Paradise Lost
"Das Album wird während einer Apokalypse veröffentlicht."

Interview

Es sind merkwürdige Zeiten, in denen „Obsidian“, das nunmehr sechzehnte Studioalbum von PARADISE LOST, veröffentlicht wird. Im Gegensatz zu anderen Bands blieb den Briten eine Verschiebung der Veröffentlichung erspart. Im Interview Ende März erzählt Gregor Mackintosh, kurz Greg, über den Schaffensprozess und wieso dieses Album wieder ganz anders klingt als seine unmittelbaren Vorgänger.

Normalerweise weiß man schon grob, womit zu rechnen ist, wenn eine Band ein neues Album veröffentlicht und man die Alben davor kennt. Bei PARADISE LOST ist das aber sehr unberechenbar. Wenn ihr mit dem Schreiben anfangt, speziell nun bei „Obsidian“, ist das Ergebnis dann für euch genauso unberechenbar, wie es jetzt für uns Hörer ist?

Greg: Das kann schon vorkommen. Wir setzen uns normalerweise keine zu engen Vorgaben. Es kommt darauf an, was uns zu dem jeweiligen Zeitpunkt bewegt. Manchmal ist das, was uns bewegt, nicht unbedingt das, was alle anderen bewegt [lacht]. Dieses Mal war uns bewusst, dass „Medusa“ in Grunde ein totales Doom-Album war. Das war uns auch schon bewusst, während wir daran gearbeitet haben. Bei „Obsidian“ war das Einzige, das wir uns vorgenommen haben, es vielfältiger zu gestalten. Es sowohl für uns beim Schreiben als auch für die Hörer interessanter zu gestalten.

Wir sind dann einfach nach Tagesform vorgegangen. An einem Tag hat man vielleicht Bock auf diese Art Musik, und am nächsten Tag auf eine andere. An manchen Tagen war es 80er Goth-Musik, an anderen Tagen klassische Musik. Und am Ende ist eben das rausgekommen. Es gibt nur zwei Songs, von denen ich nicht sagen kann, wie es dazu gekommen ist und was die musikalischen Einflüsse waren. Beim Rest sind die Einflüsse ziemlich offensichtlich.

Das sind der Opener „Darker Thoughts“ und „Ending Days“. Egal, wie sehr ich versuche, darauf zu kommen, ich weiß einfach nicht, was mich beschäftigt hat, als ich die geschrieben habe, oder, was ich gehört habe. Sie sind keine typischen PARADISE LOST-Songs für mich. Es muss irgendein externer Einfluss gewesen sein. Irgendeine andere Art Kunst oder eine bestimmte Umgebung, oder vielleicht das Schwelgen in Erinnerungen. Jedenfalls klingen diese beiden einfach anders als alles andere von PARADISE LOST.

Auf „Obsidian“ hört man immer noch die doomigen und sludgigen Parts, die „Medusa“ hatte. In der Zwischenzeit habt ihr aber auch die remixed/remastered Versionen von „Host“ und „Believe In Nothing“ veröffentlicht. Hat sich die Beschäftigung mit dieser Ära von PARADISE LOST auch auf „Obsidian“ niedergeschlagen?

Greg: Das kann sehr gut sein. Das Erste, was wir nach „Medusa“ gemacht haben, war, uns mit den Originaltracks von „Believe In Nothing“ zu befassen und sie zu remixen. Ich hatte ganz vergessen, wie gut einige Sachen auf dem Album waren. Es war nur die suboptimale Produktion, die unsere Leistung etwas runtergezogen hat. Es war interessant, sich die Tracks wieder anzuhören. Unterbewusst kann das unsere Perspektive schon etwas beeinflusst haben. „Host“ genauso.

Paradise Lost sind (v.l.): Waltteri Väyrynen, Aaron Aedy, Nick Holmes, Gregor Mackintosh und Stephen Edmondson.

Du hast vorhin das Schwelgen in Erinnerungen erwähnt. Ich habe da einen Lyric-Breakdown von Nick bekommen und lese daraus, wie auch aus den Songs, ein sehr großes Maß an Reue, aber auch an Nostalgie. Die Lyrics sind jetzt vielleicht nicht unbedingt dein Gebiet, aber ist das etwas, an das auch du bei „Obsidian“ denkst?

Greg: Nostalgie spielt für mich eigentlich keine so große Rolle. Ich suche eher immer nach der nächsten interessanten Sache für mich. Nick ist da sicherlich sehr ähnlich, aber er schreibt sehr „vom Leben gezeichnete“ Lyrics. Das ist nichts, was wir absichtlich behandeln, aber es gehört zum Leben dazu. Während wir an „Obsidian“ gearbeitet haben, wurden wir außerdem einmal die Woche für unsere Biografie interviewt. Es ist schwer, nicht auch ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen, wenn man einmal die Woche eine Stunde lang Details aus dem eigenen Leben und der eigenen Karriere behandelt. Und über Leute spricht, an die man seit 30 Jahren nicht mehr gedacht hat. Das ging Hand in Hand, als wir das Album geschrieben haben. Also ja, das könnte Nicks Lyrics unterbewusst ein wenig beeinflusst haben. Da müsstest du ihn im Detail fragen.

Da überrascht der Song „Ghosts“ wenig, von dem ihr sagt, dass er die Gothclub-Szene der 80er Jahre einfängt, was man ihm auch zu 100% anhört.

Greg: Ja, absolut. Für mich ist es schwer, den Leuten nicht zu zeigen, wie sehr ich bestimmte Arten von Musik und verschiedene Szenen liebe. Das ist etwas, das mir Freude bereitet. Als ich 17, 18 Jahre alt war, habe ich in Gothclubs rumgehangen. In Bradford gab es zum Beispiel Bands wie NEW MODEL ARMY, SISTERS OF MERCY, SKELETAL FAMILY. Mich nervt es wirklich, dass es die Goth- und Rockclub-Szene so nicht mehr gibt. In Deutschland gibt es sie vielleicht noch einigermaßen, aber in England ist sie komplett weg.

Was einen als Teenager prägt, trägt man sein Leben lang mit sich, ob man will oder nicht. Ich habe jedes Jahr die Phase, wo ich ein paar Wochen lang das Ende der Ära von irgendetwas betrauere. Oder einfach die alten Platten anhöre. Auf „Obsidian“ gibt es da ein paar solche Songs. „Ghosts“, „Hope Dies Young“, und vielleicht noch „Forsaken“. Diese Songs habe ich alle geschrieben, während ich ein paar Wochen lang die alten 80er Goth-Sachen gehört habe. Ich denke, es schadet nicht, auf diese Ära zurückzublicken, denn das ist bahnbrechende Musik.

Paradise Lost – Rockharz 2018

Die PARADISE LOST-Biografie und das Schwelgen in Erinnerungen erklärt so einiges, denn beim Hören hatte ich den Eindruck, dass es ein sehr allumfassendes Album ist, fast wie ein Best-of der Stile, die PARADISE LOST schon mitgemacht haben. Das war vermutlich keine Absicht, und vielleicht bist du da auch ganz anderer Meinung, aber so kommt es mir vor.

Greg: Ich kann das auch sehen. Absicht war es denke ich nicht. Wie gesagt, war die einzige Vorgabe, die wir uns gesetzt haben, etwas zu machen, dass mehr Raum zum Atmen hat, und etwas eklektischer ist. Das Einzige, das einen roten Faden durchzieht und es wie ein Album von PARADISE LOST klingen lässt, sind wahrscheinlich die Musiker, die es spielen. Für uns geht es immer noch darum, Spaß zu haben. Ich hätte keine Lust, immer das Gleiche zu schreiben, um jemand anderem zu gefallen. Manchmal schießen wir uns damit selbst ins Bein, kommerziell betrachtet. Aber künstlerisch haben wir uns noch nie selbst ins Bein geschossen. Ganz im Gegenteil. Wir haben immer das gemacht, worauf es uns ankam.

Die Songs, von denen du nicht ganz weißt, woher sie kommen, hast du ja erwähnt. Könntest du uns aber mal einen kleinen Einblick in Songs geben, von denen du weißt, wieso du sie so geschrieben hast, und die dir besonders wichtig sind?

Greg: „Fall From Grace“, das gerade auch als Video rausgekommen ist, kommt „Medusa“ stilistisch wahrscheinlich am nächsten. Der Grund dafür ist, dass das der erste Song war, den ich für „Obsidian“ geschrieben habe. Es gibt immer diesen Song, der quasi ein Brückensong ist. Ein Song, der eine Verbindung zum Vorgängeralbum herstellt. Das ist „Fall From Grace“, und ich finde, der hat einige gute Hooks und ist ein sehr traditioneller PARADISE LOST-Song. Mir gefallen Nicks Vocals im Refrain sehr gut. Ich hätte nicht gedacht, dass das funktioniert, weil der Refrain musikalisch gesehen heavier wird, gesanglich aber sehr subtil und leicht ist. Das ist eine coole Dichotomie.

Ich mag auch „Ravenghast“ sehr, den letzten Song. Einfach, weil er irgendwie ein wenig bombastisch ist, ohne den schmalen Grat zum Kitsch zu überschreiten. Das ist eine Grenze im Gothic Metal, die mir immer Sorgen macht, und die viele andere Bands überschreiten. Das macht mir irgendwie Angst, zu kitschig und unsere eigene Parodie zu werden. Ich hoffe, das ist uns bisher nicht passiert. Ich teste diese Grenze aber ab und zu gerne aus. Und so ein Song ist „Ravenghast“.

Der Opener „Darker Thoughts“ ist einer der interessantesten Tracks für mich. Der war quasi ein Unfall. Ich habe eigentlich ein Intro für das Album geschrieben, das gar kein Song werden sollte. Ich habe es Nick geschickt und ihn gefragt, wie sich das Intro bisher so macht. Er hat es mit einer Gesangsspur zurückgeschickt und es klang eher nach FLEEDWOOD MACK oder so. Davon war ich eher verstört, aber je öfter ich es angehört habe, desto besser gefiel es mir, und so haben wir es zu diesem Song weiterentwickelt. Mir gefällt, dass es ein Song ist, der aus zwei Hälften besteht. Der könnte an keiner anderen Stelle auf dem Album stehen. Wenn die Leute das Album auflegen, werden sie sich denken, „was zur Hölle ist das?“ Und dann kommt der typische Sound von PARADISE LOST auf halbem Weg.

Galerie mit 14 Bildern: Paradise Lost - Summer Breeze Open Air 2018

Es gibt manchmal Stücke, von denen man nicht erwartet, dass sie funktionieren. Zum Beispiel „Hope Dies Young“. Als wir das Demo gemacht haben, hatte ich eher gedacht, dass es ein Bonustrack wird, statt eines Albumtracks. Als wir ihn dann aber im Studio aufgenommen haben, hat alles angefangen, Sinn zu ergeben. Das passiert uns normalerweise nicht. Normalerweise können wir Songs von Anfang an genau einschätzen. Welche stark sind und welche nicht. Dafür ist ein anderer Song, „Hear The Night“, jetzt ein Bonustrack. Der Grund ist, dass er musikalisch sehr ähnlich zu „Ravenghast“ ist. Das ist zwar eigentlich der Stil, der mir gefällt, aber ich verstehe auch, dass man nicht zwei solche Stücke auf einem Album haben kann. Man muss an das Album als Ganzes denken.

Kommen wir mal zum Titel und zum Artwork. Das Artwork hat mich sofort an viktorianische Geheimbünde erinnert. Mit der Musik oder den Texten hat das aber so gar nichts zu tun.

Greg: Lustig, dass du viktorianische Geheimbünde erwähnst. Daran hatte ich persönlich noch gar nicht gedacht und du bist auch die Erste, die das sagt. Ich weiß aber genau, was du meinst. Die viktorianischen Geheimbünde haben die ganzen Symbole verwendet, die wir auch verwenden, und sie haben sie aus den gleichen Quellen entlehnt. Nämlich alte, heidnische, vorchristliche Ikonografie in England. Das kommt daher, dass der Stein Obsidian oft eine Rolle in der alten europäischen Mythologie und Folklore gespielt hat.

Cover Artwork von Paradise Lost „Obsidian“

Das war die Vorgabe, die wir dem Künstler gegeben haben. Wir wollten diese vorchristliche Ikonografie, als die Menschen noch Tiere und Bäume verehrt haben. Nicht, dass das unserem Glauben entspricht – ich bin durch und durch Atheist – aber es ist eine interessante historische Periode und die Ikonografie ist fantastisch. So kam auch der Titel „Obsidian“ ins Spiel, und „Ravenghast“, was ursprünglich mal der Albumtitel werden sollte.

Ich kann aber genau nachvollziehen, wie du auf viktorianische Geheimbünde kommst. Ich finde es auch immer toll, wenn jemand etwas komplett anders interpretiert als wir, es aber genau so viel Sinn ergibt. Eines unserer Ziele war schon immer, Artworks und Songs zu machen, die den Leuten nicht zu viel vorgeben, sondern sie ihre eigenen Interpretationen finden lassen.

Damit wären wir durch. Gibt es von deiner Seite etwas hinzuzufügen? Die Frage, was als Nächstes für PARADISE LOST ansteht, habe ich angesichts der aktuellen Situation mal gestrichen…

Greg: Ich Moment hängt alles etwas in der Luft. Es ist sehr merkwürdig, sich in dieser Zeit um Presseangelegenheiten zu kümmern. Als ich angefangen habe, Interviews zu „Obsidian“ zu geben, was erst zwei, drei Tage her ist, habe ich mich gefragt, ob ich wirklich Werbung für ein Album machen soll, wenn so viel mehr auf dem Spiel steht. Ich habe mich fast schuldig gefühlt. Dann habe ich mit einigen Leuten darüber geredet und realisiert, dass es sogar noch wichtiger sein könnte, es in dieser Zeit zu veröffentlichen. Denn vielleicht ist Kunst – also Musik, Filme, Bücher und so weiter – etwas, das die Menschen gerade in dieser Situation brauchen. Damit beantworte ich natürlich nicht die Frage, sondern philosophiere nur darüber, was gerade abgeht. Ich glaube, es gibt eigentlich nichts hinzuzufügen, außer, das Album wird während einer Apokalypse veröffentlicht.

Vielen Dank für das Interview, und alles Gute!

Quelle: Gregor Mackintosh, Paradise Lost
04.05.2020

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