Vyre
Invertierte Sonne und das Imperium der Bärtierchen
Interview
Vier Jahre nach dem zweiten Teil des Konzept-Doppelalbums „The Initial Frontier“ melden sich die Bielefelder Sci-Fi Metaller VYRE zurück und legen ein neues Album hin. „Weltformel“ ist nicht nur auf den ersten Blick wissenschaftlicher und weniger an Raumfahrtthematiken orientiert, sondern auch klanglich komplexer, weniger zugänglich. VYRE-Keyboarder Doc stand metal.de Rede und Antwort zur Entdeckung und Veröffentlichung der „Weltformel“.
VYRE-Keyboarder Doc im Interview zu „Weltformel“
Moin moin Doc!
Hallo Stephan – zunächst einmal danke ich dir für die Gelegenheit, „Weltformel“ auch im Rahmen dieses Interviews einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen.
Nun ist ja nicht nur metal.de verspätet mit „Weltformel“ dran, auch VYRE haben eure Fans ein wenig warten lassen: Nachdem eure ersten beiden Alben 2013 und 2014 innerhalb eines Jahres erschienen sind, dauerte es danach rund vier Jahre, bis „Weltformel“ zu hören war. Was lief denn diesmal anders, dass es so lange gedauert hat?
Die ersten beiden Alben, die unter dem Titel „The Initial Frontier“ eine abgeschlossene Duologie darstellen, sind im Wesentlichen deshalb so kurz hintereinander erschienen, weil die Musik beider Teile bereits fertig war, als wir uns auf Label-Suche begeben haben. Weite Teile des Materials waren damals für (G)EIS(T) und den Nachfolger zu „Galeere“ vorgesehen, doch nach dem Split der Band 2011 war klar, dass diese Musik unter neuem Namen an die Öffentlichkeit kommen müsste. Also haben wir mit Demo-Versionen einiger Songs unter dem Namen VYRE die Label-Suche gestartet und haben mit Supreme Chaos Records einen erstklassigen Partner gefunden.
Nachdem die beiden Teile von „The Initial Frontier“ dann im Kasten waren und auf ihre Veröffentlichung warteten, haben wir uns in erster Linie auf die Umsetzung der Musik auf den Bühnen dieser Welt konzentriert – durch die Besetzungswechsel, die uns am Anfang unserer Existenz unter dem Namen VYRE ereilten, war das eine Menge Arbeit. Insbesondere die Live-Umsetzung der sinfonischen Elemente – die auf den beiden ersten Alben von Martin Wiese (ENID) stammten – hat eine Menge Zeit und Kraft gekostet. Vielleicht gab es deshalb nach der Veröffentlichung des zweiten „The Initial Frontier“-Teils eine Art „Schreibblockade“ – es hat jedenfalls eine ganze Weile gedauert, bis Hedrykk und KG Cypher wieder kreativ wurden und erste Ideen für neue Songs auf den Weg brachten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass wir uns nach der Loslösung von (G)EIS(T) ein wenig „finden“ mussten, da der schwarzmetallische Rahmen, der die Arbeiten bei (G)EIS(T) zweifellos enorm geprägt hatte, verschwunden war und wir mit dieser neuen „Freiheit“ erst umzugehen lernen mussten.
Anders als bei den vorherigen beiden Alben war es bei „Weltformel“ auch so, dass die mittlerweile gefestigte Besetzung dieses Mal von Anfang an in den Songwriting-Prozess, in die Arrangements – kurz: in die Vision hinter „Weltformel“ – eingebunden war, was bei einer zwischenzeitlich neunköpfigen Band gar nicht so einfach war und dementsprechend auch seine Zeit gedauert hat. Schließlich haben wir uns sehr viel Zeit genommen, die Details der Songs weiter auszuarbeiten und so schon vor den eigentlichen Aufnahmen die finalen Arrangements unter Dach und Fach zu bringen.
Was an „Weltformel“ im Vergleich zu den „The Initial Frontier“-Teilen direkt auffällt, ist, dass das neue Album viel mehr Zeit braucht – während die ersten beiden Alben (zumindest mir) direkt ins Ohr gingen, war ich beim ersten „Weltformel“-Durchlauf regelrecht enttäuscht, wie wenig hängen blieb. Das legte sich von Durchlauf zu Durchlauf, und im Gespräch in Münster sagtest du, dass euch das durchaus bewusst ist. Wie kam es denn dazu? War es das, was das Material hergab, als es schon da war, oder hattet ihr es von Anfang an geplant, ein komplexeres, dafür aber weniger eingängiges Album zu schreiben?
Ich würde nicht sagen, dass „Weltformel“ ein so komplexes Album ist. Wie du schon richtig bemerkt hast, habe ich vor ein paar Monaten, als wir uns beim CULTHE FEST in Münster unterhalten haben, darauf hingewiesen, dass das Album ein „Grower“ ist. (Und ich danke dir dafür, dass du meinen Rat beherzigt und dem Album ein paar Extra-Durchläufe gegönnt hast!) Für mich persönlich liegt das aber gerade daran, dass „Weltformel“ in meinen Augen weitaus weniger komplex ist als die beiden „The Initial Frontier“-Teile. Tatsächlich hatte ich ganz am Anfang der Arbeiten, als lediglich die grobe Struktur der Songs stand, das Gefühl, dass diese sehr langatmig und repetitiv sind. Erst nach und nach wurde mir bewusst – und da muss ich ein ziemlich ausgelutschtes, geflügeltes Wort bemühen –, dass „Weltformel“ mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. In meinen Ohren entfaltet sich die atmosphärische Dimension des Albums nicht ganz so schnell wie auf den Vorgängern, ist weniger direkt – aber dafür unaufhaltsam, sobald man den atmosphärischen Faden einmal in der Hand hält.
Ich hatte ja eben schon erwähnt, dass wir uns nach der Veröffentlichung der „The Initial Frontier“-Duologie ein wenig „finden“ mussten, da der durch (G)EIS(T) gesteckte musikalische Rahmen nicht mehr vorhanden war – das hat meiner Meinung nach dazu geführt, dass wir die Songs anders „gefüllt“ haben: In ihrer grundsätzlichen Struktur sind die Songs relativ einfach gehalten, aber gerade dadurch lassen sie viele Freiräume, die wir dann während der Songwriting-Phase mit deutlich mehr Verzierungen gefüllt haben als zu „The Initial Frontier“-Zeiten. Vielleicht sind es diese eher mikroskopisch wirksamen Details, die das Album so komplex wirken lassen – denn „The Initial Frontier“ war sehr „makroskopisch“. Rückblickend denke ich, dass „For Carl“, das tatsächlich das letzte für „The Initial Frontier“ geschriebene Stück ist, einen ersten Vorgeschmack dieser Umorientierung darstellt.
Die Erfahrung mit Freunden der Band, die vorab Auszüge von „Weltformel“ anhören durften, bestätigen diese Einschätzung – und auch viele Rezensionen deuten an, dass man sich etwas länger mit „Weltformel“ beschäftigen muss, um den atmosphärischen Zugang zu finden.
Was würdest du sagen, macht dieses Album so komplex und den Einstieg in dasselbe so schwierig? Sprich, mit welchen Elementen habt ihr gearbeitet, um diesen Eindruck entstehen zu lassen?Wie schon gesagt finde ich das Album gar nicht so komplex – dass der Einstieg so schwierig ist, liegt meines Erachtens in erster Linie daran, dass wir mit „Weltformel“ eine andere, weniger direkte atmosphärische Dimension aufspannen; interessanterweise ist das kein Resultat einer bewussten Absicht, sondern vielmehr etwas, das sich beim Schreiben und Arrangieren der Songs herauskristallisiert hat. Für uns alle ist im Laufe der Entstehung von „Weltformel“ die bloße musikalische Ebene in den Hintergrund getreten und hat – und es ist beinahe ironisch, dass ich eben von „mikroskopischen“ Verzierungen gesprochen habe – Platz gemacht für das größere Bild, von dem wir alle mehr oder weniger überrascht waren. Ich weiß noch genau, wie ich – während ich an den Synthesizer-Spuren gearbeitet habe – irgendwann dachte: „Verdammte Scheiße, ist das Material stark …“ (Ich darf das sagen – ich habe nämlich außer dem Intro „Alles auf Ende“ die Songs nicht geschrieben, sondern nur weiter „ausgeschmückt“!)
Während die beiden „The Initial Frontier“-Alben ja in erster Linie auf die Raumfahrt-Thematik ausgelegt waren, beschäftigt sich „Weltformel“, zumindest dem Namen nach, mit physikalischer und mathematischer Theorie: Die Weltformel meint ja nämlich die (theoretische) Verknüpfung aller bekannten Theorien zu einer einzigen, physikalischen Beschreibung der Wirklichkeit. Wie kamt ihr auf dieses Thema, und ist das ein übergreifendes Thema des Albums? Oder ist die Platte gar kein Konzeptwerk?
Die Raumfahrt-Thematik ist sicher nicht ganz verschwunden – „Tardigrade Empire“, „We Are The Endless Black“ und „Away Team Alpha“ greifen das Thema mehr oder weniger explizit auf. Tatsächlich nimmt der Begriff „Weltformel“ aber natürlich Bezug auf mehr als nur kosmologisch interessante Themen. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Begriff nicht nur auf die Vereinheitlichung von physikalischen Theorien (GUT – grand unified theory, du nennst in deiner Rezension ja die Quantengravitation als Beispiel) beziehen, sondern auch auf gesellschaftliche Fragestellungen, die einer deterministischen Weltsicht zufolge eben auch durch eine vereinheitlichte Theorie erklärt werden könnten (zu diesem Thema gibt es einen sehr spannenden Roman von Cixin Liu, „Der Spiegel“, den ich jedem Sci-Fi-interessierten Leser nur empfehlen kann). Mich als Naturwissenschaftlicher fasziniert natürlich in erster Linie die Vereinheitlichung von grundlegenden naturwissenschaftlichen Theorien – auch, weil ich keine deterministische Weltsicht pflege (bzw. mich nicht der möglichen Illusion des freien Willens berauben lassen möchte); ich finde es aber unabhängig von dieser Determinismus-Diskussion ungemein spannend, die Parallelen und Schnittpunkte zwischen diesen beiden Ebenen zu beleuchten.
Andererseits würde ich aber nicht so weit gehen, „Weltformel“ als Konzept-Album zu bezeichnen – sicherlich hat jeder Song einen konkreten Bezug zum Album-Titel, aber wir erzählen keine zusammenhängende „Geschichte“.
Ich würde gerne noch etwas näher auf die Texte der Platte eingehen: Als erstes sticht der Titel „Tardigrade Empire“ ins Auge, also „Imperium der Wasserbären“ – erläutere doch bitte, was ihr damit meint und wie man auf eine solche Idee kommt.
Die Tardigrada oder Bärtierchen werden auch als „Wasserbären“ bezeichnet, was aber etwas irreführend ist. Die Kern-Idee hinter diesem Song ist die Beobachtung, dass Tardigrada die resilienteste bekannte mehrzellige Art im Tierreich sind: Durch so genannte Kryptobiose sind diese Tiere in der Lage, extreme Umwelt-Bedingungen (Sauerstoffmangel, extreme Temperaturen, kosmische Strahlung etc.) zu überdauern. Man mag zu der Ansicht neigen, dass der Mensch die „Krone der Schöpfung“ sei – und in der Tat sind Menschen einem Großteil des Tier- und Pflanzenreichs dadurch überlegen, dass sie sehr intelligent und dadurch extrem anpassungsfähig sind –, aber den Tardigrada sind wir hoffnungslos unterlegen. Wenn der Planet Terra sich irgendwann aufmacht, den Kosmos zu erforschen, dann sollte er zusehen, dass er eine Menge von den Tardigrada lernt – oder direkt ein „Tardigrade Empire“ losschicken …
Galerie mit 6 Bildern: Vyre - Culthe Fest 2018 - MünsterMehr zu Vyre
Band | |
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Stile | Ambient, Avantgarde, Melodic Black Metal, Progressive Black Metal |
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