Obituary
"Man kann mittlerweile ja nicht einmal mehr vor die Tür treten, ohne irgendetwas einzuatmen, das uns umbringt!"

Interview

Die gekrönten Götter des bitterbösen, magenumdrehenden, riff-betonten Florida-Death-Metal OBITUARY veröffentlichen demnächst Ihr heiß ersehntes, elftes Studioalbum „Dying Of Everything“. Ein Vorab-Hören der Platte verspricht einiges: Es wird schnell, es bleibt angepisst. Es werden feine Details zu finden sein, aber auch eine Menge OBI-DNA. Während die Band auf US-Tour mit AMON AMARTH, CARCASS und CATTLE DECAPITATION ist, haben wir die Chance genutzt und einen Plausch mit Bandgründer, Schlagzeuger und Charmebolzen Donald Tardy gehalten.

Der Tourbus hat gerade irgendwo geparkt, während Tardy die Scheiben verdunkelt. Wie immer hat der den meterlangen Bart zu einem Zopf gebunden und blickt ein wenig müde in die Kamera. Natürlich kann dieser Eindruck auch dadurch entstanden sein, weil das Platzangebot in dem ansonsten sehr komfortabel wirkenden Nightliner begrenzt ist und der Drummer ganz nah an die Linse rücken muss.

Laut Donald ist es alles in allem großartig wieder auf der Bühne zu stehen, auch wenn die Band nicht so lange warten musste, wie die meisten anderen. „Das gute an der Sache ist, dass wir relativ früh mit Zakk und den Jungs von BLACK LABEL SOCIETY in dem Moment auf Tour gehen konnten, sobald es wieder erlaubt war,“ fügt er mit einem Leuchten in den Augen an. „Es ist schwer zu glauben, aber OBITUARY haben seitdem etwa 120 Shows in Amerika gespielt.“

Gleichzeitig entging es den Death-Metal-Veteranen im fernen Florida aber nicht, dass die Eventbranche in Europa einen Kollaps erlitt. „Und genau deshalb haben wir das neue Album zwei Jahre lang zurückgehalten“, so Donald Tardy. Auch wenn es das natürlich scheiße gewesen sei, ist der Band diese Entscheidung nicht schwer gefallen. „Mein Bruder und ich waren uns einig darüber, dass wir das Album nicht veröffentlichen würden, bis Europa seine Pforten wieder geöffnet hätte.“

Natürlich liegt es für eine Band in so einer Phase aber nahe, das neue Material zumindest auf seine Live-Tauglichkeit zu testen, was Donald gerne bestätigt: „Ja, wir spielen „The Wrong Time“ und die Reaktionen sind wirklich großartig. Wir dachten uns schon, dass der Song auf dieser Tour guten passen könnte, denn immerhin sind AMON AMARTH-Fans zwar Heavy-Metal-Liebhaber, aber mehrheitlich wohl nicht auf Florida-Death-Metal fokussiert. „The Wrong Time“ steht für den groovigen, schweren Sound von uns und die Reaktionen sind großartig.“

Sänger John Tardy hat kürzlich wieder bestätigt, dass er mit OBITUARY nicht weitermachen würde, wenn es keinen Spaß mehr macht. Mit „Dying Of Everything“ erscheint nun das elfte Studioalbum und eine gewisse Routine kann man der Band nach knapp 30jährigem Bestehen sicherlich nicht absprechen. Donald Tardy sieht das so: „Nun, das Songwriting ist einfach sehr natürlich für uns geworden. Wir bauen dabei keinen Druck auf und haben eine gute Zeit. Über die Jahre haben wir gelernt, dass es niemandem hilft, Druck auf sich selbst oder eine junge Band auszuüben. Dadurch schreibt man einen Song nicht schneller.“ Es gehe letztlich auch tatsächlich um den Spaß an der Sache. „Die Fans kommen abends von der Arbeit und legen ein Album auf und wollen der Realität entfliehen und genau das tun wir auch, wenn wir ins Studio gehen“, unterstreicht Tardy diese bodenständige Einstellung.

Als 1992 „The End Complete“ veröffentlich wurde, machte in der Fachpresse jene These die Runde, dass der Albumtitel sich auf ein mögliches Ende der Band beziehen könnte. „Dying Of Everything“ kann unter Umständen eine ähnliche Assoziation hervorrufen, was Tardy so allerdings nicht bestätigen möchte. „Ach, ich glaube, dass das einfach nur ein guter Albumtitel ist. Es geht ja darum, was alle geraden erfahren. Nicht nur OBITUARY oder die Musikszene, sondern wirklich jeder. Alle Menschen auf der Welt haben zwei Jahre voller schlechter Nachrichten hinter sich. Corona hier, Social Distancing dort, Maske tragen, keine Maske tragen, Booster und der ganze Scheiß. Man kann mittlerweile ja nicht einmal mehr vor die Tür treten, ohne irgendetwas einzuatmen, das uns umbringt. Insofern stirbt irgendwie alles. Der Titel passt aus meiner Sicht also perfekt zu unserer Zeit.“

Das Frontcover zu „Dying Of Everything“ ziert ein Ölgemälde mit Pastellfarben, das auf den ersten Blick eine relativ grobschlächtig dargestellte Burg zeigt. Erst beim genaueren Betrachten offenbaren sich Details wie ein Fackelzug und eine gleißende Sonne im Zentrum. Denkt man an die üblichen Death-Metal-Covers aus dem Hause Dan Seagrave (u. a. „Left Hand Path“, „Like An Ever Flowing Stream“), lässt dieses Werk zunächst keine Zuordnung in eine bestimmte Ablage zu. Donald Tardy berichtet, dass das Bild von einem polnischen Künstler namens Mariusz (Lewandowski, Anm. d. Red.) stammt, dessen Nachname allerdings für ihn selbst unaussprechlich ist. „Ich hielt den Kontakt per E-Mail mit ihm. Er kannte OBITUARY und hatte richtig Lust, mit uns zu arbeiten. Er bat uns darum, das Album vorab hören zu dürfen, und wir waren mehr als überwältigt, dass er darin die Grundlage für seine Arbeit sah. Er wollte die Songs hören und die Lyrics lesen und daraus eine Idee schöpfen. Als wir ihm dann sagten, dass das Album „Dying Of Everything“ heißen würde, war er sofort begeistert. Wir wussten, er würde etwas cooles umsetzen und ich könnte nicht glücklicher über das Ergebnis sein.“ Schlagartig scheint eine dunkle Wolke über Donald Tardy hinweg zu ziehen, als er weiter erzählt: „Tragischer Weise ist Mariusz unerwartet verstorben, kurz nachdem er das Cover an uns übergeben hat.“ Man glaubt Donald Tardy sofort, dass er wirklich geschockt ist über den Tod des Künstlers und dass er ihn gerne persönlich getroffen hätte. „Zumindest konnten wir ihm zeigen, wie begeistert wir von seiner Arbeit waren. Wir waren geradezu wie weggeblasen. Wenigstens wusste er das.“

Auf „Dying Of Everything“ setzen OBITUARY sicherlich keine neuen Maßstäbe in Sachen Kreativität. Aber das muss bei einer Band, die einen schon zu Jugendzeiten begleitet hat, auch gar nicht sein. Und trotzdem findet sich das ein oder andere Sahnestückchen und Novum. Der Opener „Barely Alive“ legt beispielweise ein Tempo vor, das man von dem Quintett bisher nicht unbedingt gewohnt war. Ein Statement wollten OBITUARY damit nach Aussage des Drummers aber nicht setzen. „Wir hatten bestimmt nicht vor, einen bestimmten Song zu schreiben um jedermanns Aufmerksamkeit zu wecken.“ Dennoch sei es tatsächlich nie eine Frage gewesen, mit welchem Song das Album beginnen würde. „Ich weiß auch nicht warum, aber das sind die wirklich schnellsten Double-Bass die ich bisher gespielt habe. Ich musste 52 Jahre alte werden, um diese Geschwindigkeit zu erreichen (lacht). Aber klar, der Song geht schon ab und dann ist da ja noch dieser slayereske Mittelteil. Auch wenn das nicht so gedacht war, aber der Track ist damit irgendwie schon ein Statement (lacht).“ Tardy berichtet darüber, dass sich die Band sofort einig darüber war und die sonst üblichen Streitereien, welcher Song an welcher Stelle des Albums platziert werden sollte, kamen gar nicht erst auf.

Auf die Frage, ob es musikalische Grenzen gäbe, erklärt Tardy, dass sich die Band keineswegs in eine Schublade stecken lassen werde. „Es wäre lächerlich „Sag niemals nie“ zu sagen.“ Außerdem sei es schon immer klar gewesen, dass die Band nicht zu viel nachdenkt, wenn es ums Songwriting geht. „Wir betreten das Studio oder den Proberaum jeden Tag mit einem frischen Geist und sind offen für alles. Trevor und ich machen uns ein kühles Bier auf und was dann passiert, passiert eben. Vielleicht entsteht ein Riff oder eine Idee am Schlagzeug und wir fokussieren uns darauf, aber wenn nicht… Kein Ding, es gibt ja immer noch ein morgen. Wie ich schon sagte: Druck hilft niemandem.“

In den nächsten Minuten lässt sich Donalds Redebedarf kaum bremsen und er fabuliert darüber, dass sich auf „Dying Of Everything“ eine Menge solider, grooviger OBI-Sounds befinden und das er selbst sehr stolz auf seinen Drumsound ist. „Und dann gibt es ja auch Songs wie „War“ mit diesem Breakdown und den unverzerrten Gitarren.“ Wie um den Song vorab live zu spielen, zitiert Donald seinen Bruder und intoniert den Chorus „War“ in bester Growling-Manier. Dann beatboxed er den Drumpart und gibt à capella zudem das Gitarren-Riff wider. Es ist einfach großartig ihn dabei zu beobachten. Gar spitzbübisch freut sich der gestandene Profimusiker über den Moment, in dem genau dieses Arrangement, jenes Schnipselchen entworfen wurde. Dabei geht er sehr ins Detail und spricht von Clean-Channels auf dem Masrshall-Topteil und ausgestöpselten Stratocasters und seine anfangs müde wirkenden Augen leuchten. „Ganz ehrlich, wenn da jemand sagt „das ist doch kein Death Metal“, sage ich: Fuck Off! (lacht)“. Donald erzählt weiter und lässt sich jetzt nicht mehr einfangen. Die Zeit während der Lockdowns habe man genutzt, jedes Detail der vorproduzierten Songs genauestens zu durchleuchten und so machte er Kenny Andrews den Vorschlag, gewisse Drumparts anstelle von Leadparts an der Gitarre zu ersetzen, was beim Saitenhexer natürlich nicht sofort für Begeisterungsstürme sorgte. Als man das Ergebnis aber das erste Mal gehört hatte, gab es kein Halten mehr. Man merkt sofort, dass hier Musiker mit Leib und Seele am Werk sind.

Obwohl Donald sich derart für den Song „War“ begeistert, liegt die Frage dennoch nahe, inwiefern der Track von den aktuellen Ereignissen in der Ukraine beeinflusst wurde. „Weißt Du, das Lied ist 1 ½ Jahre alt, entstand also lange vor der Sache in der Ukraine und hat nichts damit zu tun. Aber natürlich ist es ätzend, weil wir den Song einfach cool fanden und kein Krieg herrschte, als wir ihn schrieben. Es ist natürlich furchtbar, dass Krieg herrscht und gleichzeitig nervt es auch ein bisschen. Wir sind so stolz auf den Song und den Breakdown, von dem ich Dir gerade erzählt habe. Gleichzeitig wissen wir aber genau, dass wir keine Single daraus machen und kein Video dazu drehen können. Aber letztlich ist es einfach ein großes Unglück, dass überhaupt Krieg herrscht…“

Der langbärtige Drummer gibt später zu, dass es natürlich einfach wäre, all die Wut und das Angepisste in Johns Stimme auf die derzeitige globale Lage zu schieben, wobei OBITUARY vor dreißig Jahren genauso wütend und angepisst geklungen haben. „Aber jeder, der OBITUARY seit einer Minute, einem Jahr oder seit Jahrzehnten kennt, weiß, dass wir immer „Easy-Going“ waren. Sozusagen gutgelaunte Jungs. Wir können behaupten, ein ziemlich cooles Leben zu haben. Als Band und auf der Bühne und das bringen wir auch zum Ausdruck, wenn wir grinsen und dabei Death Metal spielen. John ist eigentlich weniger wütend, als das er eine extrem powervolle Stimme hat, deren Range sich vergrößert hat. Viele Death-Metal-Sänger haben zwar die Power, aber eben nicht die Reichweite wie John sie hat. Er kann tief growlen und ohne jede Anstrengung auch sehr hoch singen. Das ist großartig. Gerade in unserem Alter, nachdem wir das seit Jahrzehnten machen.“

Tardy stimmt der These nur bedingt zu, dass gerade der Umstand, dass OBITUARY unter anderem deshalb noch immer eine der wichtigsten Death-Metal-Bastionen sind, weil sie eben nicht bierernst okkulten Riten frönen und umgedrehte Kreuze in jeder Lebenslage präsentieren, sondern auch immer eine Prise Humor mit finsterer Musik verbinden. „Es liegt teilweise daran, dass wir immer noch gesund sind und eine gute Zeit miteinander haben, klar. Ein weiterer Grund dafür, dass wir immer noch da sind, ist aber auch, dass wir unseren Style nicht permanent ändern müssen. Wir haben auch früher schon gesagt, dass wir uns sehr wohl in unserer Haut fühlen. Letztlich schreiben wir immer noch Alben, die eine Relevanz besitzen. „Dying Of Everything“ ist ein sehr gutes Zeugnis dafür, wo wir in der Metalwelt stehen. Es ist ein Powerhouse. Für mich ist es eines der besten Alben, das wir unseren Fans geben können.“

Der Frage, ob es neue Cartoon-Videos wie zu „Violence“ und „10 000 Ways To Die“ geben wird, muss sich Donald natürlich stellen. Immerhin gibt es wahrscheinlich keine einzige Person auf dem Globus, die diese Clips nicht zumindest liebt. Er quittiert das zunächst mit einem herzlichen Lachen. „Wie ich schon sagte: „Sag Niemals Nie“. Aktuell sind wir ziemlich beschäftigt mit den Live-Streams und dem Fertigstellen des Albums. Das Video zu „Wrong Time“ haben wir direkt vor dem Tourstart mit AMON AMARTH gedreht.

Nachdem OBITUARY zuletzt 2018 mit SLAYER in Europa waren, werden sie zunächst im Januar und Februar zusammen mit HEAVEN SHALL BURN, TRIVIUM und MALEVOLENCE zurückkehren. An einer Headliner-Tour arbeitet die Band aber bereits.

 

20.12.2022

Left Hand Path

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