Blind Guardian
Blind Guardian live in Stuttgart
Konzertbericht
BLIND GUARDIAN sind immer wieder was Besonderes und das Konzert dieses Jahr wie Weihnachten im Spätsommer. Über vier Jahre soll das schon her sein, seit die Barden das letzte Mal im Stuttgarter Messe Congresscentrum waren? Wie doch die Zeit vergeht. Aber der Turnus stimmt ja: präzise wie ein Schaltjahr gibt es ja auch nur alle vier Jahre eine neue Scheibe. Pflicht also, die blinden Gardinen auch diesmal mitzunehmen.
Ein Blick in die mit schickem Parkett verkleidete Halle offenbart eine spartanische Bühne ohne Schnickschnack. Keine monumentalen Aufbauten wie beim letzten Mal. Der Clou offenbart sich erst später: über Videobeamer werden während des Gigs Moodbilder und kurze Videosequenzen an die Stelle gestrahlt, an der sonst ein Backdrop prangt. Moderne Zeiten!
ASTRAL DOORS? Allgemeines Schulterzucken – nie gehört. Der Bierstand lockt aber auch zu sirenengleich, als dass man sich da großartig ablenken ließe, weshalb die astralen Türen für mich auch hinter verschlossenen selbigen ablaufen. Der Gerstensaft läuft sehr gut, nicht nur bei mir. Und langsam füllt sich der Fußboden des feinen Congresscentrums mit leeren Plastikbechern. Zeit, den Merch-Stand zu inspizieren. Doch der bietet neben immer hässlicheren Shirts für immer mehr Geld nicht viel. Normalerweise rufen solche Preise nach dem Konzert vagabundierende Herren auf den Plan, die vor der Halle denselben Kram für einen Bruchteil verkaufen. Dass dem aber nicht so ist, wundert mich dann schon ein bisschen. Bei MANOWAR oder IN FLAMES ist so was schon lange Usus.
Als plötzlich das Intro „War Of Wrath“ vom Band erklingt, verschlucke ich mich fast. Ab dann gibt es kein Halten mehr und wir bahnen uns unseren Weg am Rand entlang ins vordere Drittel der Gerüchten zufolge ausverkauften Halle. Das Publikum ist bunt gemischt. Junges Gemüse, das gerade angefangen hat, sich eine Matte zu züchten, wuchert zwischen in Ehren ergrauten Vokuhila-Trägern, deren Kopfschmuck sich am Hinterkopf langsam schon wieder lichtet, und die ihre ebenso in Ehren ergrauten BLIND GUARDIAN-Shirts von vor 15 Jahren genauso stolz ausführen, wie Fritzchen Müller sein von Mutti gebügeltes „And Then There Was Silence“-Leibchen. Unnachgiebig sind sie alle, und verteidigen ihre Claims mit sträflichen Blicken. Zum Beginn von „Into The Storm“ haben wir endlich einen annehmbaren Platz gefunden, zwischen den jungen Sprösslingen und dem Mofaclub Hintertupfingen, dem es tendenziell egal ist, ob da jetzt PRIMAL FEAR, HELLOWEEN oder die ONKELZ spielen. „Hauptsach‘ Häwwi Meddl, isch klar, oddor?“ Der Bauernanteil im Publikum ist nicht zu übersehen.
Textsicherheit wiegt mehr als Sangeskunst und so grölen wir ohne Rücksicht auf Verluste das komplette „Into The Storm“ mit. Genauso steht der Rest des Publikums zu geraden Tönen und nimmt Hansi praktisch die komplette Arbeit ab. Wozu zahlt man eigentlich 30 Euro Eintritt, wenn das Publikum eh alles selber singt? Dass die Schwabenmetropole für die blinden Gardinen schon immer ein sehr gutes Pflaster war, bewahrheitet sich auch dieses mal wieder. Mit meinen eigenen (schätzungsweise) 79% Textsicherheit stehe ich hinter Teilen des Publikums sogar noch zurück. Es folgt „Born In A Mourning Hall“, die Stimme überschlägt sich. „Nightfall“ gibt ihr vorerst den Rest. Auch Hansi geht es nicht arg anders: bei den extremen Tonlagen hält er sich gerne zurück und überlässt sie seinen 2000 Souffleuren, auf die er sich an diesem Abend zu 100% verlassen kann. Alles wird mitgesungen. Wirklich alles. Als die Band „The Script For My Requiem“ anstimmt, treten die ersten Fragezeichen auf die Minen: was soll bitte als Zugabe kommen, wenn die Hits in diesem Tempo vom Stapel gelassen werden?
Wie als Antwort darauf folgt als nächstes das erste Experiment des Abends: „Fly“. Die Single-Auskopplung hat vor einigen Monaten für hitzige Diskussionen gesorgt, ist aber trotzdem noch einer der besten Songs auf der neuen Scheibe. Sämtliche Kritik scheint jetzt aber wie weggefegt, und das Publikum tut, was man von ihm erwartet: es klatscht mit. Ein Song kann noch so progressiv und abgefahren sein, gegen ein Publikum, das gegen jede Taktvorgabe immun ist, ist eben kein Kraut gewachsen und so verkommt „Fly“ dank fehlenden Taktgefühls, größeren Unsicherheiten beim Text und überschäumender Euphorie ganz in deutscher Tradition zum platten Bierzeltschunkler. Immerhin ein netter Versuch, aber im Endeffekt doch Perlen vor die Säue. Dass das neue Material insgesamt wenig Live-Qualitäten bietet, ist wohl der Grund dafür, dass wir außer „Fly“ im Laufe des Sets nur noch den Opener „This Will Never End“ und „Another Stranger Me“ von der neuen Scheibe zu hören bekommen.
Wie wenn man sich gegen eventuelle Ausfallerscheinungen hätte wappnen wollen, folgt im Anschluss – wie als Beschwichtigung – der älteste Song des Sets: „Valhalla“. Fast schon ein wenig beiläufig angekündigt, vielleicht aus der Verwunderung heraus, dass „Fly“ doch so gut ankam. Bei „Valhalla“ haben die Leute den Text auch wieder drauf. Und wie! Singt Hansi überhaupt noch mit? Sollten danach noch irgendwelche Dämme stehen, brechen die mit „Time Stands Still“ und spätestens mit dem folgenden „Lord Of The Rings“ vollends weg. „Slow down, and I sail on the river, slow down, and I walk to the hill…“ Einfach schön! Und Gänsehaut den ganzen Abend, obwohl es sicher 30 GRad hat.
Das Repertoire für die Zugabe schrumpft mit „Bright Eyes“ noch ein gutes Stück, der Kehlkopf wirft langsam Blasen. Zum Glück kann er sich beim zweiten neuen Song „This Will Never End“ ein wenig ausruhen, bevor er bei „Mordred’s Song“ wieder schlimmsten Vibrationen ausgesetzt ist. Gleich fällt er ab und rutscht die Speiseröhre runter. „Lost In The Twilight Hall“ und das überlange „And Then There Was Silence“ beschließen das reguläre Set ohne meinen Beitrag zum Background-Chor, weil ich nicht wie Lemmy enden will. Die Dame am Bierstand versteht auch nur noch auf Fingerzeig, dass ich vier Bier bestelle. Von denen kommt leider nix im Magen an, weil sie allesamt in meiner glühenden Kehle verdampfen.
„Another Stranger Me“ ist der dritte neue Song des Abends und läutet den ersten Teil der Zugabe ein. Gemischte Gefühle, man fremdelt ein wenig, jubelt am Ende jedoch trotzdem fröhlich. Und wieder schiebt die Band eine Wiedergutmachung hinterher. Diesmal das monumentale „Imaginations From The Other Side“. Killer! Unter frenetischem Jubel verlässt die Band die Bühne. Haben wir etwa schon alles gesehen? Mittlerweile sind anderthalb Stunden wie im Flug vergangen. Und nein! Der fulminante „Bard’s Song“, das Kabinettstückchen des Stuttgarter Publikums, das seinerzeit als Live-B-Seite auf der entsprechenden Single veröffentlicht wurde. Wenn man genau hinhört, kann man mich auch da heraushören… Auch diesmal veredeln die Stuttgarter den Song für die Ewigkeit. Mit „Mirror Mirror“ verabschieden sich BLIND GUARDIAN dann schlussendlich beeindruckt vom besten Publikum, das man sich als Band wohl wünschen kann. Neuzugang Frederik Ehmke an den Drums hat seine Feuertaufe bestanden, BLIND GUARDIAN haben Gewissheit, dass sie in Stuttgart Narrenfreiheit genießen, wir verlassen mit einem debilen Grinsen das Congresscentrum, die HNO-Ärzte der Region reiben sich die Hände, wir sehen uns in vier Jahren!
Ein herzliches „Valhaaaaalla!“ an Robert Jaenecke (metalbilder.de) für die Bereitstellung des Bildmaterials.
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