Sólstafir
"Wir entwickeln uns, erweitern unseren Sound und entdecken neue Dinge."
Interview
SÓLSTAFIR hauen mit „Endless Twilight of Codependent Love“ einen richtig mitreißenden Brocken raus. Logisches Resultat: Verdienter Sieger im November-Soundcheck 2020 und verdiente neun Punkte in der Plattenbesprechung. Zugegebenermaßen ist dies ein Ergebnis, das nicht jeder nach „Berdreyminn“ so erwartet hatte. Wir hatten die Gelegenheit mit Sänger, Gitarrist und Bandkopf Aðalbjörn Tryggvason über das neue Album zu reden. Und diese Gelegenheit konnten wir natürlich nicht verstreichen lassen – gibt es doch einiges hinsichtlich Artwork und Albumtitel aufzuklären.
metal.de: Danke für deine Zeit und ich hoffe, es geht Dir gut! Erstmal ein einfacher Einstieg: Welche Frage sollten wir womöglich meiden, da Du sie bereits zu oft in den letzten Wochen in Interviews beantwortet hast?
Aðalbjörn Tryggvason (AT): Also die Top-Fragen – und ich habe natürlich Verständnis, wenn Du sie trotzdem fragst – sind: „Erkläre den Albumtitel“ und „Erzähle etwas über das Cover“. Aber ich verstehe das ja auch, denn es ist ein obskurer Albumtitel und es ist ein verdammt schönes Albumcover (lacht). Du fragst, ich antworte!
metal.de: Na, wie Du magst – zufälligerweise haben wir diese genannten Fragen auch im Repertoire. Also los: „The Lady Of The The Mountain“ als Cover-Artwork ist ein sehr auffälliger Bestandteil der neuen Veröffentlichung. Wer ist die „Lady Of The Mountain“ und wie seid ihr an das Bild von Johann Zwecker geraten?
AT: Nun, das ist eigentlich ganz einfach: Die „Lady Of The Mountain“ ist ein Symbol der Kraft, der weiblichen Kraft. Das ist ja nicht neu: Die Römer hatten das, die Griechen, die Franzosen, denk‘ an Lady Britannia. Aber zu „The Lady Of The Mountain“ oder „fjallkonan“: Wir sind mit diesem Symbol aufgewachsen, am Nationalfeiertag am 17. Juni kleiden sich die Frauen in traditioneller Kleidung, es werden Bilder gemacht, es wird eine „Lady Of The Mountain“ gewählt – der nette, kulturelle Kram halt.
Und dann gab es diese Kopie von dem Bild. Ich wusste selbst nicht, dass es ein Kopie war, dieses schwarz-weiß Bild der Lady, grob gezeichnet. Und dann kam in der größten Zeitung hier im letzten Dezember oder Januar die Schlagzeile: Das Original des Bildes wurde gefunden, es wurde in Wales für 150 Jahre aufbewahrt. Ich war total baff. Und dachte sofort: Das ist so schön, das muss ein Albumcover werden! Wir fragten also, ob wir es nutzen dürfen und wir durften tatsächlich – dafür bin ich sehr dankbar.
Das Bild „riecht“ förmlich nach Island. Ich bin total gegen diesen „Stolz auf von Island zu sein“-Bullshit. Aber es hat halt alle prägenden Elemente: Die Möwe, den Raben, die Berge, die Aufmachung, die Tracht – es ist einfach wunderschön. Und die Farben erst!
metal.de: Entgegen seinem direkten Vorgänger „Berdreyminn“ (oder auch „Ótta“) hat „Endless Twilight Of Codependent Love“ wieder englische Texte im Angebot. Wie seid ihr dazu gekommen und was ist für dich der Unterschied, ob Du auf Englisch oder Isländisch singst?
AT: Es ist jetzt elf Jahre her, seit wir das letzte Mal einen Song auf Englisch veröffentlicht haben. Das war auf „Köld“, lange her. Also jedes Mal, wenn wir touren, spielen wir zwei oder drei Songs auf Englisch, also singen ist nicht das Problem. Aber das Schreiben von Songs ist schon lange her.
Ich glaube, der Song kam lange bevor dem Albumtitel. Wir stellten uns das ganze Album auf Isländisch vor, weil wir das die letzten zehn Jahre so gemacht haben. Aber dann wir hatten die Idee, mal wieder was auf Englisch zu machen. Und dann kommt dieser absurd-abgefahrene Albumtitel auf, ebenfalls auf Englisch! Und dann wurde es klar: Der letzte englische Titel war auf „Köld“, da hatten wir nur Englisch und einen Titel auf Isländisch. Dieses Mal ist es andersherum, wir haben alles auf Isländisch, aber einmal einen Titel auf Englisch. Es ist also das Spiegelbild von „Köld“.
Und zur Musik: Als wir letztes Jahr die Jubiläumstour zu „Köld“ gemacht haben, diese Titel jeden Tag zu spielen, die Blastbeats in „Pale Rider“, das hat in mir die Liebe für schnelle Songs neu entfacht. Das neue Album ist also durch einen schrägen Zufall inspiriert von der letzten „Köld“-Tour, die wir vor elf Jahren gar nicht machen konnten.
metal.de: Die musikalische Entwicklung war ja bislang eher ein stetiger Strom in Richtung gemäßigterer und weniger harter Songs. Mit Titeln wie „Dyonisus“ und seinem Blick zurück auf „Masterpiece Of Bitterness“ oder „Alda Syndanna“, das direkt zu „Köld“ zurückführt, geht es nun anders. Ist „Endless Twilight Of Codependent Love“ eine Unterbrechung der fließenden Entwicklung und ein Blick oder Schritt zurück in der Entwicklung?
AT: Also: Es taucht ja immer wieder die Frage auf, ob SÓLSTAFIR nochmal zurückgehen und ein Black Metal Album machen. Die Antwort: Nein. Wir entwickeln uns, erweitern unseren Sound und entdecken neue Dinge. Aber wir haben jetzt sozusagen eine „Bananenbewegung“ gemacht – weg vom Metal, wieder hin. Aber zu diesem Zeitpunkt fühlt es sich sehr erfrischend an wieder schnelle Titel zu spielen. Nach dem Motto: „Wir haben einen neuen Titel mit Schreigesang. Awesome.“
Das ist aktuell erfrischend. Vor zehn Jahren war es das allerdings nicht. Damals war es frisch „Fjara“ zu machen. Heutzutage also schnellere Song, verzerrte Gitarren und so. Aber da ist noch was: Als wir zu „Berdreyminn“ getourt haben, waren die Songs live härter, Studio und Live-Auftritt ist dann halt doch ein Unterschied. Die Songs sind live also heavier als das Album, und wir dachten: Lasst uns diese Lücke vermeiden. Die Songs beginnen dann zu leben. Nimm „Silfur-refur“, den ersten Song auf „Berdreyminn“. Der ist mittlerweile bei uns ganz anders als zu dem Zeitpunkt, als wir ihn aufgenommen haben. Durch touren, Live spielen, werden Songs erwachsen.
Wir machten die Songs diesmal also etwas heavier, „Dyonisus“ oder „Alda Syndanna“ haben eine ordentliche Gitarrenwand – und so werden die auch live gespielt. Wenn wir “ Silfur-refur“ heute aufgenommen hätten, dann hätten wir da mehr schwere Gitarren reingepackt – aber es ist ja immer leicht hinterher schlauer zu sein.
Weiter geht’s auf Seite 2 mit dem Albumtitel, den inhaltlichen Hintergründen zu „Endless Twilight Of Codependent Love“ und was für Aðalbjörn Tryggvason ein gutes Album ausmacht…
metal.de: „Codependency“ (oder: Codependenz/ Mitabhängigkeit) bezeichnet „ein sozialmedizinisches Konzept, nach dem manche Bezugspersonen eines Suchtkranken (beispielsweise als Co-Alkoholiker) dessen Sucht durch ihr Tun oder Unterlassen zusätzlich fördern“ – und das kommt oft um den Preis der Verweigerung der eigenen Bedürfnisse und führt zu eine Verschlechterung des Zustands dieser Bezugsperson.
AT: Schnelle Zwischenfrage: Woher kommt diese Definition? Und: Musstest Du sie nachschlagen oder wusstet Du das?
metal.de: Also eine grobe Ahnung war wohl vorhanden, aber das musste schon nachgeschlagen werden – Wikipedia lieferte bei der Vorbereitung glücklicherweise die passende Unterstützung. Aber wie kommt ihr denn auf dieses schwere Thema und den Ansatz, dies so prominent zu platzieren? Ich meine, ihr hättet es ja auch abstrakt irgendwo einbauen oder verstecken können.
AT: Aber warum sollten wir das tun? Direkter Schlag ins Gesicht, bis Blut kommt (lacht). Aber es ist dennoch schon irgendwie versteckt. Der Titel hätte ja auch sein können: „Eternal Darkness Of Toxic Relationship“. Das wäre richtig direkt. „Endless Twilight Of Codependent Love“ ist halt poetischer. Aber einige Leute haben gesagt: Also „Twilight“ könnt ihr schonmal nicht benutzen, das ist zu sehr deutscher Power-Metal. Und „Endless“, naja, eher nicht. Aber wir rückten davon nicht ab, es ist eben ein kraftvoller Titel. Aber es ist auch egal, ob man weiß, was das ganz genau bedeutet oder man nur ein vages Gefühl hat.
Lass uns sagen: Du wächst mit Alkoholismus auf, dein Vater ist ein Alkoholiker. Eine Menge Kinder wachsen mit alkoholabhängigen Eltern(-teilen) auf. Du kommst also heim, deine Mutter weint, hat ein blaues Auge, dein Vater hat das Mobiliar beschädigt, Essen gibt es auch nicht. Du gehst in dein Zimmer, machst dich unsichtbar. Denn wenn du ein Zeichen von Leben zeigen würdest, oder sogar Liebe einforderst, dann wirst kriegst du auch Prügel ab oder wirst angeschrien. Und diese gemischten Signale werden jedes Kind negativ beeinflussen. Und Du nimmst diesen Zusammenhang vielleicht erst gar nicht so wahr, bis du 20 oder 30 bist, aber in der Zwischenzeit wirst du dich mit Drogen und Alkohol trösten. Du wächst also in einem zerbrochenen Haushalt auf und in dem Moment, in dem die Tür zur Freiheit aufgeht, also Drogen und Alkohol, nutzt du das. Du entfliehst, und wenn Du das dann realisierst, dann ist es zu spät, dann zerstört es dich bereits. Und die Wurzel ist immer diese Ko-Abhängigkeit aus der Kindheit, die alle in deinem Umfeld foltert, und jeder tänzelt um den Zerstörenden herum. Das ist Codenpency – Eins zu Eins!
Und dann geht’s weiter: Du hast jemanden Problematisches im Freundeskreis. Du hast diese Konversation in deinem Kopf: Nächstes Mal mache ich es anders. Ich sage, er soll sich zum Teufel scheren. Dieser Dialog ist fertig, in deinem Kopf. Aber wenn es dann real wird, dann ziehst du zurück. Und was kostet es dich? Du selbst bezahlst den Preis, du bist der jenige mit der Furcht oder dann sogar der Depression. Und wie kann man das dann betäuben? Drogen, Alkohol, Isolation.
Ich meine: Die Hälfte der Band ist mit Alkoholismus aufgewachsen. Wir reden darüber. Es ist kein Tabu. Wir haben uns selbst die letzten 20, 30 Jahre mit Alkohol betäubt. Es ist nicht so, dass ich es nicht versucht habe. Und ich gehe jetzt mal nicht zu tief in das Gender-Thema. Aber gerade Männern werden häufig falsche Informationen gefüttert. Männer müssen hart sein. Andernfalls gelten sie als schwach und das will niemand, der schonmal zerbrochen war. Wenn Männer darüber reden soll , dass es ihnen schlecht geht oder sie Angst haben, oder sich schämen, dann passt das nicht zum Bild. Sie leben in der Erwartungshaltung als Mann: Keine Schwäche, aber Wut ist Ok.
Credit: Iris Dögg Einarsdóttir
metal.de: Nun hatten wir mit kürzlich mit Brett Campbell von PALLBEARER gesprochen, der zu deren neuen Album „Forgotten Days“ ausführt, dass er sich mit sehr persönlichen Themen wie Demenz und dem Verlust von Angehörigen befasst und keinen „Popcorn-Movie“-Metal macht. Dieser sei zwar schön anzuhören, aber es sei gesund sich in einem familiären Umfeld, wie der eigenen Band, damit zu beschäftigen und die Hörer mit diesen Themen zu konfrontieren.
AT: Das ist das was wir tun. Da ist der Song „Her Fall From Grace“. Und dieser ist über Alzheimer. Das ist, als wäre man besessen von Dämonen. Das mag etwas kindisch klingen: Aber das ist Besessenheit. Von Drogen zum Beispiel. Welche Naturgewalt bringt dich dazu dein Kind aufzugeben und Drogen zu verkaufen? Du verlierst alles, niemand ist mehr da und du lächelst und sagst: Ich fühle mich toll. Selbstmordversuche sind da, waren aber nicht erfolgreich. Das ist dann langsamer Selbstmord durch Drogen. Du siehst die Familie an der Seitenline, die das realisiert: Schau, da geht Mommy. Und ich muss darüber kein Geschichten lesen, das ist alles genau so da.
Aber es ist unser Job, die Ketten zu reißen, die Weitergabe über Generationen. Mein Vater war ein großartiger Vater, aber er wuchs auf bestimmten Dingen, mit denen er brechen musste. Er wurde ganz anders erzogen, als er mich erzog. Mein Großvater war ein strenger Typ. Und wir – ich – habe auch den Job bestimmte Ketten zu reißen.
metal.de: SÓLSTAFIR ist nun Teil deines Lebens für 25 Jahre. Kannst Du Dir ein Leben ohne die Band überhaupt vorstellen nach so einer langen Zeit – und hättest Du Dir vorstellen können in der Zeit von 1995 bis 2020 sieben Alben zu veröffentlichen?
AT: Vielleicht ja sogar mehr Alben… (lacht). Wir haben am Anfang ziemlich lange gebraucht, da war überhaupt keine Fokus auf isländischen Metal die ersten paar Jahre. Und wir waren keine Live-Band. Ich würde nichts ändern, aber wenn ich darüber nachdenke: Unser erstes Album kam über ein deutsches Label 2002 mit Material, das 1997, 1998 geschrieben wurde. Da war ansonsten überhaupt kein Interesse da. Danach arbeiteten wir an „Masterpiece Of Bitterness“ – so 2002,2003 – und wir dachten: Lasst uns das Album machen und aufhören. Kein Interesse. Wir kämpften, spielten betrunken, da war kein Label-Interesse. Wir hatten kein Geld um ins Studio zu gehen. Das war damals auch gar nicht so einfach zu finden wie heute.
Aber wir machten einen Deal mit einem Freund von uns und wir machten „Masterpiece Of Bitterness“, und es war einfach zu gut, um nicht weiterzumachen. Das Ganze ist also geteilt in zwei Hälften: Da sind die letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahre und die andere Hälfte. Ab 1995 passierte nicht viel mit Touren, Reisen, da waren nur wir, ein paar Freunde schrieben Songs in der Garage. Und dann, so von 2000 bis 2010, andere Art von Band, tja, und jetzt ist es anders. Es wäre befremdlich, das nicht mehr zu machen, zu diesem Zeitpunkt.
Ich bin froh, dass ich diese Band habe. Ich nehme das nicht als gegeben, und es könnte ja vielleicht enden, dieses getoure, vielleicht ist es tot. Wissen wir ja nicht. Ich glaube das nicht, aber es war eine gute Zeit, wenn man darüber nachdenkt. Ich bin die Hälfte meines Lebens in dieser Band und gerade erst 43 (lacht).
metal.de: Was ist deiner Meinung nach die Essenz eines guten Albums? Was macht deiner Meinung nach ein gutes Album aus?
Puh, schwere Frage. Also, ich versuche das mal mit einer Referenz, nicht ganz ernst: Wir zielen darauf, dass ein Album ein „War Ensemble“ und ein „Season In The Abyss“ hat. Das ist jetzt nicht mein Lieblings-SLAYER-Album, aber im Kontext eines perfekten Openers und eine perfekten Abschlusstitels: Schaut euch „Season In The Abyss“ an. Wir versuchen das! Ein „War Ensemble“ und ein „Season In The Abyss“ (lacht). Das macht ein gutes Album aus!
metal.de: Letzte Frage: Wie sehr vermisst Du das Auftreten und wie wichtig ist es auch mal, wie jetzt, zuhause zu sein, heim zu kommen? Wie wichtig ist der Live-Auftritt für SÓLSTAFIR als Band?
Naja, wir haben so viel getourt in letzter Zeit, da sind so viele abgedrehte Momente: Du bist in einem Zelt, 15.000 Leute sind da, du alberst hinter der Bühne mit den Jugs rum, da ist der Jubel, du gehst auf die Bühne. Du nimmst zehn, fünfzehn Sekunden mit dem Handy auf, postest das auf Facebook, du kriegst die Erinnerung immer wieder! „Hey, vor zwei Jahren in El Paso! Du warst da!“
Ich vermisse diese Momente, ich gehe durch diese Erinnerungen – Hellfest, Ende der Show, diese Menge an Leuten! Wenn man das immer macht, dann nimmt man das fast für gegeben hin, aber wenn das dann mal nicht da ist, dann denkt man: Diese Momente sind echt überirdisch.
Na, das sind doch mal passende Schlussworte! Danke für deine Zeit und alles Gute – bis hoffentlich bald zur nächsten Live-Show!