Scarnival
"Auch im Metal gibt es einige, die ein bisschen Nachhilfe in Sachen Menschlichkeit gut vertragen können."
Interview
Gut Ding will Weile haben – so haben SCARNIVAL nicht nur für ihr neues Album „The Hell Within“ etwas länger gebraucht. Auch die per Mail verschickten Interviewfragen bleiben bis zu ihrer Beantwortung ein paar Wochen länger im Postfach von Bassist Gerrit Mohrmann und Gitarrist Christian Kähler liegen. Macht aber gar nix, denn auch zwei Monate nach dem Albumrelease haben die sympathischen Melo-Deather noch viel interessantes über Sängerwechsel und Songwriting, aber auch die klare politische Haltung der Bandmitglieder und den Zustand der Szene in ihrer Heimatstadt Hannover zu erzählen.
Hallo Gerrit, hallo Chris! Danke, dass ihr euch die Zeit nehmt, mir ein paar Fragen zu beantworten!
Gerrit: Moin! Erst mal fetten Dank, dass du und metal.de Bock auf ein Interview habt! Nun sind leider auf Grund von Krankheit und Urlaub etliche Wochen verstrichen. Umso mehr freue ich mich, dass ich mich endlich an deine Fragen setzen kann… 😉
Nix zu danken, die Freude ist ganz auf unserer Seite! Euer neues Album „The Hell Within“ ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits zwei Wochen auf dem Markt. Wie ist das bisherige Feedback?
Gerrit: Inzwischen ist ja wie gesagt Anfang August und aus zwei Wochen sind zwei Monate geworden. Aber das Feedback zum Album ist erfreulicherweise sehr positiv. Uns ist bewusst, dass wir mit unserer Mucke das Rad nicht neu erfinden. Aber letztlich hört ihr auf „The Hell Within“ alles das, was wir selber gerne hören und worauf wir Bock haben. Da freut es uns natürlich, wenn auch andere etwas damit anfangen können, haha!
Euer Debütalbum erschien 2015, für den Nachfolger habt ihr euch somit ganze acht Jahre Zeit gelassen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass im kurzlebigen Musikgeschäft ein solch großer Abstand zwischen zwei Alben den Planungen einer ambitionierten Newcomerband wie SCARNIVAL entspricht. Hat euch hier also die Corona-Pandemie dazwischengefunkt? Oder gab es noch andere Stolpersteine, die ihr überwinden musstet?
Chris: In der Tat hatten wir uns das eigentlich anders vorgestellt. Dazwischen kamen uns dann vor allem die Familienplanung und unsere normalen Jobs. Und als wir dann gerade durchstarten wollten, hieß es – schwupps! – Kontaktverbot. Aber das soll keine Ausrede sein. Wir hätten die ganze Sache generell straighter durchziehen können… und müssen!
Gerrit: Tjoa, das mit den acht Jahren ist schon ’ne Hausnummer. 😉 Das ist uns aber eigentlich so richtig erst aufgefallen, als wir dann ’nen Release-Datum für das neue Album hatten. Aber der Ehrlichkeit halber muss man ja wie Chris schon erwähnt auch sagen, dass wir inzwischen alle Kinder haben und alte Säcke sind, haha! Aber wir haben es eben auch neben dem ganzen Alltagswahnsinn immerhin dann doch noch auf die Kette bekommen.
Mit dem Einstieg von Alexander Unruh hattet ihr 2018 einen Sängerwechsel zu verzeichnen. Wie kam es zur Trennung von Daniel Siebert und wie dramatisch habt ihr die Veränderung erlebt? War es schwierig einen geeigneten Nachfolger zu finden?
Gerrit: Daniel ist ein unglaublicher Shouter und ein guter Freund. Er ist fest in der Hannover-Metal-Szene verwurzelt. Neben SCARNIVAL hatte Daniel immer auch seine eigene Band INQUIRING BLOOD am Start. An einem gewissen Punkt waren wir uns dann aber in einigen Bereichen nicht mehr einig. Ich denke, das kann man so sagen, ohne jemandem auf den Schlips zu treten, sind ja alle erwachsen. 😉
Das war natürlich auch nicht unemotional, weil Daniel selbstverständlich an SCARNIVAL hing und der Band einen entschiedenen Anstrich verliehen hat. Zumal wir uns Jahrzehnte kennen und gut befreundet sind. Für SCARNIVAL sollte es aber weitergehen, daher haben wir damals getrennte Wege eingeschlagen. Mit Alex haben wir aber jemanden gefunden, der sich wie ein Sechser im Lotto anfühlt. Denn die Szene in Hannover ist dann eben doch überschaubar und oft sind die guten Leute eben auch schon in diversen Projekten eingespannt.
Wie muss ich mir den Songwriting-Prozess zu „The Hell Within“ vorstellen? Habt ihr über acht Jahre hinweg kontinuierlich am Songmaterial gefeilt oder habt ihr irgendwann zwischendurch bereits geschriebenes Material in die Tonne getreten, um nochmals von vorne anzufangen? Sind in den acht Jahren vielleicht sogar noch deutlich mehr veröffentlichungsreife Stücke entstanden, so dass wir mit einem Nachfolger deutlich schneller rechnen können?
Chris: Beim ersten Album war es zu großen Teilen so, dass einzelne Bandmitglieder komplette Stücke mit in den Raum gebracht haben, die wir dann mehr oder weniger unverändert einfach so gespielt beziehungsweise aufgenommen haben. Für das zweite Album wollten wir versuchen, die Songs zusammen zu schreiben. Sprich: Wir haben auch sehr viel ausprobiert und wieder verworfen, was sicher mit ein Grund ist, warum es so lange gedauert hat, das Ding fertig zu bekommen. Dazu kamen dann die oben angesprochenen Widrigkeiten und siehe da, waren acht Jahre um…
Dass sich eure musikalischen Vorbilder großteils im schwedischen Göteborg finden, ist kein Geheimnis. Was sind für dich die charakteristischen Elemente des Göteborg-Sounds, die ihr für SCARNIVAL authentisch einfangen möchtet? Und wo hebt ihr euch bewusst von Bands wie IN FLAMES oder SOILWORK ab, um eigene Akzente zu setzen?
Chris: Ich habe IN FLAMES im Jahr 2000 kennengelernt, als ich zu einem Konzert von ihnen eingeladen wurde. An dem Abend spielten DARK TRANQUILITY, SOILWORK, SENTENCED und IN FLAMES in der Markthalle in Hamburg – was für ein Line-Up übrigens! (Stimmt! – Anm. d. Red.) Mich hat vor allem der Mix aus Melodie und brachialem Geballer begeistert. Etwas später ging es dann mit dem Metalcore los, der diese Elemente ja auch extrem bedient. Beide Musikrichtungen, Melodic Death Metal und Metalcore, haben zumindest mich als Fan (und auch als Songwriter) sehr geprägt und begeistern mich bis heute.
Inhaltlich setzt ihr euch in euren Liedern mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Themen auseinander. Die Frage, inwiefern Musik politisch sein kann, darf und sollte, brauche ich euch demnach gar nicht zu stellen, oder?
Chris: Auch wenn unsere Texte zum Teil sicher auch politisch sind, finde ich, dass das kein Muss ist. Musik oder Kultur im Allgemeinen kann sich auch einfach nur mit den Gefühlswelten der Menschen auseinandersetzen, ohne irgendeine wie auch immer geartetet Position zu gesellschaftlichen Themen einnehmen zum müssen, finde ich.
Gerrit: Ich würde SCARNIVAL auch nicht primär als politische Band bezeichnen. Dennoch ist es natürlich so, dass wir als Bandmember ganz persönlich politische Standpunkte haben. Da gibt es sicherlich innerhalb der Band eine große Schnittmenge. Wir sind uns aber auch nicht zu schade, wertvolle Probenzeit für ausufernde Diskussionen zu „opfern“. 😀
Dass spätestens im Rahmen der Pandemiebewältigung ein – vorsichtig ausgedrückt – kreativer Umgang mit Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen weltweit salonfähig geworden ist, scheint euch mit ähnlicher Sorge zu erfüllen wie mich, immerhin habt ihr dem Thema mit „Alternative Facts“ einen Song gewidmet. Habt ihr hierzu auch negative Erfahrungen im persönlichen Umfeld gemacht? Und wie geht ihr damit um?
Gerrit: Konservative und weniger informierte Standpunkte zu diversen politischen und gesellschaftlichen Themen im familiären Kontext sind mir zumindest nicht fremd. Das gab es auch schon vor Corona. Ich persönlich versuche ins Gespräch zu gehen und die Motive der jeweiligen Person zu verstehen. Im besten Fall gibt es dafür den Raum. Sicherlich läuft man Gefahr, dass eine politische Diskussion die Party sprengen kann. Ich habe aber bisher den Eindruck, das ein direktes Gespräch „unter vier Augen“ noch am ehesten dazu führt, sich gegenseitig zuzuhören.
Vielleicht geht es dabei auch gar nicht so sehr darum, den anderen sofort zu ändern oder zu überzeugen. Aber sich gelegentlich über die persönlichen Lebensrealitäten auszutauschen, kann ja nicht schaden. Außerdem kann man sich auch einfach mal gegenseitig sagen, dass man die jeweils andere Meinung scheiße findet, ist auch ok. 😉 Aber ja, es ist schon manchmal anstrengend und strapaziert die eigene Empathie aufs Äußerste…
Während einige vorgeblich konservative Politiker derzeit mit populistischer Hetze kräftig am rechten Rand fischen und dabei rechtsextreme Narrative in erschreckender Weise salonfähig gemacht werden, setzt ihr mit „Colour Under The Skin“ ein klares Statement gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Seht ihr hier eine Verantwortung für euch als Kunstschaffenden, den ein oder anderen Zuhörer zum Nachdenken zu bringen und den neo-faschistischen Rattenfängern zu entreißen? Oder kann ein Metal-Song doch nicht mehr als eine trotzige Selbstbekräftigung für jene darstellen, die ohnehin bereits auf der richtigen Seite stehen?
Chris: Ich denke, es ist ein bisschen so, wie du im letzten Satz sagst. Das alles ist ein bisschen „preaching to the choir“, wie es so schön heißt. Dennoch kann es nicht schaden, hin und wieder zu zeigen, wo man steht, denn auch im Metal gibt es sicher einige, die ein bisschen Nachhilfe in Sachen Menschlichkeit gut vertragen können.
Gerrit: WORD!
Für die Erstellung des Cover-Artworks habt ihr das KI-basierte Bildgenerierungsprogramm „Midjourney“ verwendet. Begreift ihr also die aktuellen Entwicklungen im Bereich KI als eine Chance für euch als Künstler? Oder machen euch die damit verbundenen Risiken nicht auch ein wenig Angst?
Chris: Sowohl als auch. Wir wollten zum damaligen Zeitpunkt einfach mal ausprobieren, was mit Midjourney so möglich ist, und wir waren komplett beeindruckt von den Resultaten, die wir erhalten haben. Zum Glück hat unser Freund und Grafiker Christian Bröhenhorst (CrudeART Design) uns das nicht übelgenommen – hoffe ich! – und uns dabei geholfen, den ganzen Kram druckfähig zu kriegen. Denn das konnte die KI noch nicht. Ich finde, generell ist KI eine enorme Chance für die Menschheit. Dass man sie allerdings im Kulturbereich unreguliert einsetzen sollte, finde ich ganz und gar nicht, denn Kultur ist eigentlich etwas Menschliches. Und das kann eine Software nicht. Im Grunde sind KI-Werke nur Remixes von von Menschen gemachten Kunstwerken. Zumindest heute noch. Im Filmbereich wird das ganze gerade auf die Spitze getrieben, weswegen die Gewerkschaften der Autoren und Schauspieler aktuell ja auch völlig zurecht streiken.
Gerrit: Ich empfinde es aktuell als Hype. Im Moment wird viel probiert, mal sehen was am Ende davon übrigbleibt. In unserem Fall war es ja auch im Grunde eine Art Kommunikationswerkzeug: Wir konnten uns gegenseitig in Sekundenschnelle zeigen, was wir uns für Stilistiken und Motive vorstellen und dann entsprechend abgestimmt in eine konkrete Richtung weiter entwickeln. Aber wie Chris schon sagt: Ohne das Know-How von Knitzel hätten wir außer einer Flut von Bildern auch nichts in der Hand gehabt.
Mit „30666 – H-Town Destroyer“ habt ihr eine Hymne für den lokalen Metal-Förderverein geschrieben, in dem ihr selbst auch aktiv seid. Magst du unseren Lesern einen kleinen Einblick in die Aktivitäten des Vereins und eure Rolle darin geben? Wie wichtig ist es heutzutage, einen Anlaufpunkt für die Szene zu bilden? Und ist die Situation in Hannover eine besondere oder könnten eure Vereinsaktivitäten auch ein Vorbild für andere Metal-Fans im Rest der Republik sein?
Gerrit: Stimmt, die Idee zum Song hatte Alex. Im Song hat uns unsere Freundin Britta Görtz (HIRAES, ex-CRIPPER, ex-CRITICAL MESS) unterstützt. In den Gangshouts hört man diverse Menschen aus dem Verein und hannoverschen Metal-Bands. Danke an dieser Stelle an die verrückte Bande, haha!
Henna, unser Rhythmusgitarrist hatte in 2018 die Idee einen Verein zu gründen. Damals hatten wir den Eindruck, dass eine Anlaufstelle neben den üblichen Konzerten fehlt. In unserer bisherigen Musiker-„Karriere“ haben auch wir letztlich immer von Menschen profitiert, die sich ehrenamtlich oder voller Idealismus um junge Bands bemüht haben. Daher gab es ein paar von uns, die etwas an die Szene zurück geben wollten.
Dass es am Ende ein e.V. geworden ist, lag in erster Linie aber an der Förderpartnerschaft mit der Stadt, die eine nachvollziehbare rechtliche Struktur verlangte. Tatsächlich war das etwas mehr Bürokratie, als ursprünglich geplant. 😀 Durch seinen Job als Kulturreferent hatte Henna den Kontakt zur Stadt Hannover und in der Form als Verein ist es uns somit möglich auch ganz offiziell geförderte Veranstaltungen zu machen. Und da ist im Grunde von ganz klein bis inzwischen für unsere Verhältnisse recht groß alles dabei.
Ein Highlight ist sicherlich die 30666-Metal-Stage auf der „Fête de la Musique“ jedes Jahr am 21. Juni in der Innenstadt von Hannover, daneben haben wir einen monatlichen Stammtisch, Frühschoppen, kleinere Partys und Konzerte sowie ein Sommerfest und Motorradausfahrten… und natürlich eine ganze Menge Ideen für weiteres verrücktes Zeug. Schaut also gerne mal auf die Seite des Vereins unter 30666.de – auch Nicht-Mitglieder sind immer herzlich willkommen!