The Hirsch Effekt
Interview mit THE HIRSCH EFFEKT zu "Holon:Anamnesis"
Interview
Die Hannoveraner THE HIRSCH EFFEKT haben schon beim Erscheinen ihres ersten Albums „Holon:Hiberno“ für ein ehrfürchtiges Raunen in der deutschen Musiklandschaft gesorgt und viele Rezensenten mit ihrem wilden Stilmix in schwere Erklärungsnot gebracht. Die Erwartungen an das zweite Album waren demnach naturgemäß hoch. Mit „Holon:Anamnesis“ setzen die Hirsche aber sogar noch einen drauf und entwickeln ihren Sound weiter. Wir trafen das Trio vor ihrem Auftritt im Reutlinger Club Franz K., um über das neue Album zu sprechen.
Das Gefühl ihren eigenen Sound weiterentwickelt zu haben, stellte sich bei Sänger Nils allerdings erst später ein: „Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich relativ unsicher war, ob die Leute, so scheint zumindest der Tenor zu sein, das Album als Weiterentwicklung wahrnehmen. Das hätte ich vor der Veröffentlichung so nicht unterschrieben. Als ich die aufgenommene Fassung zum ersten Mal ganz gehört habe, da dachte ich dann auch, dass es noch mal eine Ecke krasser oder besser ist. Aber ich habe lange während des Entstehungsprozesses daran gezweifelt, ob wir noch mal an das alte Album ran kommen, weil ich fand, dass die Songs oft mehr Witz haben.“
Zuerst war auch nicht ganz klar, wohin die Reise gehen soll. Schließlich entsteht bei vielen Bands die erste Platte über einen größeren Zeitraum. Quasi ein Best-Of aus Songs und Erfahrungen. „Ich habe mich lange Zeit gefragt, worüber ich eigentlich als Nächstes schreiben soll?“, gesteht Nils, der für die Texte der Band verantwortlich ist. „Ich hatte auch ein bisschen das Gefühl, dass ich schon alles verbraten hatte was ich so erlebt habe. Dann hat sich aber in meiner eigenen Biografie von selber ergeben, worum es auf dem nächsten Album gehen soll. Dann habe ich in mein Notizbuch geschaut und es gab genug Texte, um daraus ein Album zu machen.“ Diese wurden dann mit wenigen Ergänzungen später zu einer Geschichte geformt, die chronologisch im Laufe des Albums erzählt wird. „Die Story, die jetzt erzählt wird, erinnert mich sehr an das, was auf dem ersten Album schon erzählt wurde.“ Daraus ergibt sich ein natürlicher Anknüpfungspunkt an das erste Album. Dieser Rückbezug wird nicht nur ganz bewusst im Titel wieder aufgenommen, sondern auch musikalisch umgesetzt: „Es werden irgendwo Harmonie aufgegriffen oder auch Melodien, die daran erinnern sollen. Das war eine ganz bewusste Entscheidung.“
Vielmehr stellten sie sich die Frage was man aus dem Songwriting zur ersten Platte lernen könne und unterwarf die neuen Stücke einer ständigen Prüfung indem die vorhandenen Aufnahmen während dem Songwriting-Prozesses immer wieder zwischen gehört wurden. „Tatsächlich bin ich mit der Vorstellung ran gegangen die Stücke erst dann als fertig anzusehen, wenn man das Gefühl hat, es ist ein Lied entstanden, das schlüssig ist“, erklärt Drumer Philipp die Herangehensweise. Doch wann ist ein Song fertig? Wann ist er „rund“? Eine Frage, die sich irgendwann jeder Musiker stellt und auf die Philipp eine recht einfache Antwort parat hat: „Das kann man auch nicht an irgendwelchen Faktoren oder Parametern festmachen, das ist für mich halt so eine Gefühlssache und ich glaube die anderen waren damit aber auch immer d’accord.“
Da ist es mit nur drei Meinungen in der Band einfacher, auf einen Nenner zu kommen. Was die Hirsche als klaren Vorteil sehen, da man weniger Kompromisse eingehen muss und so näher an die ursprüngliche Vision der eigenen Musik kommt. Und auch live bleibt es bei der Dreier-Besetzung. Ein weiterer Gitarrist, um Nils zu entlasten, der gleichzeitig singt, Gitarre spielt und sich um die Loops und Samples kümmert, steht für Ilja nicht zur Debatte: „Wir sind halt die Band. Wir schreiben die Musik zum größten Teil so, dass es eigentlich mit der Liveband möglich ist. Mir fallen da spontan wenige Stellen ein, die einen zweiten Gitarristen nötig machen würden. Ich finde, dass macht bei uns keinen Sinn. Wir bräuchten ein riesiges Orchester. Das stimmt. Aber das kann man leider nicht organisieren.“ Da werden der Band finanziell klare Grenzen gesetzt.
Als weitere Konsequenz der ständigen Selbstreflexion wurde auch die Fragmentierung der einzelnen Songs, wie sie noch auf „Holon:Hiberno“ vorgenommen wurde, über Bord geworfen. Ein Versuch dem Hörer den Einstieg in die komplexen Stücke zu erleichtern, den Nils aber rückblickend als eher irritierend für den Hörer ansieht: „Viele Leute haben das als drei unterschiedliche Songs wahrgenommen haben, die aber dann doch wieder ein Ganzes sein sollen. Wir hatten das Gefühl, dass es die Hörgewohnheiten so sehr stört und das Ganze noch schwerer zu fassen macht und uns dagegen entschieden.“ Auch schien es nicht mehr in das Gesamtkonzept der Platte zu passen, das Ilja so erklärt: „Es gibt nur diese neun verschiedenen Welten, Themengebiete oder Stationen auf dem Album. Irgendwann schien es aus meiner Sicht nicht mehr richtig einen Track zu unterteilen. Das ist das Thema. So heißt der Track und so lang geht er. Punkt.“
Doch nicht nur musikalisch und konzeptionell sind THE HIRSCH EFFEKT einen Schritt weitergegangen, sondern auch produktionstechnisch wurde auf „Holon:Anamnesis“ noch mal ordentlich nachgelegt. Waren beim Vorgänger noch 17 Gastmusiker involviert, waren es jetzt 32, die in drei verschiedenen Studios beziehungsweise Locations aufgenommen wurden. Ein ziemlicher logistischer und finanzieller Aufwand. Eigentlich. Wäre da nicht das Produzenten-Team um Tautorat und Max Trieder gewesen, ohne die, räumt Philipp ein, eine so große Produktion kaum realisierbar gewesen wäre: „Es war für uns eine glückliche Situation, weil das ohne großen finanziellen Aufwand geschehen ist, da Tim und Max die Möglichkeit hatten über die Musikhochschule Detmold Musiker zu rekrutieren, die alles eingespielt haben, was nicht Band und nicht Chor ist. Und für den Chor haben wir dann Leute aus unserem Bekanntenkreis rekrutiert.“
Auch für die Finanzierung des Tourvideos, welches momentan gedreht wird, hat sich das Trio eines kleinen Kunstgriffes bedient. Man startete über alle
Das immer mehr Bands einen solchen Aufruf starten, um beispielsweise auf Tour gehen zu können oder ein Album zu produzieren, sieht Nils aber nicht als Symptom einer krankenden Musikindustrie, sondern als Verlagerung des Marktes: „Ich glaube auf jeden Fall, dass weniger durch Plattenverkäufe passiert und deshalb andere Wege gefunden werden müssen, um so etwas zu finanzieren. Unser Tourvideo ist ein ganz gutes Beispiel dafür, dass es andere Möglichkeiten gibt. In dem wir zum Beispiel die „Fans“ mehr in das Ganze mit einbinden. Der ökonomische Aspekt ist ja auch, dass du vorher den Markt prüfst, ob eigentlich genug Nachfrage für das Produkt da ist, welches du herstellen möchtest. Wenn es nicht genug Leute gegeben hätte, die das interessiert, hätten wir den Film nicht gemacht.“
THE HIRSCH EFFEKT zählen ohne Zweifel zu einer der produktivsten und musikalisch interessantesten Truppen, die es hierzulande gibt. Das wird auch klar, nachdem Nils die weiteren Pläne der Band umreißt: „Nach der Tour ist vor der Tour. Wir sind fast bis zum Jahresende jedes Wochenende irgendwo unterwegs. Das Tour-Video kommt. Außerdem erarbeiten wir mit einer Tänzerin aus Hamburg zusammen ein Stück. Wir werden die Musik dazu erarbeiten. Sie wird dazu tanzen. Dafür gibt es Fördermittel von der Stadt Hamburg, die bereits bewilligt worden sind. Das hat die Tänzerin alles organisiert. Das wird im nächsten Jahr in Hannover und Hamburg aufgeführt.Wahrscheinlich im Sommer. Ansonsten überlegen wir uns einen Tourzeitraum für nächstes Jahr. Wir denken, dass da noch Luft ist, mit der neuen Platte zu touren und dann wollen wir gleich nachlegen. Es gibt auch schon eine Idee für ein Konzept für das dritte Album. Da sind wir auf die Arbeit von jemand anderem angewiesen, der etwas vorlegt. Wir arbeiten uns dann daran ab. Auf diese Arbeit warten wir gerade.“ Der Terminkalender ist also bis weit in das nächste Jahr vollgestopft. Man darf gespannt sein.