Nucleus Torn
Nucleus Torn
Interview
Nach zwei verschobenen Interviewterminen mit NUCLEUS-TORN-Bandkopf Fredy Schnyder konnte am 30. April tatsächlich das Interview steigen. Nachdem die ersten drei Minuten mein Mikrofon nicht aufnahm und alles noch mal von vorne beginnen musste, folgte fast eine Dreiviertelstunde spannender Plausch über NUCLEUS TORN, Rezeption des Hörers, einzureißende Mauern und Musik als Selbstbefriedigung…
(Lacht) Sagen wir es mal so: Morgen haben wir in der Schweiz auch frei, aber ich werde heute Abend arbeiten. Auf der einen Seite werde ich die Abschlussprüfung vorbereiten, die ich dann im Herbst habe. Zum anderen will ich die Gitarrenparts für das neue NUCLEUS-TORN-Album weiter komponieren. Von daher könnte man sagen, dass ich ein bisschen fürs Studium und ein bisschen für die Musik arbeite.
Glückwunsch erst mal zum neuen Album. Die Frage nach der Bandgeschichte erspare ich Dir mal, die kann man vielerorts im Internet, auch in unserem letzten Gespräch, ausführlich nachlesen. Sag mir doch erst mal, wie sich das so anfühlt, wo „Knell“ nun schon eine Weile draußen ist.
Es sind gemischte Gefühle, die ich im Moment empfinde. Auf der einen Seite ist es antiklimaktisch, Promotion für ein Album zu machen, das man mit einem großen Adrenalinschub ein halbes Jahr zuvor fertiggestellt hat. Gerade im Fall von „Knell“ war das Abschließen schwierig, da der Mix fast das Schwerste war, das ich jemals gemacht habe. Ich wollte die Klänge einerseits zu einem homogenen Ganzen bündeln, andererseits aber auch die Heterogenität des musikalischen Materials in einem ausreichendem Maß betonen.
Ein tolles Erlebnis war es, das Album nach mehreren Monaten wieder anzuhören, auf einer sensationell guten Stereoanlage eines Freundes. Da konnte ich endlich genießen, wie alles gepasst hat.
Eben gemischte Gefühle: Dieses tolle Ereignis vor etwa ein, zwei Wochen, parallel dazu halt eben die Promotion, die Spaß machen kann, die aber immer etwas betrifft, mit dem man bereits mental abgeschlossen hat.
Letztes Mal hattest Du erwähnt, dass der Arbeitsprozess am Album schon ziemlich lange dauert. Wie lange hat sich die Arbeit an „Knell“ nun tatsächlich hingezogen?
Die ältesten Parts von „Knell“ sind uralt und stammen aus dem Jahr 1997. Mit der konzeptionellen Struktur des Albums begonnen habe ich im Herbst 2004. Die ersten Aufnahmen verbunden mit der Vollendung des Songwritings fanden im Frühling und Sommer 2005 statt. Mix und Mastering beanspruchten den ganzen Herbst 2007. Von daher sind das insgesamt mehrere Jahre, wie schon zuvor bei „Nihil“.
Gab es Phasen, in denen Du davor warst, alles hinzuschmeißen, oder lief es eigentlich die ganze Zeit über mehr oder minder gut?
Oh, oh, oh… Nein, bei „Knell“ lief es nicht durchgehend gut. Was soll ich jetzt sagen, ob ich wirklich überlegt habe, die Sache hinzuschmeißen? Nein! Das habe ich nicht, weil dafür war ich einfach viel zu begeistert von der Musik, aber zum Teil war ich wirklich nahe dran, wo ich überlegen musste: Wollen wir uns das antun, „Knell“ überhaupt fertigzustellen?
Denn es war gewissermaßen das Ziel, ein Album zu machen, das Brüche aufweist,das eben fertig ist in einer Nichtabgeschlossenheit, das offen bleibt. Der Hörer selber sollte das Album quasi abschließen und für sich vollenden. Das Schwierige war aber, dies unter einen Hut zu bringen mit dem künstlerischen Anspruch. Schließlich möchte man als Künstler etwas fertiges, etwas abgeschlossenes präsentieren.
Abgesehen von diesem künstlerischen Anspruch war es schlicht und einfach eine Qual, das Album zu mischen. Zuerst muss man zig Komponenten zusammentragen, und zum Abschluss dann noch homogen zusammenfügen… das dauert immer eine Weile und kostet Zeit und Mühe.
Aber rückblickend hat es sich ja gelohnt.
Auf jeden Fall. Definitiv, ich bin mit „Knell“ zufrieden.
So ein Album wie „Knell“, kann man das überhaupt durchschnittlich finden, wenn man sich da richtig drauf einlässt. Kann man sagen: „Ja, das geht so.“ Oder muss das polarisieren? Muss man sagen: „Das ist der Hammer!“ oder „Das kann ich mir nicht antun!“
(Lacht) Das war sogar eines der Ziele. Ich wollte ein Album schaffen, das polarisiert. Ich wollte wirklich, dass die Leute entweder sagen: „Das finde ich fantastisch!“, oder „Meine Güte, so ein Müll!“. Und ich denke, diese Strategie hat sich gelohnt. Man sieht es ein bisschen an den Reviews: etwa 90% der Reviews sind zum Glück sehr positiv bis begeistert, und dann gibt es zehn Prozent, in welchen gemeckert wird. Das gehört zum Konzept das Albums dazu, das ist absolut wichtig für mich. Wer sich „Knell“ nicht öffnet, „Knell“ nicht widmet und nicht bewusst versucht, dieses Werk zu interpretieren, also Arbeit zu investieren, der kann das Album gar nicht gut finden. Unsere Musik funktioniert nicht, wenn man sich nicht darauf einlässt. Man muss sich wirklich hinsetzen und bewusst versuchen, die thematischen Zusammenhänge der einzelnen Parts zu rekonstruieren. Wer das nicht tut, der verpasst vieles, das unsere Musik ausmacht. Ich denke auch, dass man das Album nur dann wirklich schlecht finden kann, wenn man das überhaupt nicht tut.
Du polarisiert allgemein ziemlich gerne, schätze ich. Eckst Du einfach gerne an oder ist das Polarisieren nur ein zwangsläufiges Ergebnis Deiner Kunst, nicht gewollt herbeigeführt?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke, dass nicht ich als Mensch irgendwo anecken muss, aber Kunst generell sollte anecken. Ich will die Hörgewohnheiten des Publikums herausfordern und gleichzeitig auch so verändern, dass die Hörer offener werden. Klar ist das auf wenige Personen beschränkt, denn es ist eine Tatsache, dass die meisten Leute lieber das hören, was sie schon kennen. Dennoch gibt es eine gewisse Hörerschicht, die wir damit erreichen können und die es auch mag, wenn man quasi mit ihrer Erwartung spielt und sie beispielsweise ganz bewusst auf den Kopf stellt. Und ja, ich bin überzeugt, dass NUCLEUS TORN als künstlerisches Objekt in dieser Hinsicht anecken müssen, ganz richtig.
Gut, das passt auch zur nächsten Frage. Dass ihr mit Eurer Musik teilweise auch auf vehemente Ablehnung stoßt, ist sicher auch eine Art Szeneproblem. Eure Musik sprengt Genregrenzen, nur wollen die Menschen, die sich innerhalb dieses Genres/dieser Szene bewegen oft partout nicht über ihren eigenen Tellerrand hinwegschauen. Für den Klassikhörer seid Ihr dann nicht anhörbar, weil laute E-Gitarren Verwendung finden – der durchschnittliche Metalfan lehnt Euch wegen der ungewöhnlichen Instrumentierung ab. Ist das nur eine Vorstellung meinerseits, oder ein Problem, das Du so auch siehst?
Ich sehe das Problem wie Du. Leider. Absolut leider. Interessanterweise habe ich den Eindruck, dass wir bei den Metalfans oder Gothicfans eher auf Zustimmung stoßen als bei den 08/15-Klassikhörern. Was aber ganz spannend ist: Ich kenne mehrere klassische Musiker, die finden „Knell“ sensationell, weil sie merken, dass da was Neues ist! Ich meine, die harmonischen Strukturen sind so komplex, wie es in der klassischen Musik vorkommt. Und wer sich als Klassikhörer an die ungewöhnliche Instrumentierung mit den elektrischen Gitarren einlässt, der gewöhnt sich früher oder später auch daran. Ich schätze uns nämlich durchaus wie ein Orchester ein, das Rockinstrumente verwendet. Die Wirkung ist halt eine andere.
Umgekehrt muss ich sagen, dass viele Metalhörer Mühe mit den komplexen harmonischen Strukturen haben. Wenn wir Metalparts haben, dann können die durchaus thrashig sein, die können durchaus sehr kraftvoll sein, die können schwarz sein – aber ich werde nie Powerchords verwenden, wie sie bei 99,9% der Metalbands Anwendung finden. Da spielt man einfach Quinten hoch und runter auf dem Griffbrett, das würde mich langweilen. Ich will als Musiker bei einem harten, metallischen Part die gleiche harmonische Komplexität verwenden wie bei den ruhigen Passagen. Es ist mir wichtig, dass alle Parts den gleichen kompositorischen Qualitätswert aufweisen. Ob das dann im Endeffekt noch Metal ist, noch Rockmusik ist, das ist eine ganz andere Frage. Viele Leute finden eigentlich, dass wir uns selbst in den metallischen Parts eher wie psychedelische Musik anhören oder auch wie klassische Musik, die man ganz anders instrumentiert hat.
Eure Musik ist ja im Grunde auch grenzensprengend.
Ja.
Was hältst Du denn allgemein von Musikszenen? Eher beschränkend wegen ihrer Grenzen, oder doch eine gute Sache, da für den ein oder anderen fast schon so etwas wie eine Heimat?
Ganz ehrlich gesagt: Ich kann die letztere Sichtweise aus der Retrospektive durchaus verstehen. Und zwar weil ich mit 15, 16 halt auch auf eine Szene fokussiert war. Dann findet man relativ leicht etwas, das einen anspricht und trifft Leute, die das Gleiche gut finden.
Heute aber, nach weiteren 13 Jahren, kann ich es überhaupt nicht verstehen, dass viele Leute – sogar noch in meinem Alter oder wesentlich älter – einfach nicht über den Tellerrand hinausschauen können. Wie kann man nur immer wieder einen neuen Aufguss der alten IRON-MAIDEN-Alben hören wollen? Und zwar nicht nur von IRON MAIDEN, sondern von allen anderen Bands auch. Das ist völliger Quatsch. Aus meiner Sicht haben Szenen stilistische Wälle gebaut. Das war mal lustig vor ein paar Jahren, weil man ganz einfach ein Element von einem Musikstil nehmen und weiterentwickeln konnte und dadurch einen neuen Stil schuf. Da hat man quasi eine neue Mauer in den Musikkosmos gebaut und dann gesagt: „Ich bewege mich jetzt nur noch in diesem Bereich, und das ist dann eine gewisse Art von Stil.“
Das war okay vor zwanzig Jahren, aber heute ist die Aufgabe von Musikern, von Künstlern allgemein und auch vom Publikum, diese Mauern wieder nieder zu reißen. Beim Beispiel Metalmusik: ich weiß nicht, warum Leute immer wieder diese Mauern brauchen noch außen. Ich habe natürlich ein paar Interpretationen dazu, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen.
Zum Vergleich: Klassische Konzerte dienen für eine große Menge Leute als Social Event, und das ist traurig, weil ich sehr gerne auf klassische Konzerte gehe und man merken muss, dass viele Leute nichts mit der Musik zu tun haben, sondern mit dem Event. Und das sollten sich ganz viele Metalhörer auch mal bewusst machen, wenn sie uniformiert auf Konzerte gehen.
Das mit den klassischen Konzerten kenne ich in ähnlicher Form aber auch. Das gibt es zum Beispiel auch bei Kunsteröffnungen ganz stark, bei Galerien… das ist auch so eine Sache. Gut, nächste Frage. Ich glaube, Ihr habt den Ansporn, Menschen fast aller Musikhörerschichten zu erreichen. Wie wollt ihr es erreichen, dass man außerhalb des Metal und Prog.-Rock Notiz von Euch nimmt? Prophecy ist zwar bekannt für musikalische Offenheit, aber dennoch im Metal verwurzelt und dort auch am bekanntesten…
(Unverständliches Geräusch)
Bitte?
Ich habe nur laut ausgeatmet, und zwar weil mich Deine Frage gerade vor ein großes Problem stellt. Und zwar, wie ich das jetzt beantworten soll… Meine Ambitionen liegen halt in erster Linie im künstlerischen Bereich und erst in zweiter, dritter Linie eben im kommerziellen Bereich.
Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt überall Leute erreichen will. Ich denke bloß ein paar Jahre zurück, denn ursprünglich wollte ich mit NUCLEUS TORN nur Musik machen, die für mich gedacht war. Ich wollte kleine Auflagen machen, einfach um Musik für mich zu haben – ein eigenes CD-Exemplar im eigenen Schrank und weitere die ich den Leuten um mich herum verteilen konnte. Und dann fand „Nihil“ halt Beachtung wurde gekauft. Ich hatte diese limitierte CD mit 500 Exemplaren, denn darunter lohnt es sich gar nicht, eine CD-Auflage herstellen zu lassen, und die hat sich ausverkauft. Und schließlich kriegten wir sogar noch einen Plattendeal mit Prophecy – aber da war kein Plan dahinter.
Das ist irgendwie passiert und selbst wenn wir jetzt ein professionelles Marketing haben und wenn ich regelmäßig Interviews gebe und das auch gern tue, ist es nach wie vor nicht das größte Ziel von NUCLEUS TORN, übermäßig viele Leute zu erreichen. Selbst wenn man weit über die Spielgrenzen heraus Promotion machen könnte, würde man trotzdem nur wenige Leute erreichen, z.B. in der Klassik. Wenn wir da nie reinkommen, können Prophecy nichts dafür, denn da sind andere Mechanismen am Laufen. Die Ablehnung gegenüber elektrischen Instrumenten viel zu groß, ebenso die Skepsis gegenüber Künstlern, die nicht etabliert sind. Man sieht es an Konzertprogrammen: da müssen einfach die großen Namen drauf. Punkt. In diese Vermarktungsstrukturen kommt man gar nicht rein. Und ganz ehrlich: da will ich auch nicht rein. Ich will nicht anfangen, Symphonien zu schreiben, um dem Klischee des klassischen Komponisten zu entsprechen und jahrelang zu hoffen, dass meine Musik eventuell mal irgendwo gespielt wird. Da könnte ich mir schon eher vorstellen, mal Filmmusik zu machen. Aber auch da gibt es standardisierte stilistische Mittel, die Du einsetzen musst, damit Du bestimmte Arten von Emotionen zum Film auslösen kannst. Aber jede Form von Standard ist meilenweit von dem weg, was ich erreichen will. Von daher veröffentliche ich meine Musik lieber unverfälscht, setze meine künstlerische Vision konsequent um und verkaufe nur im knappen vierstelligen Bereich.
Gibt es irgendein Ziel, etwas, das ihr mit eurer Musik erreichen wollt?
Ich will damit meine musikalische Vision klar ausdrücken, und zwar zum eigenen Vergnügen. Wenn es dann andere Leute hören und toll finden, das freut mich auch; aber im Endeffekt geht es mir primär immer um die eigene konkret umgesetzte Vision.
Du meinst also, man kann sagen, dass Musik Selbstbefriedigung ist?
(Lacht) Wenn Du das so willst, aber halt nicht im sexuellen Sinn.
Ja, klar. Im künstlerischen. Jetzt mal ein kleiner thematischer Sprung. Ist wahrscheinlich eine sehr schwierige Frage, mir zumindest fiele keine Antwort ein, aber Dir vielleicht… Musik, was ist das überhaupt?
Oh, tolle Frage! Fantastische Frage! Ich denke, Musik fängt immer mit Klang an, Klang in allen seinen Formen. Damit meine ich nicht eine bestimmte Tonhöhe, damit meine ich überhaupt keine bestimmte Frequenz – einfach Klang. Das kann alles sein. Ich denke, Musik kann beim Regentropfen anfangen, der auf den Boden fällt, auch Schweigen kann Musik sein.
Und dann sollte Musik vielleicht noch ein bisschen weiter gehen. Ich denke, sie bedingt die Kombination von Klängen und einer Struktur. Ja, ich denke, das ist es.
Kann man also sagen, dass die Natur selbst schon ein Konzert spielt, oder gehört da immer eine Hand dazu, die die Wellenbänder, die ja gegeben sind, formt?
Ich glaube, dass das Ohr, welches Klang als Musik wahrnimmt, die wichtigere Rolle spielt. Erst der Mensch, der Klänge hört und sie als Klänge wahrnimmt, kann daraus Musik formen. Erst die Rezeption, das Wahrnehmen von Musik, macht Musik aus.
Die These gibt es ja auch bei Büchern, dass erst der Leser das Buch wirklich macht – sein eigener Autor ist. Du meinst also, der Hörer selbst macht die Musik, zu dem was sie dann wirklich ist?
Davon bin ich völlig überzeugt. Auf mich haben diese Rezeptionstheorien einen großen Einfluss. Ich habe Literatur studiert und kenne mich mit den postmodernen Literaturtheorien gut aus. Die spielen bei mir eine große Rolle, wenn ich NUCLEUS TORN für mich selber anhöre und interpretiere.
Dieses ewige „Beschreib Deine Musik doch mal mit eigenen Worten!“, das kann ich im Grunde nicht mehr hören. Aber thematisch finde ich das ganz interessant. Darum mal eine abgewandelte Variante: Wie würdest Du Eure Musik einem Tauben charakterisieren, wie einem emotionslosen Menschen beschreiben?
Oh, das ist schwierig. Okay… Ich denke, einem tauben Menschen könnte man am ehesten mit einem Bild einen Eindruck von unserer Musik geben. Ich denke, unsere Musik hat, obwohl sie nicht übermäßig naturmystisch geprägt ist, einen starken bildlichen Charakter. Wenn ich persönlich „Knell“ höre, dann entstehen automatisch viele Bilder vor meinem geistigen Auge. Und zwar durchaus auch Naturbilder. Ich denke, „Knell“ hat diesen Charakter einer sehr zerklüfteten Felslandschaft, von Höhlen und tiefen Gewässern, ebenso von Höhen, die dem Wind ausgesetzt sind. Und genau gleich wie ich meine textlichen Charaktere durch diese Landschaften wandern lasse, geschieht das gleiche mit dem Hörer auf einer musikalischen Ebene auf einer akustischen Ebene. Und ja, ich denke so könnte man einem Tauben das Hörerlebnis schon mal recht gut beschreiben. Zudem müsste er noch ein Wechselbad von Gefühlen nachvollziehen können, dieses rasche Aufbrechen von negativen Gefühlen und dann die langsame Beruhigung zu einem schöneren oder zumindest ernüchterten Zustand.
Das heißt, Du würdest auf eine andere Ebene der Kunst wechseln. Von der musikalischen auf die optische.
Ja, denn ich bin überzeugt, dass das sehr eng zusammenhängt. Wie ich vorhin bereits in Bezug auf die Musik gesagt habe: Mauern müssten fallen. Es gibt auch überhaupt keinen Grund, weshalb man innerhalb der Kunst Mauern baut.
Das sieht man, glaube ich, auch an Euren Alben. Die sind ja immer sehr exklusiv aufgemacht, immer auch sehr extravagant. Ist das für Dich eine Einheit, das Artwork und die Musik, dass das einfach beides wirklich zusammenpassen muss und auch beides aufwendig sein muss? Das typische Metalartwork, das ist ja irgendein Splatterfoto, ein Bandfoto und ein paar Texte… das geht ja bei Euch darüber hinaus. Ist das eine Einheit, die für Dich immer zusammenpassen muss, für das perfekte Ganze?
Das darf man auf keinen Fall trennen. Ich denke, die Musik an sich, die steht halt in einem gewissen Grad im Zentrum von NUCLEUS TORN. Die selber muss natürlich die volle Wirkung entfalten. Wenn jemand bloß ein MP3 heruntergeladen hat, der kann sicherlich genau so viel Freude an der Musik haben, wie jemand, der auch das Artwork, das Original hat. Aber für mich als Musikliebhaber gehört es dazu, dass das Artwork die Qualität der Musik widerspiegelt und zwar auf jeder Ebene. Die Bilder müssen stimmen, das Layout muss stimmen, die Textur des Kartons – es muss einfach passen.
Jetzt zwischen den Künsten, glaubst Du, dass Musik größer ist als das geschriebene Wort und das Bild, oder glaubst Du, die sind gleichwertig, da gibt es keinen Unterschied?
Ich bin mir absolut sicher, dass die Künste gleichwertig sind. Meines Erachtens existieren diese drei unterschiedlichen Ausdrucksformen aus genau dem Grund, weil sie helfen, andere Dinge, andere Gefühle und Stimmungen auszudrücken. Die Musik kann Dinge ausdrücken, die man mit Worten nicht beschreiben kann. Wenn man inhaltlich mit Worten nicht mehr weiter kommt, kann man musikalisch auf eine andere Ebene der Emotionen kommen. Dafür können Worte viele Dinge ganz präzise ausdrücken. Das geht mit Musik kaum. Und das Gleiche gilt für die bildenden Künste oder die Malerei.
Glaubst Du, es gibt sowas wie eine gemeinsame Quelle, aus der alle Künste ihre Inspiration ziehen, sodass diese Künste nur Ausdrucksform dieser Quelle sind, oder glaubst Du, das ist grundlegend verschieden von Künstler zu Künstler?
Hm, schwierige Frage, die kann ich nicht wirklich beantworten. Das verbindende Element erkenne ich persönlich in der Wahrnehmung des Menschen seiner Umwelt, aufgrund welcher eine künstlerische Vision gestaltet wird. Darin liegt das künstlerische Element. Es kann ganz unterschiedliche Formen von Kunst geben, grundlegend geht es aber meistens darum, dass der Mensch etwas wahrnimmt, das in ihm einen künstlerischen Prozess auslöst und das er dann in irgendeiner Form ausdrückt.
Ich glaube, es geht fast immer um Emotionen.
Ja, sowohl abstrakte wie auch konkrete.
Wo siehst Du selbst die Haupteinflüsse, die größte Inspiration zum Musikschreiben?
Dies kann ich nicht beantworten. Ich denke, Musik ist etwas sehr unterbewusstes, und man könnte jetzt überspitzt formulieren, dass ich Musik mache, weil ich fühle, dass ich Musik machen muss. Allerdings bereitet es doch auch eine Art von Freude. Aber konkret zu sagen wieso und warum… Nein, da habe ich keine Ahnung. Vielleicht finde ich es mal heraus.
Wenn Du Dich mal nicht der eigenen, sondern der Musik anderer Künstler widmest, was sind dann Deine Favoriten?
Ich höre querbeet Musik, also wirklich alle möglichen Stile. Von Popmusik, Jazz und klassischer Musik bis zu Rockmusik aller Arten, inklusive extremen Metal. Einzelne Namen möchte ich gar nicht nennen. Manche kennt man, manche kennt man weniger, manche haben kommerziellen Erfolg, manche nicht. Den einzigen Namen, denn ich erwähnen könnte, wäre RADIOHEAD. Ich finde, das ist eine dieser Bands, die wirklich Erwartungshaltungen herausfordert und versucht, Musik zu machen, die anders ist, als man es von ihnen erwarten könnte.
Das ist ja im Grunde fast ein bisschen wie NUCLEUS TORN.
Ja, obwohl wir überhaupt nicht wie RADIOHEAD klingen, unsere Herangehensweise ist sehr unterschiedlich.
Würdest Du sagen, dass Metal nur eine Untersparte der Rockmusik ist?
Natürlich. Ich würde weitergehen. Metal ist einfach ein Element von Rockmusik, das bereits vor 30, 40 Jahren existierte. Das haben manche Musiker irgendwann extrahiert und dann gesagt: „Wir machen jetzt nur noch dieses Stilelement.“ Wenn Du Dir mal anhörst wie extrem EMERSON, LAKE AND PALMER, YES (höre „Gates of Delirium“ von „Relayer“) oder GENESIS auf ihren frühen Alben waren – die haben alle längst Metal gemacht, bevor der Stil Metal erfunden wurde. Danach hat man eben eine Mauer aufgebaut.
Obwohl es da heutzutage wieder Bands gibt, die ein bisschen diese Grenze sprengen. An ENSLAVED muss ich zum Beispiel denken, die ein wenig von PINK FLOYD haben.
Ich finde es beeindruckend, was ENSLAVED seit ein paar Jahren machen, auch wenn mir nicht alles gefällt. Sie bewegen sich zumindest immer vorwärts.
Ich glaube, das ist auch wichtig, dass man nie stagniert, dass man immer weitergeht.
Absolut. Ich habe vorhin schon über diese Hörer abgelästert, die seit 20 Jahren immer noch das gleiche IRON-MAIDEN-Album hören wollen. Sie sollen aber die Band und die anderen Bands in Ruhe lassen und nicht immer das Gleiche von ihnen fordern.
Mal zum Musiktheoretischen: Wie schreibst Du Deine Songs auf? Ich vermute ja, klassisch und in Notenschrift oder sogar Partitur. Liege ich da richtig?
Das letzte Drittel von „Knell“ ist zu 80% Partitur, da ist fast alles aufgeschrieben, das Schlagzeug mal außen vor gelassen. Auf der anderen Seite haben wir auch viele improvisierte Parts. Auf „Knell“ finden sich viele monotone Passagen, die sich über längere Zeit frei auf einem Grundmotiv aufbauen. Ebenso sind mehrere Geigenpassagen auf „Knell“ frei improvisiert. Aber von den Arrangements und Strukturen her, ja, da ist alles aufgeschrieben. Sonst könnte man einen Spannungsaufbau wie wir ihn anstreben gar nicht so konsequent machen. Man muss schon wissen, wie man von A nach B gehen will.
Hinter Euren drei Alben „Nihil“, „Knell“ und dann in Zukunft auch „Andromeda Awaiting“ soll ein weitreichendes Konzept stehen. Beleuchte das bitte einmal näher!
So viel gleich vorneweg: Ich kann nach wie vor nicht sagen, wohin die Reise geht. Darum geht es halt primär: um eine Reise, von der ich nicht weiß, wieso ich sie mache und zu welchem Ziel sie mich führt. Ich habe mir gesagt: Das ist eine fremde Welt, bewege Dich noch eine Weile darin!
Ich erkenne darin die Möglichkeit, mein Unterbewusstsein als Musiker zu erforschen.
Auf „Knell“ hat dies dazu geführt, dass ich den Eindruck hatte, eine Seelenwanderung musikalisch darzustellen. Nicht meine eigene, sondern die fiktiver, namenloser Charaktere. Um es auf eine noch tiefere Ebene zu bringen: Man könnte sagen, dass auf „Nihil“ ein Charakter gestorben ist und dass sich auf „Knell“ die zweite Person auf eine Wanderung begibt, um Körper und Seele des Verstorbenen zu finden. Diese Wanderung führt durch abgründige Landschaften, durch eine wilde Natur, die sich nicht bändigen lässt. Wohin die Reise führt, soll der Hörer aber selber herausfinden, Texte und Musik bieten ausreichend Informationen dafür. In Bezug auf „Andromeda Awaiting“ steht aber noch alles in den Sternen – sprichwörtlich und wörtlich.
Das ist auch die eigentlich Frage, wohin die Reise führt. Wie geht es weiter mit NUCLEUS TORN, was kann der Hörer erwarten?
Wir sind fleißig mit Aufnahmen beschäftigt. Fast alle Klavier- und Gitarrenaufnahmen sind abgeschlossen, demnächst fahren wir in eine Kirche in der Region, um Orgel, Quer- und Blockflöte aufzunehmen, zudem ist das Studio gebucht, um das Schlagzeug aufzunehmen. Aber bis wir das Album abgeschlossen haben wird es sicherlich noch einmal eineinhalb bis drei Jahre dauern. Vor 2009/2010 kann man nicht mit einer Veröffentlichung rechnen. Auch bei „Knell“ und bei „Nihil“ gingen die Aufnahmen anfangs schnell voran und dann dauerte es sehr lange, bis alles fertig war.
Kannst Du schon sagen, wie sich das entwickeln wird, wie sich das Album verhält, „Nihil“ und „Knell“ gegenüber?
Es wird natürlich wieder etwas völlig anderes zu hören geben, ansonsten sähe ich keinen Sinn darin, ein neues Album zu veröffentlichen. Wo „Knell“ stark die Brüche und Diskontinuitäten in der musikalischen Struktur hervorgehoben hat, versuche ich auf „Andromeda Awaiting“ diese Abgründe und Übergänge so einfach und fließend wie möglich zu gestalten. Ich will ein Album machen, das sich viel mehr wie eine riesige Fläche anhört oder wie eine Welle anfühlt. Man kann sie betrachten, man kann sich von ihr tragen lassen, aber bändigen kann man sie nicht. „Andromeda Awaiting“ ist für mich auch sehr spannend, da es definitiv keine metallischen, harten Parts beinhalten wird. Ich denke, das letzte Drittel von „Knell“ weist schon ziemlich klar in die Richtung, in die wir uns begeben.
Gut, jetzt haben wir schon ziemlich lange geplaudert und das war’s auch mit meinen Fragen. Dann danke ich für das interessante Gespräch und die letzten Worte gehören Dir.
Ich antworte in letzter Zeit immer etwa gleich. Das ist schon fast ein Appell an die Leser, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Selbst wenn man überzeugt ist, dass einem ein anderer Musikstil nicht gefallen kann, sollte man es trotzdem tun, sich aktiv mit anderen Musikarten zu befassen. Wieso soll man nur immer auf Reisen in andere Kulturen gehen, wenn man das musikalisch auch machen könnte?