Ne Obliviscaris
Gebt uns noch fünf Minuten!

Interview

NE OBLIVISCARIS sind ja bekanntlich Australier. Sollte eigentlich bei einem Interview keinen Unterschied machen. Aber es kommt erstens immer anders und zweitens als man denkt, wie manchmal so schön gesagt wird. Wenn man sich für ein Skype-Interview mit acht Stunden Zeitverschiebung also verhältnismäßig früh morgens aus dem Bett quält, sollte man sich künftig vielleicht doch zumindest mal umziehen oder die Haare kämmen. Denn nur, weil solche Interviews normalerweise ohne Kamera gemacht werden, heißt das nicht, dass ein Künstler einem nicht plötzlich doch entgegenlächelt. So geschehen mit NE OBLIVISCARIS-Sänger und Violinist Tim Charles an einem Morgen Mitte September. Aber was solls, Kamera an, der Mann hat sicher auch schon Schlimmeres gesehen.

Nach den allgemeinen Begrüßungsfloskeln geht es dann auch gleich ans Eingemachte. Personalwechsel, abgesagte Tour, diese komische Musik, die NE OBLIVISCARIS machen, und das liebe Geld. Tim erweist sich dabei als sehr sympathisch, offen und mitteilungsfreudig.

Dann legen wir mal los. Das neue NE OBLIVISCARIS-Album „Urn“ kommt wegen eures Personalwechsels diesen Januar mit einer kleinen Verspätung raus. So im Nachhinein, wie genau hat das den Prozess beeinflusst?

Ich glaube, das Album wurde dadurch garnicht so sehr verzögert. Die größte Auswirkung war, dass wir unsere Europatour absagen mussten, die für Mai angesetzt war. Das haben wir hauptsächlich gemacht, damit wir beim Album mehr oder weniger im Zeitplan bleiben konnten, was die zweite Jahreshälfte 2017 war. Das Interessante dabei war, dass wir sehr spät noch Änderungen im Schreibprozess hatten. Wir hatten noch nicht sooo viel für das Album geschrieben. Wir hatten ein paar Ideen, wir hatten einige Songs, die schon nah am jetzigen Ergebnis waren und andere, die das nicht waren. „Urn (Part I)“ war der einzige Song, für den wir schon den Bass hatten. Was das angeht, konnten wir also mit einem unbeschriebenen Blatt anfangen und uns von da vorarbeiten.

Es war eine tolle Erfahrung, mit Robin Zielhorst zu arbeiten, der schon in echt tollen Bands wie EXIVIOUS und CYNIC war. Er ist ein super Musiker, die Herausforderung war nur, ihn mit den Parts vertraut zu machen, die wir haben wollten, und das dann mit dem zu verbinden, was er von sich selbst aus beisteuern konnte. Wir hatten nur sechs Wochen, ihn auf den neusten Stand der Platte zu bringen. Es war auf jeden Fall eine Herausforderung, mit jemand Neuem zu arbeiten und direkt in diesen Prozess einzusteigen. Aber glücklicherweise hat das sehr gut funktioniert, da wir da mit einem so unglaublichen Musiker wie Robin arbeiten konnten.

In den Credits wird er als Gastmusiker am Bass bei allen Songs gelistet. Ich gehe also davon aus, dass ihr noch keinen festen Bassisten ins Boot geholt habt, oder wird er das sein?

Als wir Kontakt mit Robin aufgenommen haben, haben wir mit ihm besprochen, dass er erstmal auf diesem Album dabei sein wird, und auch über die Möglichkeit, NE OBLIVISCARIS bei Interesse langfristig beizutreten. Zu dem Zeitpunkt war er aber sehr beschäftigt mit seinen anderen Projekten. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, ihn erstmal nur für dieses Album an Bord zu holen. Wir wussten, dass er ein herausragender Musiker ist, mit dem wir auf eine sehr interessante Art zusammenarbeiten konnten, statt lange nach einem neuen Bassisten zu suchen. Gesucht haben wir dann aber im Juli und August, als das Album fertig war. Wir hatten viele Bewerber von überall auf der Welt. Viele unglaubliche Musiker haben sich beworben, was fantastisch war. Vor Kurzem haben wir dann einen italienischen Bassisten, Martino Garattoni, für unsere kommenden Touren rekrutiert. Der Plan ist also, mit ihm weiterzumachen.

Cover von NE OBLIVISCARIS‘ „Urn“

Auf „Urn“ habt ihr wieder eine für andere Bands sehr ungewöhnliche Songstruktur. Manche Songs sind unterteilt, wobei ein Teil zehn Minuten lang ist und der nächste zwei. Wie ergibt sich sowas?

Hmm (lacht), also für diese überlangen Songs und die Anomalie in der Struktur bin wohl ich verantwortlich, das kannst du mir in die Schuhe schieben (lacht). Ich weiß noch, damals bei „Citadel“ hatte Benji [Benjamin Baret] den ersten Satz von „Painters of the Tempest (Part II)“. Ein siebenminütiger Song, und alle in der Band dachten, er sei fertig. Dann hatte ich eine Idee und meinte, „hey, wieso machen wir hier nicht ein Outro“. Dann haben wir daran gearbeitet, und plötzlich hatte das Outro vier oder fünf Minuten und wurde zu einer ganz anderen Sache. Dann dachte ich mir, dass wir ja auch noch ein Outro am Ende davon machen könnten, was akustisches, und dann vielleicht noch ein Intro. Und dann war es plötzlich ein 23-minütiger Song.

Ich habe das nicht alles geschrieben, Benji hat von diesem Song mehr geschrieben als alle anderen, aber ich denke, dass ich oft versuche, verschiedene musikalische Elemente miteinander zu verbinden und die Reise weitergehen zu lassen, statt nach dem Start-Stopp-Prinzip vorzugehen. Ich meine, die meisten Songs beginnen und enden in einer so kurzen Zeitspanne. Zufälliges Beispiel: ich habe gestern erst „Pet Sounds“ von den BEACH BOYS gehört, ein Klassiker aus den 60ern. Während ich mir das angehört habe, habe ich mich mit jemandem darüber unterhalten und meinte „alles auf diesem Album ist so kurz! Dieser Song ist 02:22, dieser 02:10, dieser 02:30.“ Mein Gehirn funktioniert so nicht. Wenn ich eine Idee habe, möchte ich jedes Element davon erforschen. Wenn ich ein tolles Riff habe, will ich das Riff nicht nur einmal in einem bestimmten Kontext hören.

Ein gutes Beispiel dafür ist wohl „Libera (Part I)“ auf dem neuen Album. Die beiden Teile des Songs haben viele Gitarrenriffs gemeinsam, aber sie werden jeweils von total unterschiedlichen Elementen begleitet. Zum Beispiel andere Vocals, oder ein Geigen-Part statt eines Gesangs-Parts, oder was auch immer den Sound frisch erhält. Die meisten Bands wären da schon ausgestiegen.

Gibt es auf diesem NE OBLIVISCARIS-Album einen Song, der dir am wichtigsten ist?

Es ist immer schwierig, sich zwischen seinen Kindern zu entscheiden. Ich liebe wirklich alle vier Songs auf diesem Album, und es ist definitiv das Album, für das ich am meisten Stolz empfinde. Ich habe das Gefühl, dass wir uns als Band in allen Hinsichten verbessert haben, sei es die Performance, das Songwriting, die Produktion oder mein Gesang. Wir haben so viel Mühe in all diese Bereiche gesteckt. Aber ein Song, der für mich etwas Besonderes ist, ist „Eyrie“, und zwar weil er sich von dem, was wir bis dahin gemacht haben, unterscheidet.

Der Working Title für diesen Song war „Dublin Prog“, weil Matt [Klavins] und ich das meiste davon geschrieben haben, als wir in Dublin mal einen Tag frei hatten. Es hat mich echt überrascht, wie unterschiedlich die Ideen waren, die Matt für die Gitarren hatte. Das ist auch ein Song, bei dem ich wirklich zeigen kann, was ich als Sänger drauf habe. Auf eine Art, wie ich es in dieser Band bisher nicht konnte. Es war also aufregend für mich, diese Grenzen zu sprengen und stimmlich neue Dimensionen zu erkunden. Auch die Streicher, Geigen-Parts und all diese melodischen Aspekte. Der Song schafft eine nette Balance zum extremeren Teil des Albums.

Wo wir gerade beim Singen sind. Bei Konzerten musst du das Singen und das Geigespielen unter einen Hut bringen. Das geht doch sicher auch in den Schreibprozess mit ein, oder?

Ja, sicher. Auf „Portal Of I“ und „Citadel“ überschneiden sich die Geige und der Klargesang tatsächlich niemals mehr als zwei oder drei Sekunden. Bei „Painters of the Tempest“ gibt es am Ende so einen Streicher-Part, aber das ist auch kein reiner Geigen-Part und wir nehmen ihn dann als Sample. Auf dem neuen Album machen wir das ähnlich. Wenn es ein Streicher-Part mit Geigen, Violas und Cellos ist, ist das bei den meisten Bands recht üblich, ein Sample zu nutzen. Wenn es ein Geigensolo ist, wollen wir aber natürlich sichergehen, dass ich das live spielen kann. Auf „Urn“ gibt es aber in „Libera (Part I)“, nach dem Akustik-Teil so bei Minute sieben oder acht, tatsächlich einen Part wo Xen [Xenoyr] und ich gleichzeitig singen und wir gleichzeitig ein Geigensolo und ein Gitarrensolo haben, also vier Leads gleichzeitig (lacht).

Das ist die einzige Stelle auf der Platte, wo ich gleichzeitig singen und Geige spielen muss. Ich habe mich entschieden, das zu machen, weil es musikalisch einfach so funktioniert hat. Ich singe auch nicht die ganze Zeit über, und wir haben es so geschrieben, dass es für mich tatsächlich machbar ist. Als ich den Jungs das Demo geschickt habe, meinten die nur „wie willst du das denn machen?“ (lacht). Ich habe geantwortet, dass ich einfach ganz viel üben werde. Ich habe das bisher nicht live gespielt, also kannst du mich beim nächsten Mal vielleicht fragen, wie es gelaufen ist und ob ich es schon bereue. Aber ich bin zuversichtlich, dass das klappen wird.

Tim Charles live mit NE OBLIVISCARIS

Wenn du es dir aussuchen müsstest, würdest du dich aber wohl für die Geige entscheiden, oder? Schließlich singt ja noch ein anderer.

Hmm, ich glaube schon. Also ich will immer das machen, was die Musik von mir verlangt. Ich spiele die Geige, seit ich sechs Jahre alt war. Das war meine erste Leidenschaft. Das habe ich studiert. Als ich 16, 17 war, habe ich mich entschieden, Violinist zu werden, das war DIE Leidenschaft für mich. Das Singen habe ich auch geliebt, habe es aber wegen der Geige etwas stiefmütterlich behandelt. Es war aber toll, das dann in der Band wieder ernsthafter zu verfolgen. Aber ja, wenn ich mich entscheiden müsste, wäre es wohl für die Geige, weil wir auch Xens Vocals haben.

Kleiner Themawechsel. Die NE OBLIVISCARIS Patreon-Kampagne ist vor 1,5 Jahren gestartet und läuft ziemlich gut. Was hat sich für euch seit dem verändert?

Es läuft super, ja. Als uns die Idee kam, hatten wir keine Ahnung, wie es laufen würde, weil keine Band sowas bis dahin gemacht hatte. In der Band gab es eine kleine Diskussion, ob wir denn verrückt seien, aber das Fazit war, selbst wenn, wäre uns das egal (lacht). Denn das war etwas, das für uns Sinn ergeben hat. Wir waren uns sicher, dass wir unsere Fans gut genug verstehen, um sicher sein zu können, dass es funktionieren würde. Der Einfluss der Patreon-Kampagne und der Ne Obluminati war dann ziemlich unmittelbar. Die Kampagne ist im März 2016 gestartet und in April hat dann schon jeder von uns ein monatliches Einkommen von etwa 500 australischen Dollar erhalten, was so ungefähr 350 Euro sind.

Das war das erste Mal, dass wir jemals dafür bezahlt wurden, dass wir in dieser Band spielen, und NE OBLIVISCARIS gibt es schon seit 2003! Also haben wir 13 Jahre lang gearbeitet, überall auf der Welt getourt, und Leute dachten, wir sind diese berühmten Rockstars und all so einen Quatsch. Und wir hatten noch keinen einzigen Dollar damit verdient. Jetzt, wo die Kampagne schon 18 Monate läuft, kommen wir an einen Punkt, an dem wir alle das Einkommen eines Teilzeitjobs erhalten. Wir arbeiten mit dem „Urn“-Release darauf hin, das in Vollzeit zu machen, und ein wenig mehr mit der Band zu verdienen. Sei es durch Merch oder durch eine Tour, oder durch Patreon. Wir können dieses Level erreichen, was eine ziemlich geile Sache für eine Band ist.

NE OBLIVISCARIS ist nicht so eine Mega-Band wie OPETH oder ARCH ENEMY, die vor vielen Tausend Leuten spielen. Wir sind eine aufstrebende Band, die viele Leute jetzt erst für sich entdecken. Die Patreon-Kampagne hat uns die Möglichkeit gegeben, das ernsthafter zu verfolgen. Als eine Karriere, als Leidenschaft und eine Liebe. Ohne Angst vor einer Zwangsräumung unserer Häuser haben zu müssen, weil wir kein Geld haben, die Miete und die Rechnungen zu zahlen, während wir auf Tour sind. Im März haben wir also angefangen, und buchstäblich im darauf folgenden Monat haben wir eine Nordamerika-Tour gebucht, für die wir einen Teil des Geldes verwendet haben. Ohne dieses Geld hätten wir das nicht machen können.

Das ist auch, was wir unseren Fans kommunizieren wollen. Es geht nicht darum, uns Geld zu geben, mit dem wir uns dann davonmachen. Wir wollen mehr Alben machen und öfter touren. Aber diese Dinge kosten Geld, das ist eine Realität, und 2015 haben wir alle unsere Jobs verloren, weil wir so viel auf Tour waren. Das ist etwas, womit viele Bands zu kämpfen haben. Viele wollen darüber nicht wirklich sprechen, weil sie dieses Bild im Kopf haben, dass man in einer Band diese besondere Person ist, zu der aufgesehen wird, oder sonst so ein Bullshit. Wir wollten das Gegenteil machen und sagen „hey, wir sind einfach normale Typen wir ihr, wir lieben die Musik, die wir machen, wir wollen so viel wie möglich touren. Und wenn ihr uns unterstützt, können wir das machen.“

Das hat sich dann bei den Touren, die wir gemacht haben, auch bewahrheitet. Zum Beispiel mit der US-Tour, oder die Europatour Ende letzten Jahres. Dann wurden wir für die ENSLAVED-Tour gebucht und konnten da eine Headline-Tour durch Großbritannien und Skandinavien mit dranhängen. Explizit durch das Geld, das wir durch die Patreon-Kampagne bekommen haben. Was wir also wirklich klarstellen wollen, ist, dass ein Teil des Geldes wieder in Touren und Alben fließt, damit die Leute auch sehen, was sie für ihr Geld bekommen.

Du hast das Touren ja schon angesprochen. Arbeitet ihr schon an einer neuen NE OBLIVISCARIS Tour, um die abgesagten Termine wieder wett zu machen? Vor allem natürlich in Deutschland.

Wir sind schon dabei, für Anfang 2018 eine Europatour zu buchen. Ich habe erst vor ein paar Tagen mit unserem Booking Agent in Europa gesprochen. Wir haben also auf jeden Fall was für Anfang nächsten Jahres in Arbeit, hoffentlich so früh wie möglich. Wir kommen auf jeden Fall wieder, und ich bin sicher, dass wir auch einige Shows in Deutschland spielen werden.

Ich wäre soweit durch, aber gibt es von deiner Seite noch etwas hinzuzufügen?

Im Grunde wars das. Wir freuen uns wirklich sehr darüber, wie die Dinge aktuell bei uns stehen. Wir sind sehr zufrieden mit dem Album und sehen, wie wir von immer mehr Leuten wahrgenommen werden. Als wir „Portal Of I“ rausgebracht haben, kannte uns so gut wie keiner und wir waren ein echter Underground-Act. Wir waren wenn dann nur in Australien bekannt. „Citadel“ kam toll an, aber wir sind erst in den zwei, drei Jahren nach dem Release langsam größer geworden. Wir hatten nicht plötzlich einen Haufen Fans, das ging alles sehr langsam. Jetzt fühlt es sich so an, dass die Arbeit der letzten 14 Jahre sich auszahlt. Durch die Patreon-Kampagne und die Touren haben wir ganz andere Möglichkeiten, und können zum Beispiel Headline-Touren in den Staaten und in Europa machen. So viel Spaß es auch macht, ein 35-Minuten Set vor 500-1000 Leuten auf einer Support-Tour zu spielen, es geht nichts über eine 80 bis 90-Minuten Show für deine eigenen Fans, die deine Musik lieben.

Bei einem Set von einer halben Stunde könnt ihr außerdem nur drei Songs spielen.

Weißt du, als wir die Welttournee mit CRADLE OF FILTH gemacht haben, mussten wir, bevor wir der Tour zugestimmt haben, erstmal aushandeln, dass wir 35 Minuten kriegen (lacht). Denn das Angebot war nur ein 30-Minuten-Slot. Wir haben gesagt, dass wir die Tour nur machen können, wenn wir 35 Minuten kriegen, denn bei 30 Minuten hätten wir nur zwei Songs spielen können (lacht). Wir waren uns alle einig, dass wir mindestens drei Songs spielen wollten, wenn wir die Tour machen. Wir brauchten also noch fünf Minuten (lacht). Zwei Songs sind ungefähr 24 Minuten, und keines unserer Stücke ist kurz genug, es als dritten Song zu spielen. Das ist wohl eines der ungewöhnlichen Probleme dieser Band. Mit mehr Alben wird das leichter, weil wir eine größere Songauswahl für Support-Touren und Festivals haben, die wir auch gerne wieder spielen würden.

Also das wäre es bei mir. Vielen Dank für deine Zeit! Ciao!

Ciao!

Quelle: Tim Charles von Ne Obliviscaris
20.10.2017

headbanging herbivore with a camera

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