War From A Harlots Mouth
Interview mit Gitarrist Simon Hawemann
Interview
Die Berliner WAR FROM A HARLOTS MOUTH haben mit dem von Widerhaken und Fausthieben nur so vollgepackten Albtraumszenario „Voyeur“ zweifellos eins der Genre-Highlights aus dem reichhatigen Death-/Mathcore/Progressive-Fundus veröffentlicht. Mit Gitarrist Simon Hawemann unterhielten wir uns über die Musik und versuchten herauszufinden, wo die Wut und die Düsternis wohl herkommen mag. Und wir stellten fest: Großartig anders als uns verzweifelt kämpfenden Individuen geht es den fünf Musikern eigentlich gar nicht.
Euer neues Allbum „Voyeur“ gehört zu den besten Veröffentlichungen des Jahres im weitgefassten Bereich des Metal/Deathcore, weil es eigenständig und mutig ist und weil es künstlerisch weit über dem standardisierten Schablonen-Songwriting der Szene steht. An wen ist dieses düstere Gebilde menschlichen Wahnsinns adressiert, und was genau soll “Voyeur“ als Gesamtkunstwerk darstellen und bezwecken?
Vielen Dank! In erster Linie ist es immer an uns selbst adressiert, würde ich sagen. Es geht uns um kreative Selbstverwirklichung und die Möglichkeit, unsere Gedanken zu bestimmten Themen so emotional und eindringlich wie möglich auszudrücken. Wie du schon sagst, gehen wir dabei größtenteils Wege, die über die üblichen, formelhaften Strukturen und auch die etablierten Harmonien und Melodien vieler anderer Bands hinaus gehen. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass die Standards kaum musikalisch die von uns gewählten Themen zu transportieren imstande sind, zumindest meiner Ansicht nach. Ich finde es immer irritierend, wenn hochtechnische Death Metal Bands bei all ihrem Gefrickel fast lustig oder happy klingen, weil sie im Endeffekt doch irgendwie an die Harmonielehre der Populärmusik gebunden zu sein scheinen. Da können die Texte noch so splatterig und die Bärte noch so voll sein, eine wirklich bedrohliche, geschweige denn böse Stimmung, kommt so nicht auf.
Deswegen sind wir auf Begriffe wie Deathcore in unserem Zusammenhang auch nicht so gut zu sprechen, da dieses Genre nicht grad mit dem Brechen von Standards beschäftigt ist, es uns somit natürlich irgendwie in einen falschen Kontext setzt und den Leuten vor allem eine falsche Idee vermittelt. Wir haben schon im echten Death Metal nur ein paar Einflüsse und die sind auch eher dafür bekannt, nicht der Norm zu entsprechen. Gorguts oder Cryptopsy würden mir hier einfallen, aber dann wird’s schon langsam dünne.
Habt ihr angesichts eures Songwritings die Befürchtung, dass es der Mangel an offensichtlichen Hits euch besonders schwer machen könnte? Wie nahe dran seit ihr während des kreativen Prozesses, doch mal eine eingängige Nummer im Strophe-Refrain-Bridge-Format zu komponieren? Kostet der Verzicht auf dieses Stilmittel Überwindung?
Wir haben nicht die Befürchtung, es ist einfach so, dass wir es uns damit schwerer machen. Aber unsere Musik hat nicht vorrangig das Ziel, zu entertainen und ist auch nicht dem Geschmack der breiten Masse, ob nun im Metal oder im Hardcore, geschuldet. Ansonsten sind auf „Voyeur“ allerdings trotzdem unsere eingängigsten Songs bisher, man nehme nur ‚The Black Lodge‘, dass eigentlich ein relativ straightes Schema mitsamt Strophe-Refrain-Wiederholungen hat. Ähnliches gilt für ‚Temple‘ oder eigentlich auch ‚Scopophobia‘. Es ist nicht so, dass wir betont chaotisch sein wollen. Das war vielleicht in der Vergangenheit mal so, aber darüber sind wir hinaus… mittlerweile können wir die Rastlosigkeit, die wir zum Teil selbst verspüren und die in unseren Texten verankert ist, eher mit Hilfe einer sehr atonalen Melodik ausdrücken, als wieder auf extrem verschachtelte Strukturen zurückgreifen zu müssen.
Welche Herangehensweise haltet ihr bei „Voyeur“ für besser? Sollte man sich zuerst auf die Atmosphäre einlassen, oder genügt es, Wut und Aggression kanalisieren zu wollen?
Ich denke, da herrscht eine gewisse Balance. Die Atmosphäre spielt aber eine tragende Rolle in unserer Musik, und das spätestens seit „MMX“. Sie drückt wie gesagt Rastlosigkeit, aber auch Angst, Paranoia, Verbitterung und eben auch Wut über all diese Dinge aus. Wut ist schließlich oft eine Folge von Angst… Wut über sich selbst und das man diese Angst so nah an sich heran lässt, oder Wut über das, was einem Angst macht. Von daher greifen beide Dinge unsererseits jedenfalls klar ineinander… Atmosphäre und Aggression sind unmittelbar miteinander verknüpft. Wir hoffen, beides so eindringlich vermitteln zu können, dass es den Hörer auch erreicht.
Nach dem Release von „Voyeur“ haben euch nicht wenige mit Meshuggah verglichen, ganz allgemein scheint der Hardcore- und Metalcore-Anteil eurer Musik nur noch ein Teil von vielen zu sein. Falls es bei euch so etwas wie eine Ideologie gibt: Steht ihr der Metal- oder der Hardcore-Szene näher?
Auf unseren ersten beiden Alben und der Split 7“ mit Burning Skies war Hardcore noch ein größerer Einfluss für uns, aber mittlerweile können wir uns über diese Musik einfach nicht mehr ausdrücken. Die Wut in unserer Musik ist vielleicht noch am ehesten irgendwie dem Hardcore zuzuordnen, aber rein musikalisch sind die Grenzen in diesem Genre viel zu eng gesteckt. In dieser Hinsicht stehe ich extremem Metal persönlich mittlerweile näher, aber allgemein kann ich mich weder mit der einen, noch der anderen Szene zu 100% identifizieren. Grundsätzlich sind wir wohl die schwarzen Schafe beider Szenen: Für die Hardcore Kids zu extrem und für den Metaller fehlt’s an Image.
Man hört allerorten von eurem Jazz-Einfluss, im Gegensatz zu Bands wie Between The Buried And Me ist dieses Element bei euch rein songtechnisch aber eher sporadisch vorzufinden. Offensichtlich aber folgt euer Songwriting bestimmten Einflüssen aus anderen Bereichen als denen der Populärmusik. Welchen denn genau?
Nun gut, diese Einflüsse haben ebenfalls seit „MMX“ etwas nachgelassen und sind auf „Voyeur“ nun gar nicht mehr zum Tragen gekommen. Das liegt daran, dass sie einfach die Stimmung der Songs zu sehr aufgebrochen und somit im schlimmsten Falle fast ironisch gewirkt hätten. Und Ironie ist das letzte, was wir mit unserer Musik ausdrücken möchten, auch wenn wir da in den Anfangstagen etwas ungezwungener waren. Schlussendlich lacht sich jeder Witz irgendwann aus, von daher machen wir da lieber einen Bogen drum. Wie dem auch sei, es gibt natürlich positive Beispiele für jazzige Einflüsse in unseren Songs, ohne dass an diesen Stellen ein zu extremer Bruch entstanden wäre. ‚To Age and Obsolete‘ auf „MMX“ wäre so eins. Aber beim Schreiben von „Voyeur“ gab es einfach nie einen Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, etwas in dieser Art unterbringen zu müssen. Es gibt noch ein paar cleane Gitarren, aber diese sind nicht weniger düster und beklemmend, als der Rest.
Bei „Scopophobia“ gibt es diesmal melodische Ansätze in Form kurzen cleanen Gesangs. Für viele Fans von eurer Musik ist dies ein heikles Thema, weil offenbar einige sehr empfindlich auf melodische Vocals reagieren, andere wiederum sind der Meinung, dass die Musik dadurch auch an Tiefe gewinnen kann. Unabhängig davon: Ist diese Art der melodischen Erweiterung eures Sounds für euch in ausgeprägterer Form grundsätzlich für die Zukunft denkbar?
Ob das ein heikles Thema ist oder nicht, ist uns eigentlich relativ egal. Ich habe das Gefühl, dass die Mehrheit verstanden hat, was wir damit bezweckt haben, nämlich – wie du schon sagtest – dem Song mehr Tiefe zu verleihen. Und es handelt sich ja nun auch nicht grad um einen belanglosen Radio-Rock Refrain, von daher lässt mich etwaiges Gejammer deswegen auch wirklich kalt. Arkadi ist wirklich ein ungemein talentierter Musiker und komponiert fernab von den üblicherweise harmonisch etwas belanglosen Gesangsstellen im Metal. Wir schränken uns da nicht ein, von daher wäre es auch in der Zukunft denkbar, wieder solche Elemente mit einzubringen. Da wir aber nicht in der Lage wären, es in dieser Form live umzusetzen, wird es wohl bei vereinzelten Gastbeiträgen bleiben müssen.
Hat die Tatsache, dass ihr aus der Bundeshauptstadt Berlin kommt, und somit aus dem unmittelbaren Umfeld der vielleicht einflussreichsten Regierung der EU, Einfluss auf euer Dasein als Musiker oder ist Politik ein Feld, dass ihr bewusst komplett außen vor lasst?
Es hat auf uns als Individuen sicher einen größeren Einfluss, als auf uns als Musiker. Wir haben in Vergangenheit auch schon politische Themen wie z.B. den weltweiten Überwachungsstaat sowie ein paar Verschwörungstheorien durchgekaut, alles zu finden auf „In Shoals“. Wir sind auch auf keinen Fall eine Band, die sich als unpolitisch bezeichnen würde und machen keinen Hehl draus, wo wir politisch stehen – und das ist immer entgegengesetzt von rechts.
Wie dem auch sei, im Kontext unserer Musik interessieren mich thematisch vor allem die Abgründe der menschlichen Psychologie und wozu Menschen grundsätzlich imstande sind, besonders wenn es darum geht, anderen Schmerz und Leid zuzufügen. Die Beweggründe von Tätern und Folgen für Opfer sind im Kontext Voyeurismus z.B. ein sehr intensives und eindringliches Thema. Ob ich Texte oder Musik schreibe, ich will beides miteinander so sehr verknüpfen, dass das eine das andere auch rüberbringt. Ich finde, man hört VOYEUR die Rastlosigkeit, die Angst und Paranoia an, die das Thema mit sich bringt und darauf gehen die Texte natürlich auch ein. Unsere Musik soll in der Hinsicht wirklich wehtun und an die Substanz gehen.
Ist es eurer Meinung nach als deutsche Band mit englischsprachigen Texten und internationalem Ansatz schwieriger, breite Aufmerksamkeit zu erlangen?
Mit Sicherheit. Wir haben das Glück, außerhalb Europas angekommen zu sein und konnten so u.A. schon in den USA, Australien und auch Russland touren, was großartig ist. Aber dennoch haben es da besonders amerikanische Bands einfacher. Selbst innerhalb Deutschlands schielen die Leute hauptsächlich auf das, was in Amerika passiert. Das gilt leider nicht nur für Fans, sondern auch für die Musiker-Szene hier und so gibt es immer eine Menge einfallsloser Plagiate von amerikanischen bzw. internationalen Erfolgsformeln. Und daraus ergibt sich dann wiederum der Teufelskreis, der die Fans eben auch hauptsächlich gleich auf internationale Bands schielen lässt, statt sich hier umzuhören. Das die deutsche Szene davon langfristig kaum profitieren wird, ist klar… und das sieht man ja auch. Es gibt nur wenige Bands, die es hier mal raus schaffen. Ein paar Ausnahmen gibt es natürlich immer mal, aber im Großen und Ganzen ist es definitiv schwer für deutsche Bands. Wenn es hier nicht mehr Innovations- und Individualitätswillen gibt in Zukunft, wird sich das wohl leider auch kaum ändern.
Und zu guter Letzt: Wie, falls überhaupt, kann sich die Menschheit noch selbst retten?
Grundsätzlich habe ich das Gefühl, dass die Menschheit eine gewisse intellektuelle Regression durchmacht und das es schonmal Zeiten gab, in denen wir aufgeklärter waren. Die Massenmedien verdummen uns mit ihren Formaten jeden Tag ein bisschen mehr, korrigieren das Niveau Stück für Stück nach unten – und die Leute fressen es widerstandslos. Das Phänomen erstreckt sich mittlerweile locker bis in viele Subkulturen, die früher ja eher ein Fluchtpunkt vor der breiten Masse und den Mechanismen der Mainstream Medien waren. Das sieht man z.B. ganz gut daran, dass die Metalcore Szene mittlerweile Eurodance mit Breakdowns und durchchoreographierter Bühnenshow richtig abfeiert, garniert von Texten auf Ballermann-Niveau. Und das ist schon das niedrigste Niveau, das die Popkultur überhaupt je erreicht hat. Es ist, als wenn sich diese Freiräume und ihr Anspruch nach Individualität, Abgrenzung oder im besten Falle auch noch Intellektualität nach und nach zersetzen, weil die Leute einfach irgendwann zu faul werden, weiter gegen den Strom zu schwimmen. Was wiederum auch politisch eine haarige Sache werden kann oder schon ist, da eine Gesellschaft wie diese leichter zu beeinflussen und zu steuern ist. Wenn es nicht irgendwann einen Aufschrei gegen diese Phänomene gibt, gesellschaftlich, medial und politisch, kann sich die Menschheit auch nicht retten.
Keine Frage: WAR FROM A HARLOTS MOUTH gehen mit offenen Augen durch die Welt, haben eine Vision und wissen, was sie wollen. Gerade in der Kunst, wo es oft nur noch um schlichte Unterhaltung geht, ein selten gewordenes Phänomen.
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