus berechtigten) Eindruck entgegenzuwirken, Kostudis sei hier der chronische Festival-Muffel: Nein, der Mann kann sich dann doch auch für diverse Programmpunkte begeistern. Zum Beispiel für das fies-technische Gewüte der Neuseeländer ULCERATE. Der Dreier stand tatsächlich schon länger auf der To-Do-Liste des Kollegen – nun also gibt es in Tilburg erstmalig Live-Kontakt.
Dumm nur: Die Truppe scheint auch bei einigen weiteren Festival-Besuchern auf dem Zettel zu stehen. Denn der Green Room ist bis an den Rand gefüllt, sich da hineinzukämpfen, verlangt dem Kollegen zunächst einmal vollen Körpereinsatz ab. Mit selbigem zahlt das Trio aus Auckland den Aufwand dann aber auch zurück.
Und zwar in Form von vehementer und äußerst knackig dargebotener Death-Metal-Kost, wie sie gemeiner und verschachtelter kaum sein könnte. Ja – die großen Namen haben sich in der Szene andere gemacht. Warum die Neuseeländer aber nach wie vor eher unter dem allgemeinen Radar fliegen, bleibt nach diesem fulminanten Gig im giftgrünen Licht weiter rätselhaft. Insofern der Rat an alle Freunde des gepflegten Todesbleis: Bitte sofort notieren, denn dieses Gehacke hat wahrhaftig allererste Güteklasse.
Aaron Turner leistet Wiedergutmachung
Nicht verkehrt, aber eher nur zweite Klasse war der gestrige Gig von SUMAC – das muss sich dann im Nachhinein auch Klug eingestehen. Heute wird Aaron Turner dann aber zumindest ein Korrekturzug gewährt – und den nutzt der Post-Metal-Veteran dann auch. OLD MAN GLOOM stehen seit nunmehr zwanzig Jahren für noisigen Post-Metal, der hier und heute on point durchgeprügelt wird. Mit der Durchschlagskraft von CAVE IN, ISIS und CONVERGE liefert die Sludge-Supergroup wohl einen der fettesten Auftritte des diesjährigen Festivals. Anders als bei SUMAC lässt sich Turner hier viel mehr von seinen Mitstreitern treiben, verliert sich nicht in ewigen Rückkopplungsspielereien, sondern legt die Gitarre für einige kurze Punk-Nummern sogar mal komplett zur Seite. Dass die optische Rick-Rubinifizierung kaum noch aufzuhalten ist – geschenkt. Jedenfalls solange dabei so ein wuchtiger Sound herauskommt.
Und auch im Nebenzimmer geht’s mit tiefen Gitarren-Tunings weiter. „Douuuuuu-douuuu-douuuu“ dröhnt es schon von Weitem. Was da aus dem aufgeheizten Green Room ans Ohr der Kollegen dringt, hat definitiv Fundament. „Hey, das is eine Band, die könnte dir jetzt wirklich gefallen”, orakelt Klug. Kostudis lässt sich also zu BOSSK mitschleppen. Und ja tatsächlich: Ganz schön nett, was die Briten da mit ihren abgrundtief gestimmten Klampfen auf die Bühne bringen. Von selbiger sehen die Kollegen derweil übrigens nichts, denn bereits im Eingangsbereich stapeln sich die Menschen. Da führt wirklich kein Weg hinein. Und wohl auch nicht mehr hinaus. Weswegen sich die Kollegen dazu entschließen, das dumpfe, fiese Gewalze hinter sich zu lassen und in Richtung Koepelhal aufzubrechen, wo es noch allerhand Merch zu sondieren und das eine oder andere Bier zu leeren gilt.
COILGUNS und die Smartphones
An den Pforten der Koepelhal angekommen, trennen sich nach dem kurzen gemeinsamen Intermezzo aber schon wieder die Wege der Kollegen. Während sich der Fish and Chips mampfende Klug die volle Dröhnung SLEEP geben will (Kostudis: „Respekt, wer sich das zwei Tage am Stück von vorn bis hinten anschaut.“), entscheidet sich sein Begleiter für die Show der Schweizer Math-Hardcore-Maniacs COILGUNS, die als letzter Roadburn-Act die Hall Of Fame in Beschlag nehmen.
Nach wenigen Augenblicken stellt sich heraus: Gute Idee, die Truppe das Finale gestalten zu lassen. Denn der Vierer – und das ist nun wirklich nicht untertrieben – hinterlässt eine Schneise der Verwüstung. Jetzt wird alles auf seine Widerstandsfähigkeit getestet: Kabel, Monitore, Instrumente. Und auch die Smartphones der frenetisch ausrastenden Menge.
Denn Fronter Louis Jucker hat es sich nicht nur zur Aufgabe gemacht, bei so ziemlich jedem Song unvermittelt in die Menge zu springen, sondern auch jedes Handy, was irgendwie in seiner Reichweite aufblinkt, an sich zu nehmen. Dabei leidet nicht nur eines der erbeuteten Geräte (was logisch ist, wenn Jucker es sich beispielsweise bis zur Hälfte in den Mund schiebt). Eine mutige Besucherin nutzt allerdings bei einem der Jucker-Ausflüge die Gunst der Stunde, springt auf die Bühne und holt sich ihr Telefon zurück. Andere haben weniger Glück. Dabei hatte Jucker nach dem zweiten Song noch gewarnt: „Watch out for your smartphones, smartasses!“ Die Konsequenz: Das ohnehin tanzwütige Publikum packt die High-Tech-Utensilien beiseite und geht umso härter zu den Songs der beiden Alben „Commuters“ und „Millenials“ ab.
In der Folge erleben Kollege Kostudis und die rasende Menge zum krachend-verqueren Material der Ex-THE OCEAN-Truppe einen mehr als fulminanten Ausklang, den alle Beteiligten ganz sicher so schnell nicht vergessen werden. „Das war, also, das war….also”, stammelt ein glückselig aus der Halle wankender Bart-Träger. Und Tatsache: Schweiß, Hitze, Energie – das war jetzt doch ganz und gar nach dem Geschmack des Kollegen, der sich insgeheim ins Fäustchen lacht, dass Klug ein paar Hundert Meter weiter im dope-geschwängerten SLEEP-Singsang festhängt.
Der Gig des Tages
Nach Ende des Sets noch eine skurrile Begegnung: Auf dem Weg zum Ausgang stolpert Kollege Kostudis noch über eine Art Ein-Mann-Country-Metal-Performance. Offensichtlich hat sich hier ein einheimischer Vollblut-Musiker dazu entschieden, einfach mal Teil des Festival-Programms zu werden. Gesagt getan. Klampfe umgehangen, ein halbes Drumkit aufgebaut – und ab geht die spätnächtliche Action. Das findet zu diesem Zeitpunkt genau ein Zuhörer richtig klasse und begleitet die gewöhnungsbedürftige Performance mit zuckend-jauchzendem Ausdruckstanz. Ein merkwürdiges Duett zu später Stunde, das allen Passierenden aber ein dickes Lächeln ins Gesicht zaubert. Man muss es einfach lieb haben, dieses Roadburn und all seine verqueren Figuren.
Eine solche kniet dann auch neben dem Schließfach des klugen Kollegens, der sich für SLEEP und ihre ganz besondere Zielgruppe entschieden hat. Die nicht mehr ganz in Ursprungsform und -farbe erhaltenen Zähne gebleckt, grinst der Fremde unseren Chef-Doomer freudig an: „No hurry my friend, the’re playing all night long. We’ll have them for two hours.” Nach reiflicher, doch recht kurzer Überlegung entfernt sich der Kollege dann aber unbemerkt und beschließt, das heutige „The Sciences“-Set mit Kollege Lattemann zu verbringen.
Nach langem Geplänkel startet der Album-Opener „Marijuanaut’s Theme“ schließlich mit kaum wahrnehmbaren Gesang und einigen Effektproblemen. Ja ja, gestern war schon noch mal geiler, das zeigt sich alleine daran, dass sich Lattemann binnen eines Tages von Mr. „Ich würde mich als interessierten Laien bezeichnen“ zu Herrn „Heute will ich aber pünktlich da sein“ verwandelt hat. Ein paar Minuten später hätten es aber sicher auch getan, denn erst nach einem kurzen Amp-Tausch für den barbusigen Matt Pike gibt es mit „Sonic Titan“ dann so richtig auf die Mütze. Und in den verbleibenden 60 Minuten zeigen SLEEP dann auch ganz eindeutig auf, dass man wirklich nicht immer die Rezeptur verändern muss, nur um sexy zu bleiben. Tracks wie „Giza Butler“ und der epische „Botanist“ können völlig problemlos mit den erneut dargebotenen, 27 Jahre alten Genrehymnen „Holy Mountain“ und „Dragonaut“ mithalten.
Danke, Roadburn.
Und mit diesem beachtlichen Zeitsprung stehen SLEEP zugleich Pate für das universelle Roadburn-Credo: Tradition bewahren – Neues wagen. Mit alten Helden und frischem Blut, vertrauten Weggefährten und neuen Bekanntschaften, kleinen Wehwehchen und publikumsaffinen Problemlösungen. Denn irgendwie haben Walter Hoeijmakers und sein Team all das noch immer unter einen Hut bekommen. Und so ziehen wir an dieser Stelle selbigen vor ihnen und sagen: Wir sehen uns 2020. Auf dass nichts bleibt, wie es war.
Bericht und Fotos von Anton Kostudis, Alex Klug und Sven Lattemann.
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