Whitechapel
"Es ist so lange her, dass sich die Dinge auch nur annähernd normal angefühlt haben, dass man sich fragen muss, ob dieses "normal" jemals zurückkehren wird."
Interview
Vor zwei Jahren haben WHITECHAPEL mit „The Valley“ einen bis dato neuen, vielleicht auch notwendigen und wichtigen Meilenstein für ihre Entwicklung als Band hingelegt und nun kehren sie – der Pandemie sei Dank – schneller und vielleicht auch bewusster mit dem Nachfolger „Kin“ zurück, welcher nahtlos an die Atmosphäre und das Thema anschließt. Alex Rüdinger, seit 2019 live am Schlagzeug und inzwischen der neuste und offiziell feste Bestandteil der Band hat für uns die Türen zum schauerlichen Stelldichein von Phils Vergangenheit geöffnet.
Ein „Corona-Album“ – was war anders?
Wie ist es in Zeiten einer weltweiten Pandemie zu bewerkstelligen, ein Album umzusetzen? Es folgt ein Lachen als Antwort. „Der Einfluss der Pandemie auf das neue Album war diesmal eine der meistgestellten Fragen. Es scheint, als würden die Leute Geschichten darüber erwarten, mit was für Widrigkeiten wir bei den Albumaufnahmen konfrontiert waren. Aber um ehrlich zu sein hat es die Dinge für uns sogar sehr viel einfacher gemacht. Das war für uns tatsächlich einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzig gute Nebeneffekt der Pandemie.“ Man hatte keinen strikten Deadlines und durch das Wegfallen der Liveshows die Möglichkeit, sich ganz auf das Songwriting zu konzentrieren.
Auch die Aufnahmen gestalteten sich problemlos: Gitarren und Gesang wurden in Zachs Haus aufgenommen, das Schlagzeug in einem Studio in Nashville, Tennessee. Wobei Tennessee zu dem Zeitpunkt ziemlich „entspannte“ Auflagen vorschrieb, weswegen im Studio zwar alle Masken trugen (außer Alex beim Drum-Recording selbst) und sich weit voneinander weg positionierten, wenn sie sich im gleichen Raum befanden, aber man konnte es gemeinsam als Team umsetzen, d.h. glücklicherweise lief es in dieser Hinsicht wie sonst auch ohne Beschränkungen und beeinflusste das Miteinander und den kreativen Prozess eher positiv.
Die Suche nach dem neuen Sound…
Doch was war Ziel des Albums? Stand im Vorfeld fest welche Richtung man (weiterhin) einschlagen will? Bereits nach wenigen Minuten Spielzeit steht zumindest außer Zweifel, dass „Kin“ konzeptionell die Geschichte von „The Valley“ weiterspinnt. „Ich liebe es, wie Phil seine Kreativität nutzt, um Erlebtes einzuspinnen – für mich ist es genau das, was Kunst und Musik überhaupt ausmacht.“ Und das haben WHITECHAPEL spürbar miteinander umgesetzt, wenngleich der Kurs stets klar definiert war.
„Da ich das neueste Mitglied bin, fällt es mir etwas schwer objektiv zu bleiben. ‚Kin‘ ist das erste Album, auf dem ich persönlich mitgewirkt habe. Allerdings kannte ich die Schaffensart schon vor meinem offiziellen Beitritt sehr gut, daher war mir natürlich auch die Entwicklung der Band sehr bewusst. Ich denke definitiv, dass sich der Sound der Band im Laufe der Jahre verändert hat und ich wage zu sagen, dass es sich um ‚gereift‘ handelt, aber das heißt nicht, dass das ältere Material ‚unreif‘ ist, es ist nur ein bisschen anders. Ich denke, da wir alle ein bisschen älter geworden sind, sind wir einfach dem näher gekommen, was wir wirklich mögen und was wir auch wirklich alle schaffen wollen. Ganz zu schweigen davon, dass alle kreativen Menschen danach streben, zu wachsen und sich zu entwickeln.“
Entwickelt hat sich der Sound der Band zweifelsohne und ganz klar hat der Vorgänger hier eine Tür geöffnet, die für alle Beteiligten in eine neue Richtung führte und was im Vorgänger vielleicht etwas zögerlich oder noch „unbeholfen“ umgesetzt wurde, läuft nun fließender und dynamischer denn je. „Für mich sind ‚Kin‘ und sogar ‚The Valley‘ eine Art Schritt in diese Richtung; sie sind eine Art Höhepunkt dessen, was wir für die besten Teile des vergangenen Sounds der Band halten, kombiniert mit dem, was wir jetzt spielen wollen. Vorher hatten wir aber nicht wirklich die Fähigkeiten dazu, in diesem Sinne war es eine sehr natürliche Entwicklung.“
Musikalische Veränderung – Fluch oder Segen?
Die natürliche Entwicklung auf der einen, alteingesessene Fans auf der anderen Seite. Wie jeder weiß ein Spagat, den viele Bands wagen und im Sinne der Weiterentwicklung auch wagen müssen, der sich aber gerade hinsichtlich „Früher war alles besser“-Anhänger doch oft als schwer erweist. Insbesondere in diesem Genre haben derartige Beispiele der Weiterentwicklung in jüngster Vergangenheit doch oft zu Unverständnis bis hin zu Abwendung der Fans gesorgt. WHITECHAPEL haben dabei bisher zwar scheinbar unbeeindruckt ihr Ding durchgezogen, aber ihre langjährige Vergangenheit von Erfahrung bringen dieses Selbstbewusstsein sicherlich auch natürlichwerweise mit sich. Dennoch ist „Kin“ durch vermehrt eingesetzten Clean Gesang und Balladen gerade in dieser Hinsicht angreifbar, weil zugänglicher, was den Vorwurf des „selling out“ aufbringt. „Was ich für unfair halte. Aber ich verstehe es auch: Wenn man ausschließlich wegen der brutaleren Sachen an die Band gekommen ist, wird man dieses neue Medium nicht erwarten – zumindest nicht von uns. Aber das ist ohnehin so eine Sache: Viele Bands haben Clean Gesang und gelten trotzdem nicht als „Super-Mainstream“, es ist nur der Kontext den die Leute durcheinander zu bekommen scheinen.“
Man richtet sich an dieser Stelle auch seitens der Reaktionen zu „The Valley“ in positiver Erwartung an die Fans, denn die Gesamtreaktion – sowohl zu der Scheibe, als auch zu den dadurch erweiterten Live-Auftritten – war überwältigend positiv. „Ich schreibe das hauptsächlich der Tatsache zu, dass es auf geschmackvolle Weise stattfindet, insbesondere was den Gesang betrifft. Phil hat ehrlich gesagt eine unglaublich bemerkenswerte Stimme. Es wäre eine andere Geschichte, wenn wir das das aus der falschen Vorstellung heraus, um nämlich mehr Erfolg zu haben, erzwingen würden, aber das ist bei Weitem nicht der Fall und ich denke seine stimmliche Ausführung spricht für sich selbst.“ Eine Art „Catch-22-Situation“ also: Es beschweren sich immer Leute über Veränderung, andererseits ist es auch nicht damit getan immer wieder stilistisch gleiche Alben zu veröffentlichen. „Du kannst es also nie allen recht machen und das ist in Ordnung. (…) Die Leute scheinen die natürliche Entwicklung des Sounds der Band zu mögen und auch wirklich zu schätzen.“
Zu schätzen weiß die Band selbst neben der positiven Resonanz auch die Aufmachung des neuen Silberlings: Das Cover – ganz in zwei Schwarz-, zwei Blautönen und Weiß – gehalten, entstammt Jillian Savages Hand, welche nicht nur Bens Frau ist, sondern „Kin“ durch ihr zeit- und arbeitsintensives Pointillismus-Werk eine weitere sehr familiäre Facette zu diesem doch sehr persönlichen Album beigetragen hat.
Und wie geht es nun weiter?
Fehlt WHITECHAPEL das Touren und die Nähe zu den Fans? „Wir wissen die zusätzliche Zeit zu schätzen, die uns die Pandemie für unseren kreativen Prozess geschaffen hat, aber wir sind mehr als bereit, unser ’normales‘ Leben wieder aufzunehmen. Ich setze ’normal‘ absichtlich in Anführungszeichen, weil… nun, es ist schon sehr lange her, dass sich die Dinge auch nur annähernd normal angefühlt haben und man frägt sich doch, ob dieses ’normal‘ jemals zurückkehren wird.“ Wer die letzten Tage mal wieder in einer größeren Menschenmenge stand, weiß wovon Alex da spricht. Seltsam ist es inzwischen irgendwie doch und es bleibt abzuwarten, was da noch kommt und was sich letztendlich und hoffentlich langfristig ändern wird. Trotzdem: „Es wird sicherlich ein Prozess sein, aber wir sind bereit, diesen Prozess in Gang zu setzen und die Arbeit wieder aufzunehmen. Also ja: Wir freuen uns alle darauf und sind sehr gespannt, wie es weitergeht!“ Wie wir alle.
WHITECHAPELs neues Album „Kin“ wird übrigens kommenden Freitag, 29.10.2021 veröffentlicht und unsere Rezension verlinkt, sobald vorhanden. Bis dahin ein kleiner Vorgeschmack (& Kostümtipp) zu passend zu Halloween: