ARTMania 2022
Porträt eines ungewöhnlichen Festivals im transsilvanischen Sibiu
Konzertbericht
Das ARTMania-Festival brachte in der Altstadt des transsilvanischen Sibiu mehrere Rock- und Metal-Bands zusammen. Unser Gastautor Jörg Scheller reiste in den hierzulande einst Hermannstadt genannten Ort und warf dabei nicht nur Ohren und Augen auf die auftretenden Bands. Ebenso betrachtet aber aber auch den gesellschaftlichen Wandel, nicht nur bezogen auf Sibiu allein, sondern wie Südosteuropa aus der Peripherie des Musik-Business näher an dessen Zentrum rückt und sich durch Veranstaltungen wie das ARTMania noch weiter bewegen könnte.
Es gibt Festivals, die etwas über ihre Zeit verraten. Und es gibt Festivals, die sehr viel über ihre Zeit verraten. In den 1990er Jahren waren das die großen Events, bei denen zuvor als inkompatibel geltende Genres aufeinander trafen, etwa Rap und Metal. Sie zeugten von der Mulitkulti-Ära, von Diversity, Inklusion & Co. Heute ist es ein Festival wie ARTmania im rumänischen Sibiu am Fuß der Karpaten, das dem Namen nach noch nicht einmal als Metal- und Rock-Festival zu identifizieren ist, geschweige denn an einem für ein solches üblichen Ort stattfindet.
Mitten in der Altstadt der transsilvanischen Provinzmetropole, auf dem historischen Großen Ring, zwischen Renaissancehäusern, dem Brukenthal-Museum und der Jesuitenkirche, treten seit 2006 Bands wie NIGHTWISH, DARK TRANQUILITY oder OPETH auf. In diesem Jahr waren es MESHUGGAH, TESTAMENT, MERCYFUL FATE, CULT OF LUNA, LEPROUS, THE PINEAPPLE THIEF, STONED JESUS, BUCOVINA, THE VINTAGE CARAVAN, ALTERNOSTEFERA, TAINE, DOR DE DUH und REVOLVER.
Einbinden statt ausgrenzen
Ein Metal- und Rockfestival im Herzen einer touristisch erschlossenen europäischen Altstadt steht symbolisch dafür, dass harte Gitarrenmusik auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft ist, mithin von der Normalisierung dessen, was einst als „Gegenkultur“ oder „alternativ“ galt (was alle, auch radikale Formen der Popmusik natürlich eher dem Image nach sind). Damit hat das Festival paradigmatischen Charakter für den Umgang mit Abweichlern in offenen Gesellschaften: einbinden statt ausgrenzen.
Initiatorin und Organisatorin Codruța Vulcu, die bereits als Teenager (!) das erste NIGHTWISH-Konzert in Rumänien auf die Beine stellte, ist es bei der ersten ARTmania-Ausgabe nach der Corona-Pandemie sogar gelungen, die Fassade der Jesuitenkirche mit Visuals bespielen zu dürfen. In den Anfangsjahren opponierte die Kirche – ja, auch mit physischem Protest – gegen das Festival, standen und stehen doch auch viele Bands mit okkulten Bezügen auf dem Programm.
Tage der Entspannung
Heute gibt man sich entspannter. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass Codruța 2019 den Gig, Verzeihung: den Besuch des Papstes in „Hermannstadt“, wie die früher mehrheitlich von Deutschen bewohnte Stadt hieß, gemanagt hat. Und war Heavy Metal nicht immer schon nahe dran am Katholizismus? Bildgewaltig, mythensatt, hybrid? Und ist nicht, so betrachtet, der True Metal ein naher Verwandter der Orthodoxen Kirche? Wandelte nicht sogar ein nominell satanistischer Black-Metal-Musiker wie MAYHEMs Euronymous in den Spuren der etablierten Religionen, als er Teile des Schädels seines Freundes Dead nach dessen Suizid wie Reliquien an Bekannte verschickte? Mit dem Priestersohn Lemmy Kilmister brachte Metal gar einen veritablen Gegenpapst hervor. Insofern wächst hier in Sibiu vielleicht einfach nur zusammen, was immer schon heimlich zusammengehört hat.
Sibius‘ Festival der komplementären Kontraste hat aber auch dahingehend paradigmatischen Charakter, dass heute vermehrt das den Ton angibt, was man früher im Westen etwas hochnäsig „Peripherie“ nannte. Ob die Boom-Staaten auf der arabischen Halbinsel, die aufstrebende Supermacht China oder die in Westeuropa oft übersehenen, wenn nicht gar übergangenen Staaten und Städte Osteuropas – ein geschichtsträchtiger Ort wie Sibiu und ein innovatives Festival wie ARTmania haben es verdient, aus dem Schatten zu treten. Zwar fiel die Ausgabe 2022 etwas kleiner aus als in den Vorjahren, zumal die Veranstalterin auf ein ausgedehntes Rahmenprogramm verzichtete (2023 soll sich das unter anderem mit einer Konferenz, diversen Kollateralkonzerten auf kleineren Bühnen in der Altstadt und experimentellen Veranstaltungen ändern).
Keine grölenden Schlachtenbummler in Sicht
Doch das hatte laute Vulcu gute Gründe. Nach der Pandemie galt es, langsam zu starten und den Menschen bei Großveranstaltungen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Wer wollte, sollte Distanz halten können. Um die 5’000 Menschen pro Abend fanden so ihren Weg in den um die 8’000 bis maximal 10’000 Besucher fassenden, abgesperrten Bereich auf dem Großen Ring. Darunter waren, nach Augenschein des Autors, für Metal- beziehungsweise Metal-lastige Veranstaltungen ungewöhnlich viele Frauen und Paare. Auch Kinder standen im Publikum – ein etwa Fünfjähriger stürzte sich gar, ermuntert vom Vater, bei den letzten Songs der Thrash-Metal-Veteranen von Testament ins Circle Pit (keine Sorge: er kam heil wieder heraus, mitsamt seiner türkisfarbenen Schirmmütze). Auffällig war auch, wie friedlich es während des Festivals in der Stadt zuging. Zumindest der Autor ist keinem einzigen grölenden, übergriffigen Schlachtenbummler begegnet. Respekt!
Zwischen den Sets der einzelnen Bands zeigten Leinwände nicht nur Werbung der Sponsoren, sondern auch Videos von ukrainischen Musikern, die für ihr Land in den Krieg gezogen sind beziehungsweise eingezogen wurden – ukrainische Männer, die zwischen 18 und 60 Jahre alt sind, haben keine andere Wahl. Auf der kleinen Bühne des Festivals interviewte der deutsche Journalist Gunnar Sauermann Musiker der ukrainischen Stoner-Rock-Band STONED JESUS. In zwei Sätzen brachte Bandleader Ihor Sydorenko mehr Realitätssinn unter, als „sogenannte deutsche Intellektuelle“ (Sauermann), die derzeit politphilosophisch bemänteltes Diktatoren-Appeasement betreiben: „If Russia stops fighting, the war is over. If Ukraine stops fighting, Ukraine is over.“
Harte Gitarrenmusik in der Altstadt
Und was war musikalisch geboten? Im Folgenden werden nur ein paar Konzerte herausgegriffen. Wie eingangs erwähnt, sind Metal- und Rock-Festivals in Innen- und vor allem Altstädten alles andere als üblich. Wenn, dann würde man am ehesten klassischen Hardrock oder Hair Metal erwarten. Irgendwas mit hohem Party-Faktor. In Sibiu hingegen haben gerade diejenigen Bands ihren Platz, die zwar in Subszenen erfolgreich sind, aber nicht zum Mainstream der harten Gitarrenmusik zählen. Darunter sind traditionell viele aus Skandinavien.
LEPROUS aus Norwegen beispielsweise boten ihre schwarzmetallisch inspirierten Post-PINK-FLOYD-Post-FAITH-NO-MORE-Songs dar. Schlagzeuger Baard Kolstad gab mit entblößtem Oberkörper und konstant verzerrtem Gesicht den schwerarbeitenden Placker, während der Rest der Band konzentriert im Normcore-Look aufspielte. Nur Sänger und Keyboarder Einar Solberg erlaubte sich eine Biedermeier-Grille und erschien in einer Weste, die jedem Pool-Billard-Profi zur Ehre gereicht hätte.
Bei CULT OF LUNA wiederum vermengte sich (Post-)Hardcore mit der emotionalen Intensität des norwegischen Black Metal. Die Atmosphären der präzisen Lichtregie wechselten dabei zwischen Eis- und Sandsturm; wie die Sisters of Mercy wanderten die Musiker durch dichte Nebelfelder, deren Gewaber von im Sekundentakt niedersausenden Lichtschwertern zerteilt wurde.
Die 1998 in Schweden gegründete Band spielt im Grunde eine einfache Musik, meist im Viervierteltakt, voll altbekannter Harmonien, mit wenig innovativem Shouting. Passagenweise klingt das wie die ebenfalls mit zwei Schlagzeugern spielende Indierockband GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR! auf Steroiden. Aber live bieten die Lunatiker ein packendes, hypnotisches Erlebnis.
Kontroverser Heavy Mathal
Die kopflastigen Schweden von MESHUGGAH wiederum, die man als Paten des Math-Core kennt, präsentierten zunächst wie gehabt ihre polyrhythmisch-vertrackte Musik-für-Musiker, nur um in der Mitte ihres Sets mit einer so noch nie von ihnen gehörten Einlage zu überraschen: einer Coverversion von GREEN DAYs „Basket Case“ – 1:1, ganz ohne Variationen, eine perfekte Kopie. Der Bruch mit der Erwartung hätte krasser nicht sein können. Das Publikum war perplex, doch nach ein paar Sekunden brach sich Begeisterung Bahn. Die durch verkrampftes Taktzahlenanalysieren über Jahre angestaute Anspannung verpuffte – ausgelassen tanzte man zu den erfrischend einfachen Harmonien unter dem transsilvanischen Himmel, manche mit einem verklärten Lächeln im Gesicht.
Scherz beiseite, natürlich lieferten MESHUGGAH genau das, und nur das, was man von ihnen kennt und erwartet: nicht Malen nach Zahlen, sondern Metal nach Zahlen – Heavy Mathal, wenn man so will. Als radikale Geste der Verweigerung und Fokussierung; als eine Form avantgardistischer Askese; als genuiner Anti-Pop beeindrucken diese fast nur aus Rhythmus bestehenden Songs, die zugleich für Gehirnjogging- und Konzentrationstrainingszwecke verwendet werden können, auf alle Fälle. Aber berühren sie auch emotional? Das ist die alte MESHUGGAH-Kontroverse, die auch in Sibiu nicht gelöst wurde. Man hasst sie oder man liebt sie, dazwischen gibt es wenig anderes.
Routinierte Veteranen
TESTAMENT wiederum boten, ähnlich wie nach ihnen MERCYFUL FATE, ein gutes, routiniertes, technisch hochstehendes Set, glänzten aber nicht gerade durch Fan-Nähe: direkt vom Hotel auf die Bühne, direkt von der Bühne in den Bus. Auf der Setlist standen Klassiker wie „Practice What You Preach“ (1989), vom hörenswerten Album Titans of Creation (2020) stammten „Children of the Next Level“ und „Third World War“ – „leider sehr aktuell“, so Sänger Chuck Billy. Nach schwarzmetallisch- oder Post-Hardcore-inspirierten Acts tat Thrash Metal dem Publikum sichtlich gut – Pogo, Moshpit, Circle Pit, alle Rituale mit dabei. Erfrischend war der Regenschauer, der während des Konzerts auf die Menge niederging, und anders als auf Wald-und-Wiesen-Festivals nicht zu einer Schlammschlacht führte.
Auf MERCYFUL FATE, die nach langer Bühnenabstinenz seit 2019 wieder touren und diesmal offenbar eine langfristige Reunion inklusive Studioalbum anstreben, ruhten als Headliner am Sonntag große Erwartungen. Sie wurden nicht enttäuscht. Zwar stand Gründungsmitglied und Leadgitarrist Hank Shermann etwas statuenhaft neben seinem gewohnt geisterbahnkonform kostümierten dänischen Landsmann King Diamond auf der Bühne. Und natürlich ist ein solches Konzert ein irgendwie museales Erlebnis. Auch mussten die 1981 gegründeten, bereits 1985 aufgelösten und danach immer mal wieder für kürzere Zeit wiedervereinigten Impulsgeber des Black Metal ihr Set aufgrund behördialen Eingreifens etwas kürzen. Aber musikalisch – was für eine Wucht!
Gerade im Vergleich mit Bands wie CULT OF LUNA besteht die Qualität der Kompositionen MERCYFUL FATEs darin, dass sie nicht nur bei voller Live-Lautstärke oder über gute Kopfhörer funktionieren. Sie sind, um es etwas verquast auszudrücken, multikontextuell. Ob auf einer großen Bühne wie in Sibiu oder über den Laptop-Lautsprecher: MERCYFUL FATEs schillernde, manieristische Mischung aus 70er-Jahre-Progressive Rock, Art Rock, Heavy Metal, Proto-Black-Metal, Vaudeville- und Klassik-Elementen setzt sich durch. Dabei spiegelt sie aus der Vergangenheit heraus den hybriden, konfusen, experimentellen und zugleich streng kontrollierten, nach Perfektion strebenden Charakter unserer heutigen Übergangsepoche.
Die Peripherie rückt näher an das Zentrum
Die Band ist damit aktueller denn je. Das gilt für in Sibiu gespielte Songs wie „Evil“ von Melissa (1983) und „A Dangerous Meeting“ von Don’t Break the Oath (1984) ebenso wie für den neuen Song „The Jackal of Salzburg“, der den Klassikern in nichts nachsteht. Aber warum haben MERCYFUL FATE eigentlich erst 2022 ihren Rumänien- beziehungsweise Transsilvanien-Einstand geben? Das Horror-Image im Allgemeinen und ein Album wie Return of the Vampire (1992) hätten doch reichlich Anknüpfungspunkte geboten!
Daran zeigt sich vielleicht, dass Osteuropa für viele Bands, Labels, Promotern und Bookern noch immer „Peripherie“ ist. Das ARTmania-Festival leistet einen wichtigen Beitrag, dass das nicht so bleibt, und wird mit dem erweiterten Programm ab 2023 einen noch wichtigeren Beitrag dafür leisten.
Text: Jörg Scheller, Redaktion: Marc Thorbrügge, Fotos: Miluta Flueras mit freundlicher Genehmigung von ARTMania.
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