Thulcandra
"Wir bleiben in unserem selbst gesteckten Rahmen."
Interview
Nach sechs Jahren Studiopause haben die Black-Deather THULCANDRA jüngst ihr viertes Studioalbum „A Dying Wish“ veröffentlicht. Als eine von wenigen Bands trauten sie sich auch direkt, trotz Corona eine Release-Tour auf die Beine zu stellen. Die Kollegen von THE SPIRIT fielen zwar kurzfristig für das erste Leg aus, doch THULCANDRA ließen sich nicht beirren und zogen die Termine mit einem Ersatzprogramm durch. Wir haben Fronter Steffen Kummerer beim Konzert getroffen und uns allerlei über „A Dying Wish“ und die ewigen DISSECTION-Vergleiche erzählen lassen.
Hi Steffen, erst einmal vielen Dank für das Interview! Auch wenn es hier eigentlich nur um THULCANDRA geht, fällt auf, dass du mit OBSCURA fast zeitgleich ein Album veröffentlichst. Ich nehme mal an, du hast auch gleichzeitig daran gearbeitet. Wieso der doppelte Stress? Das letzte THULCANDRA-Album ist schon eine Weile her, da wäre es auf mehr oder weniger doch auch nicht mehr angekommen, oder?
Steffen: Das hat damit zu tun, dass die OBSCURA-Platte sechs Monate eher hätte aufgenommen werden sollen. Das hat aber nicht funktioniert, da wir durch Reisebeschränkungen nicht ins Studio gehen konnten. Der ursprüngliche Studiotermin musste verlegt werden, weil wir nicht im selben Land leben. OBSCURA sind über die Niederlande, Österreich und Deutschland verteilt. So hat sich blöderweise eine terminliche Überschneidung ergeben, aber wir haben das eigentlich ganz gut gehandhabt.
Ich arbeite immer projektbezogen. Ich schreibe nicht parallel für beide Bands, sondern habe erst die komplette OBSCURA-Platte geschrieben und durchproduziert und danach THULCANDRA. Warum auch immer hat es sich dann aber so ergeben, dass die THULCANDRA-Platte, obwohl sie viel später abgegeben wurde, dann auch noch früher kommt. Es gibt manchmal solche Zufälle. Aber das Schöne ist: Ich habe die Bands immer extrem voneinander getrennt und nie Crossover-PR gemacht, aber jetzt gibt es mittlerweile ganz viele überraschte THULCANDRA-Fans, die sehen, dass es da auch eine andere Band gibt. Die meisten THULCANDRA-Fans haben bisher noch keine Berührungspunkte mit OBSCURA gehabt, obwohl ich beide Bands seit fast 20 Jahren betreibe.
Und das kam jetzt so plötzlich und ist vorher nie so aufgefallen?
Steffen: Wir haben 2020 zum ersten Mal – wahrscheinlich auch zum letzten Mal – eine Tour mit beiden Bands gespielt. Das heißt, ich habe beide Shows an einem Abend gespielt. Es war sehr witzig, aber auch anstrengend. Und da gab es dann natürlich durchaus Überschneidungspunkte.
Wie kam es denn zu dieser langen Pause zwischen den THULCANDRA-Alben?
Steffen: Da gab es eigentlich mehrere Gründe. Der erste war, dass wir für „Ascension Lost“ mehr live gespielt haben als vorher. Wir haben drei Europatouren gespielt. Eine sehr lange, 2020, und zwei kürzere, mit DØDHEIMSGARD und SECRETS OF THE MOON, und eine Co-Headlinertour mit NAILED TO OBSCURITY. Das war sehr witzig. Das war der eine Punkt, wir haben sehr, sehr viel live gespielt.
Wir haben aber auch Lineup-Änderungen gehabt. Die Zwillinge, die bis 2016/2017 dabei waren, haben aufgehört, Metal zu hören, und sind auch in verschiedene Ecken in Deutschland gezogen. Einer Richtung Saarbrücken und der andere Richtung Bremen. Um neue Leute zu finden, braucht man auch erstmal Zeit. Dann ist zu guter Letzt unser Bassist noch verstorben. Der hatte einen Autounfall – beziehungsweise, er war auf dem Fahrrad und das Auto hat den Unfall verursacht – und das hat dann auch erstmal Motivation gesaugt. In Summe waren dann sechs Jahre um.
Gibt es zu „A Dying Wish“ denn etwas Besonderes zu berichten? Zum Prozess, Hürden, oder Pannen?
Steffen: Pannen gab es eigentlich überhaupt keine. Es war, obwohl wir vieles anders gemacht haben als vorher, sehr entspannt. Wir haben zum ersten Mal mit Dan Swanö gearbeitet, der im Grunde den ganzen musikalischen Bereich, in dem wir uns bisher bewegt haben, geprägt hat. Er hat fast alles für No Fashion Records und War Anthem produziert, also zum Beispiel DISSECTION, UNANIMATED, SACRAMENTUM, und hat zum ersten Mal für uns gemixt und gemastert. Das ist ein Schwede, der jetzt in Deutschland wohnt, eine Koryphäe vor dem Herrn.
Den Namen kennt man ja von einigen Platten.
Steffen: Ja. Ich glaube, jeder, der Metal hört, hat zehn Alben, die er produziert hat, zuhause und schätzt sie auch sehr. OPETH, BLOODBATH, KATATONIA, Querbeet. Das war sehr, sehr witzig. Mit dem wollte ich schon ewig zusammenarbeiten, es hat sich aber nie ergeben. Wir haben ihm gesagt, welche Art von Vorstellung wir haben, er hat einen Mix gemacht, und der hat gesessen [lacht].
Deshalb war „A Dying Wish“ auch so schnell fertig.
Steffen: Ja, wirklich. So schnell ging das noch nie. Wir haben leider nicht die Möglichkeit gehabt, bei ihm aufzunehmen. Er mischt und mastert nur. Er hat kein Recordingstudio in dem Sinne, sondern nimmt alle Files zu sich, arbeitet damit und schickt dir dann das Ergebnis. Dann korrespondiert man, bis es passt. Wir hatten, glaube ich, zwei, drei kleine Änderungen.
Das Schöne an der ganzen Sache war, dass wir nichts poliert haben. Es gab wenige Takes bei allen Instrumenten, und wir haben das nicht in den Grid reingezogen, wir haben es nicht alles durcheditiert, sondern haben es relativ roh belassen. Das macht, glaube ich, den Charme des Albums aus. Das ist ziemlich konträr zu dem, was wir bisher gemacht haben. Da war alles sehr genau, vielleicht schon zu genau für die Art von Musik. Jetzt ist das ein bisschen aufgebrochen, und das finde ich sehr charmant.
Also im Grunde dieses Rohe, das man von damals aus den 90ern und den prägenden Bands kennt.
Steffen: Mhm. Also, das Ziel war einfach, dass wir mehr Livesound einfangen, gleichzeitig aber auch zeigen, dass wir eine richtige Band sind. Wir sind nicht irgendein Kunstprojekt oder irgendein Soloprojekt oder Studioprojekt, sondern ich wollte rauskitzeln, dass da vier Musiker zusammen wahnsinnig viel Freude haben, die Art von Musik zu spielen. Und dass so kleine Schnitzer und Ungenauigkeiten eigentlich genau den Charakter ausmachen.
Das macht heutzutage kaum noch jemand. Das ist ziemlich konträr zu den meisten Produktionen, die man so hört. Da denkt man so, ja, das Drumsample hab‘ ich schon mal gehört, und der Gitarrensound ist wahrscheinlich auf dieser und jener Soundbank [lacht]. Machen wir nicht. Wir gehen da einen extrem anderen Weg. Das kommt auch sehr gut an, laut des Feedbacks, das wir bisher bekommen haben. Gerade zu der ungewohnten Produktion. Die macht sehr viel davon aus, dass es den Leuten gefällt. Weil du halt hörst, dass da richtige Leute spielen.
Galerie mit 20 Bildern: Thulcandra - A Dying Wish Tour 2021 in MörlenbachDISSECTION hattest du schon erwähnt, und aus eurer Huldigung macht ihr ja keinen Hehl. Ich verlese mal einen Auszug aus einem (übrigens positiven) Leserkommentar, den wir unter der Review zu „A Dying Wish“ haben. „Ich meine, technisch ist das ja voll auf der Höhe. Aber ich frage mich, warum man als Band nicht mehr Bock auf Eigenidentität im Sound hat.“ In einem Interview vor rund zehn Jahren hattest du schon gesagt, ’nö, wollen wir gar nicht, wir wollen das genau so machen‘. Wie ist das denn mittlerweile?
Steffen: Es hat sich nichts geändert. Wir haben die Band 2003 gegründet und in dem Rahmen, in dem wir uns bewegen, werden wir uns auch weiter bewegen. Auch die nächsten fünf Alben werden ein blaues Cover haben und in der Richtung klingen. Die Vergleiche sind mir relativ egal. In dem Bereich ist die größte Band, die es gibt oder gab, DISSECTION. Das waren die Einzigen, die wirklich mehr oder weniger weltweit getourt sind, in Nordamerika waren, in Europa waren. Alle anderen aus dem Genre waren vielleicht mal in Zentraleuropa, wenn es gut lief. Aber das war’s auch. Die waren nie so populär.
Das heißt, im Umkehrschluss müsste ich alle Death-Metal-Bands, die sich heute gründen, fragen, warum sie nach CANNIBAL CORPSE oder MORBID ANGEL klingen. Alle Thrash-Metal-Bands fragen, warum klingt ihr wie SLAYER oder METALLICA? Wir machen diesen Sound und wir ändern da auch nichts dran. Und das seit fast 20 Jahren. Wenn man uns mit den Bands vergleicht, ist das ganz nett. Also nicht bloß DISSECTION, sondern auch UNANIMATED. Der Punkt ist, wir haben jetzt vier Alben und eine Demo/EP. Uns gibt es schon länger als all die Bands. Wir sind länger dabei, wir haben mehr Alben veröffentlicht und sind seitdem aktiv geblieben.
Wo habt ihr euch auf „A Dying Wish“ (trotzdem) neue Räume geschaffen? Was habt ihr anders gemacht als bisher oder auch im Vergleich zu euren Vorreitern? Mal abgesehen von dem neuen Sound, den du schon erwähnt hattest.
Steffen: Was das rein Musikalische angeht, haben wir auch ganz viel geändert. Auf „Ascension Lost“ hatten wir eine ganz klare Arbeitsteilung. Ich habe mich um die komplette Musik gekümmert und unser damaliger Gitarrist hat alle Texte geschrieben und ein Konzeptalbum ausgearbeitet. Das war ganz klar strukturiert. Dieses Mal war es komplett anders. Wir hatten zwei andere Songwriter mit dabei und es war eine Kollektivarbeit. Und die beiden haben einfach ganz andere Einflüsse und Ansätze. Unser Gitarrist zum Beispiel hört ganz viel aus der Norwegen-Ecke, also viel Black Metal, aber auch Post-Black Metal. Unser Bassist hat sehr viel Melodeath gehört. Und das Ganze ist dann mit reingekommen. Wir haben teilweise Doom-Parts, wir haben von der Charakteristik her auch andere Sachen zu bieten. Aber: Wir bleiben in unserem selbst gesteckten Rahmen. Aber grundsätzlich sehe ich schon viele Unterschiede. Also ich zumindest [lacht].
Wir haben ein paar Songs dabei, die sind wahnsinnig schnell, also richtig dunkel. Das geht eigentlich schon in den reinen Black Metal über. Wir sind Grenzgänger. Wir sind irgendwie überall daheim und doch nirgends. Wir haben zum Beispiel auch viel mehr Twin-Gitarren. MAIDEN, klassischer Heavy Metal und so weiter. Es funktioniert aber, es macht Spaß. Wer weiß, wie die nächste Platte wird. Ich weiß es nicht. Vielleicht mehr Akustikgitarren? Vielleicht gar keine? Schauen wir mal.
Was du selbst schon angedeutet hast, ihr seid länger dabei als die meisten Bands, auf deren Sound ihr euch bezieht. Trauerst du der Ära ein wenig nach? Einige der Bands gibt es nicht mehr, andere haben ihren Sound geändert. Dafür kommen andere nach. Ihr zum Beispiel, oder auch THE SPIRIT. Wie siehst du die Entwicklung?
Steffen: Ich finde, es ist immer noch eine ganz, ganz, ganz, ganz kleine Nische. Wenn man sich in dem Bereich irgendwo festlegt, kommt immer der DISSECTION-Vergleich. Aber es gibt tatsächlich einige wirklich coole Bands, die nachkommen. Ich hab‘ dieses Jahr THRON kennengelernt, aus Süddeutschland. Eine Mischung irgendwo zwischen WATAIN und DISSECTION, aber sehr eigen, sehr cool. THE SPIRIT, super Beispiel, klasse Band, coole Leute. Deshalb haben wir die auf unsere Tour eingeladen. Und THRON haben wir auch noch nach München und nach Freiburg eingeladen. Mir selbst macht der Stil wahnsinnig viel Spaß. Ich freue mich über neue Bands genauso wie über coole Re-Releases von alten Alben. Manche Plattenfirmen stecken ganz viel Arbeit und Budget in ästhetisch wunderschön aufgemachte Re-Issues. Und es gibt auch alte Bands, die immer noch was Neues bringen. UNANIMATED haben jetzt wieder was Neues gemacht.
Wir hatten es am Anfang ja kurz über THULCANDRA und OBSCURA. Das sind recht unterschiedliche Stile. Hast du manchmal nur Bock auf das eine oder Bock auf das andere? Ist das für dich eine Art Ausgleich?
Steffen: Ich brauche beides, um in Balance zu bleiben. OBSCURA ist komplett konträr zu allem, was THULCANDRA machen. THULCANDRA hat eher die Proberaumromantik. Man trifft sich mit Freunden, mehr oder weniger regelmäßig, und macht nicht bloß Musik, sondern trinkt auch ein Bierchen zusammen, und spielt Konzerte. Aber wir haben jetzt keinen großen Masterplan. Wir haben nicht die Möglichkeit, eine Touring-Band zu werden. Deswegen hat uns „A Dying Wish“ auch so viel Zeit gekostet, weil wir vorher relativ viel live gespielt haben. Wir haben nicht so viel Zeit zur Verfügung. Die anderen drei Musiker haben reguläre Jobs, ich bin der einzige Berufsmusiker. Da bleibt halt nicht mehr viel Zeit.
OBSCURA dagegen; davon lebe ich, und wir spielen pro Album 100-150 Konzerte. Das ist einfach anders. Jede Bandprobe ist eher wie Projektmanagement angelegt [lacht]. Jeder Ton wird 200 Mal umgedreht, bevor er irgendwo an den richtigen Ort kommt. Bei THULCANDRA ist viel spontan. Das gleicht sich wirklich aus. Die beiden Bands haben ganz unterschiedliche Ansprüche, aber es macht beides unfassbar viel Spaß. Ich bin mit beiden Stilen groß geworden, also bei THULCANDRA der ganze Black-Metal-Bereich, aber auch mit dem eher Anspruchsvollen wie bei OBSCURA. Und mir macht beides Spaß. Ich finde das schön. Deshalb gibt es auch beide Bands so lange. Wenn es keinen Spaß machen würde, hätte ich schon längst aufgehört. Ich bin also ein völliger Enthusiast [lacht].
Das ist auch schön zu sehen. Wenn man mit Spaß dabei ist, springt das auch über.
Steffen: Ich bin über die Jahre immer auch Fan geblieben. Das ist das Schöne. Ich suche mir immer noch Konzerte raus und denke, oh cool, da muss ich jetzt unbedingt hin. Oder wenn ich neue Bands entdecke, wie THRON, oder THE SPIRIT vor ein paar Jahren. Es ist genau wie vor 20 Jahren, wo man zum ersten Mal „Human“ von DEATH gehört hat. Per Zufall, weil ein Freund die CD hatte.
Wie geht es bei THULCANDRA denn jetzt weiter?
Steffen: Wir spielen jetzt die Release-Tour mit vier oder fünf Blöcken, bis Mitte 2022. Und dann schauen wir. Entweder wir spielen noch mehr live oder wir arbeiten ein neues Album aus. Das lassen wir uns offen. Die Tour dann hoffentlich mit THE SPIRIT [lacht].
Wir danken für das Interview!