Orphaned Land
Sie haben uns Blumen überreicht
Interview
ORPHANED LAND und ihr sechstes Studioalbum „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ – das ist musikalisch ein gekonnter Streifzug durch alle Metal-Landschaften. Thematisch gehen Kobi Farhi & Co. zurück zum Höhlengleichnis des Plato, um darauf aufbauend zu konstatieren, dass sich in den vergangenen 2.500 Jahren nicht viel verbessert hat: Konflikte gibt es überall in der Welt, das Zusammenleben der Menschen hat sich nicht großartig verändert, und wenn es Zeichen der Besserung gibt, werden diese Pflänzchen der Hoffnung im Keim erstickt. Wir haben uns mit Sänger Kobi Farhi zum Gespräch getroffen, und er erklärt, warum Platos Höhlengleichnis immer noch aktuell ist. Dabei entpuppt sich Kobi als Utopist, als jemand, der seinen Blick auf gesamtgesellschaftliche Ideen richtet. Aber auch als jemand, den es berührt, wenn man ihm bei Konzerten Blumen überreicht. Aber lest selbst.
Kobi, Du hast Ende November die Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin besucht. Das dürfte sowohl für sie als auch für Dich ein außergewöhnliches Ereignis gewesen sein. Wie hast Du den Besuch in Erinnerung?
Das war ein sehr ungewöhnliches Ereignis. Diese Moschee wird von einer Frau geführt [Seyran Ate?; Anm. d. A.]. Sie ist sehr liberal und aufgeschlossen, bekommt aber deshalb regelmäßig Morddrohungen. Sie braucht 24 Stunden am Tag Security und Bodyguards. Ich glaube, dass sie eine Revolutionärin ist, und ich habe mich dazu entschieden, dorthin zu gehen als eine Art Botschaft. Das passiert ja Revolutionären, und das ist ein Teil unseres Albumkonzepts.
Ich habe mich vor zwei Jahren gefragt, worüber ich auf dem kommenden Album schreiben könnte. Dann habe ich die Allegorie des Plato gelesen, das sogenannte Höhlengleichnis. Plato hat es damals unter dem Eindruck der Ermordung von Sokrates geschrieben. Er konnte einfach nicht verstehen, wie die Menschen diesen großartigen Mann gehen lassen konnten, der als die Weisheit, das Licht und als Geschenk der Menschheit angesehen wurde.
Plato hat sein Gleichnis vor 2.500 Jahren geschrieben, aber im Laufe der Geschichte haben sich solche Ereignisse wie in einem Muster wiederholt. Immer dann, wenn jemand wie Sokrates eine gute und starke Position einnahmen, haben ihn die Leute ermordet. Wie zum Beispiel Jesus – lass das Christentum einfach mal außen vor. Jesus war ein jüdischer Revolutionär, der gegen den Judaismus der damaligen Zeit war – gekreuzigt. Wie zum Beispiel in unserer Zeit Mahatma Gandhi in Indien – tot. Martin Luther King für dunkelhäutige Menschen – tot. Che Guevara für die südamerikanische Bevölkerung – tot. Sie können gute oder schlechte Menschen gewesen sein, aber durch die Position, die sie in ihrer Revolution eingenommen haben, wurden sie am Ende ermordet. Nimm Kennedy – tot. Israels Premierminister Rabin – tot. Sadat, der erste Araber, der Frieden mit Israel schließen wollte – tot. Es ist ein Muster. In „Herr der Fliegen“ wird dieses Thema aufgegriffen. Kinder landen auf einer einsamen Insel, und alle werden mit der Zeit verrückt, bis auf einen. Den wollen die anderen töten.
Es ist ein Muster. Die Menschheit ist immer noch gefangen. Technologisch sind wir so weit fortgeschritten, wir haben Raumschiffe und können in den Weltraum fliegen. Aber wenn es um Menschlichkeit und Werte geht, sich nicht gegenseitig zu erschießen oder der Höhle aus Platos Gleichnis zu entkommen, sind wir keinen Schritt weiter.
Um wieder zurück zur Moschee zu kommen: Eine Frau in Deutschland kann keine Moschee leiten, weil es nicht okay ist – heißt es dann. Frauen und Männer sind nicht gleich. ‚Sie kann doch keine Moschee leiten‘ – und sie ist liberal und offen, also trachtet man ihr nach dem Leben. Es ist dasselbe Problem, es ändert sich nicht. Technologie hat sich verändert, unsere Umwelt hat sich geändert, aber wenn es um das Leben miteinander geht, gibt es immer wieder dieselben Muster. Ein bisschen Licht, ein bisschen Offenheit, und schon will man sie töten.
Sokrates wurde damals beschuldigt, die Jugend zu verderben. Rabin hat Israel fast zum Frieden mit den Palästinensern geführt. Der Durchbruch war zum Greifen nah. Martin Luther King war der Anführer der Dunkelhäutigen in Amerika. Gandhi hat Inder und Pakistanis vereint. Sie haben alle dasselbe Ende genommen. Wir haben unser Album ja „Unsung Prophets & Dead Messiahs“ genannt – sie sind die „toten Messiasse“. Diese Revolutionäre, die alle ermordet wurden. Wenn du Martin Luther King in die Zeiten der Bibel setzt, wäre er wie Jesus. Es waren nur andere Zeiten, die aus ihm Martin Luther King gemacht haben, aber er war der gleiche Typ Revolutionär, er hatte den gleichen Einfluss auf seine Anhänger. Jeder andere der Genannten, Che Guevara, Mahatma Gandhi, sie hätten alle dieselbe Rolle wie Jesus in seiner Zeit eingenommen. Ich habe sie „Dead Messiahs“ genannt, weil es sich poetisch anhört.
Du hast das, was Du gerade ausgeführt hast, auch im Booklet zum neuen Album skizziert. Deine Ausführungen enden mit den Worten „enjoy the ride“. Was wünschst Du Dir denn, wie die Hörer reagieren?
Ich mag es nicht, wenn Leute sagen: ‚tu dies, tu das‘. Wie das beispielsweise Geistliche machen – ‚wenn du dies nicht machst, wirst du in der Hölle schmoren, und Jesus wird dich nicht retten. Du bist nicht jüdisch, wenn du das hier nicht machst.‘ Ich möchte nicht so sein, ich protestiere dagegen. Ich möchte den Leuten nicht sagen, dass sie aufwachen sollen. Natürlich möchte ich, dass sie aufwachen, aber ich muss ihrer Intelligenz vertrauen. Sie sind frei, selbst zu wählen. Ich schreibe die Texte, gestalte das Artwork, singe und schreibe die Liner-Notes und sage nur „enjoy the ride“. Jeder kann selbst entscheiden, ob das kompletter Blödsinn oder großartig ist.
Was ich nicht mag, ist Dummheit. Was ich mag, ist, wenn die Meinung anders ist als meine. Es ist erstaunlich: Wir können miteinander sprechen und am Gespräch wachsen. Ich möchte nicht, dass jeder das Gleiche denkt wie ich. Aber wenn jemand seine Meinung auf Dummheit gründet, dann kann man auch nicht miteinander reden. Ich kann niemandem meine Meinung aufdrücken. Ich hoffe aber, dass die Leute durch das Album nachdenken. Ich hoffe, dass die Leute Hoffnung aus dem Album ziehen, das kann Musik manchmal bewirken. Und ansonsten können sie damit machen, was sie wollen.
Nochmal zur Allegorie des Plato: Er hat das Gleichnis als Teil seines Werkes zum perfekten Staat geschrieben. Er hat also einen gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel, wo es um den Einzelnen nicht geht.
Er hat die Allegorie geschrieben, weil er nicht verstehen konnte, wie man Sokrates gehen lassen konnte. Die Allegorie erzählt, dass die Menschen in einer Höhle geboren wurden, an den Händen angekettet. Sie können nur auf eine Wand schauen, und hinter ihnen ist ein Feuer. Alles, was sie sehen können, sind also nur Schatten an dieser Wand. Wenn ich also hinter ihnen entlang gehe, sehen sie nur meinen Schatten, der durch das Licht vom Feuer auf die Wand projiziert wird. Da sie aber in der Höhle geboren wurden, kennen sie nichts anderes und denken, das sei die Wahrheit. Es ist die einzige Wahrheit, die sie kennen.
Eines Tages wird einer dieser Menschen von den Fesseln gelöst, man weiß nicht wie, das ist nur die Allegorie. Er beginnt, aus der Höhle zu gehen. Als er draußen ist, sieht er die Wolken, die Bäume, das grüne Gras, die Tiere. Alles, was er bislang nur als Schatten sah, sieht er jetzt im Licht. Er sieht die wahre Welt, und er versteht, dass alles, was er bislang gesehen hat, nur der Schatten der Wahrheit ist.
Also ist das erste, was er denkt: Ich muss zurück in die Höhle, ich muss meine Brüder in der Höhle retten. Er geht also zurück in die Höhle und sagt zu den anderen: Hört, lass uns aus dieser Höhle gehen, draußen ist eine wunderschöne Welt. Dies hier ist nicht die Wahrheit, dies ist nur ein kleiner Teil des gesamten Bildes. Ihr müsst mit mir kommen. Ihr werdet mir dankbar sein. Sie aber denken nur: Er ist verrückt. Und sie töten ihn. Das ist die Allegorie. Aber das ist Sokrates passiert, Mahatma Gandhi… denn sie sind rausgegangen und waren wie Anführer und haben das Licht gesehen und waren eine Art Messias. Sie haben die Wahrheit gesehen und wollten ihre Leute zu einem besseren Leben führen. Und die Leute denken, dass sie verrückt sind.
Es geht um menschliches Verhalten, es ist immer so, schau mal in die Bibel: Moses wendet sich an die Leute Israels und sagt ihnen: Ich werde euch aus Ägypten führen. Ihr müsst nicht die Sklaven des Pharaos sein. Was sagen sie ihm? Nah, lieber das Übel wählen, das man eh schon kennt. Klar bin ich Sklave, aber hier ist mein Bett und mein Essen. Ich bin daran gewöhnt. Du willst uns über das Meer führen, durch die Wüste, durch das Unbekannte… Du magst zwar sagen, dass dort das versprochene Land ist, aber ich will lieber hier in Ägypten bleiben.
Das ist das, was sie sagten, das ist das, was die Leute in der Höhle sagten, und das ist das, worin die Menschheit gefangen ist. In dieser Dunkelheit, in dieser Höhle. Schau dir die Geschichte an: Es gab immer und immer wieder Revolutionen. Es hätte doch für alle besser werden sollen, für die Kinder in Syrien, für die Kinder Indien, für die Frauen, die als Prostituierte verkauft werden. Es hätte doch besser werden sollen, ohne Waffen, ohne Kriege, ohne Stalin und Hitler. Es hätte doch besser werden sollen – aber das ist es nicht. Wir sind immer noch in dieser Höhle gefangen und kommen nicht heraus. Und wenn jemand kommt, um uns herauszuführen – peng – töten wir ihn.
Aber es reichen ja immer nur einzelne Personen aus, die diese Anführer töten. Das bedeutet, dass man alle Leute mit seiner Idee mitnehmen muss. Wie soll das bewerkstelligt werden?
Der erste Schritt ist, allen Leuten klarzumachen… Albert Einstein hat einmal gesagt: ‚Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen, die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.‘ Weil die Leute, die Böses tun, in der Minderheit sind. Islamistische Terroristen sind in der Minderheit. Das sind ja nicht alle Moslems. Stell dir vor, es gibt einen islamistischen Terroranschlag und alle Moslems gehen auf die Straße und protestieren: ‚Das ist nicht Islam, wir sind gegen euch. Wir verdammen euch. Sprecht nicht über eure Taten im Namen des Islam. Sprecht nicht in unserem Namen.‘ Es würde eine unterschiedliche Meinung über Moslems und Terror geben, vielleicht würde es keinen Terror mehr geben, jedenfalls keinen Terror im Namen des Islams.
Einstein sagte also, die Welt wird nicht durch die Menschen zerstört, die Böses tun, sondern durch die Menschen, die nichts tun. Das mit dem Terror war jetzt nur ein Beispiel. Sie machen nichts. Na klar, sie sind dagegen, ja, sie wollen das alles nicht, aber sie tun nichts dagegen. Es ist eine Botschaft an die Menschen. Sie machen nichts gegen die Zustände, sie ändern nichts, sie sind in Propaganda gefangen. Sie beschäftigen sich lieber mit Reality TV… ich habe diese Frage bislang in jedem Interview gefragt – ich habe diesen Test gemacht und bin bislang immer gescheitert: Wusstest Du, dass in Indien jedes Jahr 70.000 Kinder entführt werden, um sich an ihnen zu vergehen, um ihnen Organe zu entnehmen, um sie als Bettler auf die Straße zu schicken? 70.000 Kinder jedes Jahr. Wusstest Du das?
Nein.
Ich wusste das auch nicht. Wissen wir aber, wer Kim Kardashian ist? Natürlich, weil sie es uns in unserem Kopf eingepflanzt haben. Weil sie entscheiden können, ob sie uns über diese Kinder berichten oder nicht. Vielleicht könnten wir etwas dagegen machen, wenn wir zusammenstehen würden. Aber das ist nicht das, was im Bewusstsein ist. Sie erzählen uns lieber, dass der Hintern von Kim Kardashian fett ist, dass sie Kaffee getrunken hat, dass sie dieses Shirt getragen und dort gesessen hat… sie tun Drogen in unsere Gemüter, so dass sie weiterhin die bösen Sachen tun können.
Ich habe dir von den toten Messiassen vom neuen Album erzählt. Der Name ist aber „Unsung Prophets & Dead Messiahs“. Es gibt aber auch „unbesungene Propheten“. „Brave New World“ von Huxley beispielsweise oder „1984“ von Orwell sind auf ihre Weise Prophezeiungen. Sie zeigen auf, was kommen könnte. Huxley schreibt in „Brave New World“, dass in der Zukunft auf Demonstrationen die Polizei dich nicht mehr schlagen oder erschießen wird. Stattdessen werden sie Drogen in die Luft blasen, und wenn die Demonstranten das einatmen, werden sie glücklich und gehen nach Hause.
Nun, in dieser Weise passiert es nicht. Aber es passiert in einer Art, dass die Medien und der Gossip unsere Gedanken in Beschlag nehmen. Big Brother, Reality TV, Survival Reality TV, Kim Kardashians Arsch, Justin Biebers neues Auto und so weiter und so fort. Aber wie viele von uns wissen von den Kindern in Indien? Viele gute Leute würden etwas dagegen tun, wenn sie davon wüssten. Aber sie setzen andere Themen in die Schlagzeilen. Es ist so als wenn sie uns unter Drogen setzen würden. Beschäftigt euch mit diesen Dingen, während unser System so weiterläuft wie bisher. Das ist das Konzept unseres Albums, das ist die Höhle, wir sitzen in dieser Höhle. Und wir gehen nicht aus dieser Höhle, und diese Dinge sind wie die Schatten in dieser Höhle. Und wenn uns jemand aus dieser Höhle führen möchte, endet derjenige als tote Person.
Wie dieses Mädchen aus der Moschee. Sie will einen anderen Islam zeigen, der offen ist und Andersdenkende akzeptiert. Ich bin ein jüdischer Kerl aus Israel, ein Metalhead mit Tätos – sie haben mich willkommen geheißen. Aber sie bekommt Morddrohungen. Weil die Welt in dieser Propaganda gefangen ist.
Was wären denn gute Wege aus dieser Gefangenschaft?
Während des Zweiten Weltkriegs gab es einen Waisenhaus-Leiter, einen bewundernswerten Menschen, der mich sehr inspiriert hat. Sein Name war Janusz Korczak. Er begleitete alle seine Kinder ins Vernichtungslager. Er endete wie sie in den Gaskammern. Es ging ihm sehr um Erziehung und Bildung. Er sagte: ‚Eine bessere Zukunft für die Menschheit hängt nicht so sehr von dieser Partei oder Monarchie oder dem rechten Flügel oder dem linken Flügel ab. Es hängt von der Erschaffung eines besseren Menschen ab. Und ein besserer Mensch wird durch Bildung geschaffen.
Um mal ein Beispiel zu nennen: Die ersten Spielzeuge, die ich hatte, waren Spielzeugwaffen. Eine Wasserpistole, ein Computerspiel, bei dem man das nächste Level erreicht, wenn man alle Leute tötet. Wir denken, es ist bloß ein Spiel, das ist das, was die Eltern sagen, lass ihn spielen. Aber es ist kein Spiel, weil es die Saat von Gewalt in die Köpfe von Kindern pflanzt. In der Zeit könnte man doch so viele andere Sachen machen – Yoga oder lernen, wie man spricht und dem anderen zuhört, man könnte doch seinen Verstand weiterentwickeln, und nicht gerade mit Waffen. Aber es wird in jungen Jahren bereits in unsere Köpfe und unsere Spiele gepflanzt. Das ist Erziehung und Bildung. Wenn du erwachsen bist – ich komme aus Israel und war Soldat – ist die Waffe dann plötzlich real, und ich sollte mein Land verteidigen. Es hieß: ‚Die Araber wollen uns töten. Du musst also in die Armee gehen. Wenn du nicht gehst, werden sie uns töten.‘ Das ist ein chaotisches System. Wir brauchen also Bildung.
Stell dir vor, die Welt trifft eine Entscheidung: Wir akzeptieren keinen einzigen weiteren Kriegstoten mehr.
Das ist eine Utopie.
Es ist eine Utopie. Aber warum nicht? Warum nicht? Schau, was passiert, wenn die Welt etwas entscheidet: Die Welt hat vor ein paar Jahren entschieden, dass nicht mehr im öffentlichen Raum geraucht werden soll. Als ich Kind war, habe ich im Flugzeug geraucht. Jetzt geht das nicht mehr. Es ist nicht hundertprozentig, aber besser. Das hat doch auch funktioniert, weil es eine weltweite Übereinkunft gab. Wenn wir jetzt also sagen: Wir können keinen weiteren Menschen mehr töten und Anstrengungen unternehmen, um das zu unterbinden. Wenn es also die Voraussetzungen nicht mehr gibt, das zu tun, und wenn wir die Kinder dahin erziehen, das nicht zu tun. Aber es gibt keine Entscheidung darüber. Weil die Politiker es nicht wollen. Aber wir können es. Wir können es. Wir können den Kindern in Indien helfen, wenn wir anfangen, uns damit zu beschäftigen und nicht mit dem Arsch von Kim Kardashian. Wir können das gegenseitige Töten beenden, wenn wir in der Schule lernen, miteinander zu reden. Uns gegenseitig zu verstehen.
Etwas, was ich an den Deutschen bewundere, ist, wie sie die Fehler des Zweiten Weltkriegs erkannt und verstanden haben. Und sie haben dadurch etwas verändert. Ja, es war furchtbar, was passiert ist. Aber ihr habt das nicht gemacht und aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Das ist etwas, was man bewundern kann. Schau heute auf Israelis und Deutsche. Wir können uns als Israelis in Deutschland aufhalten, wir haben eine deutsche Plattenfirma, wir spielen in Deutschland, Israelis leben in Berlin, Israelis und Deutsche schlafen miteinander, rauchen zusammen Hasch, machen also alles zusammen, was die Großeltern nicht gemacht haben. Weil wir es überwunden haben. Deutsche haben bereut und aus den Fehlern gelernt, und die Juden haben vergeben. Die Welt sollte sich lehren, aus den eigenen Fehlern zu lernen und daran zu wachsen. Aber was wortwörtlich passiert, ist, dass wir seit 2.500 Jahren in dieser Höhle Platos feststecken.
Du kannst mit Deiner Band fast in der ganzen Welt umherreisen. Ist das Deine Art dazuzulernen?
Ja. Der größte Lehrer oder Rabbi – ich bin jüdisch – ist meine Band. Dadurch, dass ich mit unseren Fans gesprochen habe, habe ich sehr viel von ihnen gelernt. ORPHANED LAND existiert jetzt seit 26 Jahren. Vor zwei Jahren habe ich einen syrischen Fan gesprochen, einen Flüchtling, und ich habe ihm gesagt: ’24 Jahre mache ich jetzt schon Musik, aber ich habe damit nicht ein Leben eines Kindes in Syrien retten können.‘ Er sagte mir: ‚Das kannst Du nicht wissen. Was Du aber weißt, ist, dass Deine Musik den Menschen Hoffnung gibt – wie zum Beispiel mir. Und Du weißt nicht, ob Deine Musik nicht jemanden abgehalten hat, jemanden anderen zu töten. Weil er dieselbe Hoffnung spürt. Das kannst Du nicht wissen. Niemand wird es Dir erzählen. Aber Du gibst den Leuten Hoffnung.‘ Das hat mich lange beschäftigt und mir Stärke gegeben weiterzumachen. Das habe ich von den Fans gelernt.
Und anders herum hast Du mit Deiner Musik auch niemandem geschadet.
Ja, und selbst wenn Bands über Mädels, Biertrinken, Party oder eine schöne Zeit singen, ist das doch auch gut. Ich habe da nichts gegen. Du hast eine schöne Zeit, vergisst für ein paar Momente deine Probleme, die Weltprobleme, trinkst ein paar Bier und bist betrunken – alles gut. Das ist zwar nicht das, was ich mache, aber ich denke auch nicht, dass alle Leute das machen müssen, was wir machen.
Du hast vorhin gesagt, dass Du ein Metalhead warst und bist. Worum geht’s dabei für Dich? Was macht einen Metalhead aus, und hat sich das bei Dir weiterentwickelt?
Ich würde sagen, dass das ein Lebensstil ist. Ich halte Metaller für sehr koexistierende Leute. Ich habe noch nie von Bandenkriegen in Wacken gehört… klar, wenn man betrunken ist, passieren schon mal Sachen, aber ich habe noch nicht von Morden gehört. Sicher, das mag es schon mal gegeben haben, weil Arschlöcher überall sind, aber wenn man die Metalszene mit anderen vergleicht, ist sie doch eine sehr friedliche Szene. Die Leute mögen zwar aussehen, als ob sie gewalttätig sind, aber sie sind doch eher friedlich. Sie akzeptieren sich gegenseitig.
Wir haben in Wacken gespielt, und vor mit in der ersten Reihe haben Fans sowohl die israelische als auch die libanesische Flagge hochgehalten. Direkt nebeneinander, obwohl sie auch getrennt hätten stehen können. Israel und Libanon sind als Staaten verfeindet. Das ist nicht wie bei Borussia Dortmund- und Bayern München-Fans. Das ist nur Fußball, aber das ist größer, ganze Länder im Kriegszustand. Das ist aber Metal. Ich glaube, dass Metal friedlicher und akzeptierender als ORPHANED LAND ist. Es ist eine Gemeinschaft, fast schon wie eine Religion, weil man einen Metalhead durch den Dresscode, Tätos und Haare – jedenfalls häufig, nicht immer – schon aus Kilometern Entfernung erkennen kann. Es ist auf jedenfalls offensichtlicher als bei einem Jazz-Fan. Aber durch diesen Dresscode kann man einen Metalhead wie einen orthodoxen Juden oder einen Moslem erkennen. Aber es ist ein guter Dresscode, weil er nicht sagt: ‚Wenn du Metal nicht hörst, wirst du in der Hölle schmoren.‘ Es ist vielmehr eine Einladung dazuzukommen. Es zieht dir nicht das Geld aus der Tasche, es sagt dir nicht, dass Gott nur ihnen gehört… es ist eine gute Gemeinschaft. Es ist in einer Art wie eine gute Religion. Es ist ein Lebensstil. Ich würde das niemals aufgeben wollen, es ist das beste Podium, um meine Botschaften zu sagen.
Wie war es, als Du jünger warst? Wie bist Du Metalhead geworden?
Ich hatte das Gefühl, dass alles falsch war. Und ich hatte das Gefühl, dass Metal – wie Metaller das ausdrücken – ‚true‘ ist. Ich hatte den Eindruck, dass der Metal weniger Kompromisse eingeht, keinen Wert auf Radiotauglichkeit legt. Ich fühlte, dass das der echte Scheiß ist. (lacht) Und dabei bin ich bis heute geblieben, es hat mein Leben komplett geändert.
Vor ein oder zwei Jahren habt Ihr in Essen ein Konzert gespielt, und dort waren Flüchtlinge aus Syrien eingeladen.
Ja, sie haben uns nach dem Auftritt Blumen überreicht. Und… (überlegt) Schau dir diese Ironie an. Sie sind wegen des Kriegs aus ihrer Heimat geflohen. Sie hätten uns in Syrien niemals sehen können, obwohl wir eine Menge Fans in Syrien haben. Sie mussten sozusagen erst fliehen und nach Deutschland kommen, um ORPHANED LAND zu sehen, was ihr Traum war. Das ist Ironie. Aber trotz allem, was passiert ist, ist ein Traum wahr geworden. Das ist in einer Art erstaunlich. Dass etwas Gutes aus solch einer schlimmen Situation entsteht. Bei jeder Show in Deutschland warten Flüchtlinge an unserer Garderobe. Teilweise warten sie drei Stunden in der Kälte, nur um uns zu treffen. Bei einem Auftritt ist ein syrisches Mädchen mitten im Lied auf die Bühne gestürmt, hat mich umarmt und angefangen zu weinen. Sie hat mich das ganze Lied über umarmt und geweint.
Was könnte ich im Leben anderes machen? Etwas besseres? Ich kann mir nichts vorstellen. Ich bin glücklich. Es ist eine beschissene Welt, aber ich bin glücklich mit dem, was ich mache.