Lord Of The Lost
Erst die Arbeit, dann das Bier

Interview

LORD OF THE LOST ruhen sich wahrlich nicht auf ihren Lorbeeren aus. Mit „Judas“ steht nur ein Jahr nach dem Ensemble-Album „Swan Songs III“ eine neue Langrille der Hamburger Band an. Im Interview mit Sänger Chris Harms und Gitarrist Class Grenayde sprechen wir über das Konzept, das Bonusmaterial und, wie es eine Band schafft, in einem Jahrzehnt so viel qualitativ hochwertiges Material abzuliefern.

„Judas“ ist nun Album Nummer 7 ohne die „Swan Songs“-Reihe und markiert das 11. Jahr in Folge, in welchem LORD OF THE LOST eine neue Veröffentlichung am Start haben. Wie schafft ihr das ohne Burnout oder Qualitätsabfall?

Chris: Ich glaube, ein Grund ist, dass wir uns sehr früh dazu entschieden haben, niemanden auszuschließen, was Teamwork angeht. Manche Leute sagen ja so etwas wie: „Ihr seid ja nicht true, ihr schreibt auch Songs mit Leuten, die in eurer Livecrew sind.“ und ich finde es unglaublich limitierend und langweilig, wenn ich nur mit Class und den anderen drei Songs schreiben dürfte. Wir haben das so gesehen, dass Musik etwas Allumspannendes ist, das nicht nur unsere Band betrifft, sondern auch unsere Live- und Studiocrew und Musiker von anderen Bands. Das sind ja alles unsere Freunde und es macht genau so viel Spaß mit denen, wie mit unseren Jungs, nur dass sie eben nicht in unserer Band spielen.

Für „Judas“ haben wir das auch so gemacht. Wir haben ein Songwriting-Camp gehabt von sieben Tagen mit insgesamt zwölf Leuten. Da waren auch Leute aus unserer Crew und anderen Bands dabei, mit denen wir gerne Musik machen. Wir haben uns jeden Tag in Zweier- und Dreier-Teams zusammengetan, die wir immer durchgewechselt haben. Und das ist das, um auf das komische Wort zurück zu kommen, was für uns „true“ ist. Dass es darauf ankommt, gemeinsam zu musizieren und sich nicht auf irgend so ein Konstrukt zu limitieren.

Zum anderen sind wir sehr effizient und entscheiden oft aus dem Bauch heraus. Wir legen uns nicht monatelang mit Kompromissen lahm. Wir sind schnell entscheidungsfähig und wissen, dass harte Arbeit zuerst kommt und, dass Bier saufen später kommt. Das macht uns gut in dem, was wir machen. Wir verstehen Arbeit als Arbeit und ruhen uns auf dem Erfolg nicht aus, sondern setzen noch einen drauf.

Also keine langen Suffnächte bei LORD OF THE LOST während der Writing-Session?

Chris: Genau, die kommen dann danach, denn auch Suffnächte kann man sich vernünftig im Terminkalender eintragen und sich dann einen Tag frei nehmen. Du siehst also, auch die stehen bei uns im Kalender. (lacht)

Das Album heißt „Judas“, die erste Single heißt „Priest“. Zufall oder kleine Hommage an JUDAS PRIEST?

Chris: Im ersten Moment tatsächlich Zufall. Ich habe den Song mit meinem Studiopartner Eike Freese geschrieben. Wir haben in den letzten 20 Jahren einen Haufen Songs zusammen geschrieben und dann standen wir im Studio in der Küche und ich habe ihn gefragt, ob er Lust hat, beim Songwriting mitzumachen. Er hatte einen Tag Zeit und stimmte zu, also habe ich ihm das Konzept erklärt. Er meinte daraufhin: „Weißt du, was ich gerade denke? An einen Song, der hat so einen Part, der macht einfach nur ‚PRIEST!'“ und ich meinte: „Ja, und dann kommt so ein Tribal-Beat.“. Wir haben also Parts des Songs, die man jetzt auf dem Album findet, schon einmal ein bisschen vorgebeatboxt.

Dann meinte ich zu ihm, dass es ja schon unfreiwillig komisch ist, dass wir jetzt einen Song haben, der „Priest“ heißt auf einem Album namens „Judas“. Er sagte dann, dass das stimmt und man das vielleicht nicht machen sollte, aber ich meinte: „Nein, lass uns das mit Absicht machen, das ist wirklich cool!“. Und JUDAS PRIEST, gerade Rob Halford, ist auch für mich eine der inspirierenden Personen des Metals. Nicht nur, weil er sehr früh offen gesagt hat, dass er schwul ist, in einer Szene, die bis heute mit Homophobie zu kämpfen hat. Das passt auch sehr zu einem Album, das für Diversität und Offenheit steht, was die Beteiligten angeht. Aber auch, wenn man sich den missverstandenen Charakter Judas anguckt, der auch nicht nur für eine Sache steht. Letztlich ist es ein geiles Easter-Egg, dass uns da in den Korb gelegt wurde.

Das Album ist ein Konzeptalbum über die Figur des Judas Iscariot. Wie viel Realität, sofern man die Bibelfigur als real betiteln kann, und wie viel Fiktion steckt in eurer Geschichte?

Chris: Zum einen gibt es eigentlich keine bibeltreue Interpretation, denn die Bibel widerspricht sich von Evangelium zu Evangelium, zum anderen sind wir als Agnostiker natürlich nicht in der Position, dass wir das alles als historisch sehen. Aber wenn man mal einen Moment so tut, als wäre das etwas Historisches, dann ist es natürlich so, dass die Figur des Judas nicht nur die Rolle des Verräters einnimmt. Wenn man mal so weit aus dem Fenster lehnt, dass es ohne den Verrat keine Kreuzigung, kein Sterben am Kreuz, keine Auferstehung und damit keine neue Religion mit dem Kreuz als Symbol, also kein Christentum geben würde, muss man nach Judas‘ Intention fragen. Ist Judas dann nicht eigentlich der Erlöser?

Manche Theorien gehen so weit, dass gesagt wird, dass Judas und Jesus die Plätze getauscht haben. Faszinierend finde ich, dass egal, wie du es drehst und wendest, Judas immer der ist, der für seinen Verrat in die Hölle geht und Jesus kommt in den Himmel zu seinem Vater. Ist nicht eigentlich Judas der größere Märtyrer? Das öffnet so viele Türen, da könnten wir jetzt durch eine nach der anderen durch gehen und stundenlang diskutieren.

Es ging uns aber nicht darum, etwas treues zu machen. Wir haben kein biblisches Album, kein religiöses Album, das für oder gegen die Kirche spricht. Es ist eher die Faszination an der großen Grauzone zwischen den Polen Judas, der Verräter und Judas, der Erlöser. Es geht darum, wie wir als Menschen uns in dem Charakter spiegeln können, obwohl wir natürlich immer versuchen, gute Menschen zu sein, aber das Menschliche an sich uns eben auch nie perfekt macht. Eigentlich hat keiner von uns nach diesem Standpunkt den Himmel verdient. Das fanden wir tierisch interessant.

Aber wir haben hier kein Album, wo wir erzählen „Judas macht das, dann macht er das, dann das…“, es ist keine große Geschichte. Wir sehen Judas eher als übergeordnete Bildsprache. Wir haben also auf dem Album beispielsweise keinen Love-Song, sondern es ist dann eher ein Song über Freundschaft und was da passiert, mit der Bildsprache, die sich dieser „Judas“-Welt bedient. Du musst das Album nicht von vorne bis hinten hören, um es zu verstehen. So etwas wäre eher was für DEVIN TOWNSEND oder so.

Wolltet ihr von vorne herein ein Doppelalbum machen oder hat sich das im Laufe des Schreibprozesses so ergeben?

Chris: Wir wollten für das siebte Album etwas Großes machen. Corona gab uns dann noch die Zeit, da wir keine Konzerte spielen konnten. Da haben wir dann gesagt, wir schreiben nicht einfach 24 Songs und dann ballern wir die raus, sondern wir wollten ein Gefühl, das uns auch die Möglichkeit gibt, visuell etwas aufzubauen. Du sollst später zurück gucken und egal, welches Video oder Foto du siehst, hast du immer die gleiche Bildsprache, bei der du weißt: Das ist die „Judas“-Ära von LORD OF THE LOST. Es ist nicht wie bei anderen Bands, wo du Jahre später in einen Song reinhörst und dich fragst, auf welchem Album der eigentlich war.

„Damnation“ und „Salvation“ sind dabei nur entstanden, weil nicht mehr Musik auf eine CD passt. Würde mehr Musik drauf passen, hätten wir einfach einen, großen Spannungsbogen gemacht. Aber wir mussten es ja irgendwie aufteilen. Wir fanden das eigentlich erst doof, aber dann doch ganz geil. Denn so hast du zwei Spannungsbögen und kannst den beiden Alben auch verschiedene Farben geben. Aber eigentlich liegt es nur an dem Medium CD und wenn du keine Grindcore-Band bist, kriegst du halt keine 24 Songs auf eine CD.

Class: Ich finde die Symbolcharakteristik ganz schön, dieses Gut und Böse. Das ist zwar nicht ganz so klar getrennt, aber trotzdem. Man weiß es halt nicht so genau.

Wie habt ihr die Künstler für das LOTL+-Projekt ausgewählt. Oder habt ihr „Viva Vendetta“ einfach an alle Musiker und Musikerinnen geschickt, mit denen ihr zu tun habt, angesichts der schieren Masse an Versionen?

Chris: Das Ding ist ja, dass du nicht jemanden anfragen kannst, der dann zustimmt und dann sagst du: „Nee, sorry, doch nicht.“. Wir sind es gewohnt, beim Anfragen von Bonusmaterial, was ja normalerweise Remixe sind, dass du von zehn befreundeten anderen Bands von fünf keine Antwort kriegst, weil sie keinen Bock haben. Fünf sagen vielleicht, drei fragen nach zu viel Geld und zwei haben vielleicht zufällig Zeit und am Ende hast du einen. Damit habe ich gerechnet.

Damit so ein Projekt wie LOTL+ interessant ist, brauchst du ja so fünf, sechs Songs. Also habe ich hochgerechnet und mir gedacht, wenn ich 35 Bands anfrage, dann sollte das hinhauen. Problem ist, es haben alle ja gesagt und nur drei haben am Ende aus Zeitgründen nicht abgegeben. Das ist bei Musikern wirklich nur ein ganz geringes Maß. Dann hatten wir auf einmal 32 Songs und sind dann zu Napalm Records gegangen und haben denen gesagt: „Leute, wir machen übrigens nicht nur ein Doppelalbum, sondern auch ein Doppel-Bonusalbum.“ (lacht) Dann haben die gesagt. „Geil, das hatten wir auch noch nie.“

Also nein, es fand keine Auswahl statt. Wir hätten nur ausgesiebt, wenn da sich einer der Kollegen zufällig als Rechtsradikaler entpuppt hätte und einen Nazisong draus gemacht hätte, den hätten wir dann aussieben müssen. Aber so haben wir 32 coole Songs. Die haben alle das Instrumental bekommen, ohne zu wissen, wie mein Gesang klingt und auch nichts vom Konzept über „Judas“ zu wissen. Jeder hat den Song so behandelt, als wäre es das eigens von ihnen geschriebene Instrumental und sie legen ihre Gesangslinien und Text drüber. Aus dieser kompletten Freiheit entsteht dadurch ein Song, der der Originalband damit so nah kommt, wie es nur irgendwie geht.

Durften die Bands dann auch noch andere Instrumente drüberlegen oder etwas weglassen?

Chris: Es war nicht erlaubt, etwas wegzunehmen und es war auch nicht erlaubt, am Arrangement zu schrauben, also keine doppelt so lange Strophe oder den Refrain rausnehmen. Aber sie konnten eigene Instrumente drauflegen, was natürlich dazu geführt hat, dass SUBWAY TO SALLY eine Geige und irgendwelche Drehleiern drauf haben. Andere Bands haben elektronische Spielereien eingebaut, wieder andere haben Gitarrensoli reingeschraubt, NACHTBLUT haben noch eine extra Rhytmusgitarre drauf gemacht, um es heavier klingen zu lassen.

Zur Releasefeier steht der „Sinister Summer Stream“ an. Was kannst du uns über das Event verraten?

Chris: Es ist der Album-Release-Stream. Wir durften ihn am Anfang nur nicht so nennen, weil wir dann schon aller Welt gesagt hätten, dass ein Album kommt. Das Besondere ist die Reihenfolge. Um den Leuten die Chance zu geben, das neue Album und das Feeling zu verstehen, spielen wir die ersten 13 Songs nur vom „Judas“-Album. Dann kommt eine kurze Pause und dann kommt noch eine Best-Of-Show mit 10-12 Greatest Hits.

Das gibt dir eine Chance, dadrin einzutauchen. Der Stream ist eine Woche on demand verfügbar, wen das also nervt, der kann auch vor- und zurückspulen, aber so hast du dann eben die Chance, das nochmal anders wahrzunehmen. Zur Hälfte ist es also wirklich unser Album-Release-Event, das wir natürlich gerne live vor Publikum gemacht hätten. Aber so ist es jetzt eben ein Internet-Stream.

Stehen Album Nummer acht oder andere Projekte wie „Swan Songs IV“ schon in den Startlöchern? Wie weit plant LORD OF THE LOST voraus?

Chris: Wir haben tatsächlich zwei verschiedene Optionen, zwei Richtungen, in die wir als nächstes gehen können. Es sind beides Sachen, die wir realisieren möchten. Wir wissen aber auf Grund von diversen äußeren Umständen aber noch nicht, was davon als nächstes kommt. Aber wir fangen aktiv an, auch wenn wir über einen Release in zwei Jahren sprechen, am siebten Juli hier im Studio. Ich habe von Juli bis August 19 Tage Songwriting eingetragen, um zumindest schonmal ein halbes Album als Demo zu haben, um eine Idee zu bekommen, wohin es gehen könnte.

Wir machen natürlich etwas. Wann wir das umsetzen, müssen wir schauen, aber es ist uns ein großes Bedürfnis, aktiv zu sein und nicht abzuwarten. Sollte dann mit Liveshows alles mit Hauruck losgehen, bleibt uns vielleicht keine Zeit mehr, ein Album in guter Qualität zu produzieren und wir wollen nichts übers Knie brechen.

Gibt es irgendein Album oder Stück von LORD OF THE LOST, das du rückblickend ganz anders gemacht hättest?

Chris: Ich denke, das ist immer so. Wir haben ja zum Teil auch schonmal neue Versionen alter Songs rausgebracht. Man verändert da immer was. Ich sehe das aber als ganz normalen Prozess. Egal, was man in der Vergangenheit gemacht hat, man würde es, wenn man es jetzt nochmal macht, immer anders machen. Auch zwei Tage später. Das macht aber dafür die alte Arbeit nicht schlechter.

Das ist wie mit Tattoos. Du machst dir in den 90er Jahren ein Tribal, das du geil findest und wenn ich jetzt anfangen würde, würde ich mir kein Tribal auf den Arm machen. Aber trotzdem war es zu der Zeit richtig und wichtig für mich und gehört dann da hin. Deshalb kann ich gar kein Detailbeispiel sagen, was ich bei einem Song anders gemacht hätte, denn es wird jeder sein. Nicht, weil wir es schlecht finden, wie wir es gemacht haben, sondern weil die Zeit sich ändert.

In der Box liegt das Bonusalbum „The Sorrows Of The Young“ bei, dass Stücke aus Chris‘ Jugend sind. Wie viel von deiner Teenie-Phase ist da drin?

Chris: Diese Songs habe ich geschrieben zwischen 17 und 19. Auditiv ist vom Original nichts drin, ich habe es neu aufgenommen. Das Original waren furchtbare Demos, die ich mit diesen grauen PC-Mikrophonen, diesen Stangen, die früher bei PCs dabei lagen, aufgenommen habe. Die habe ich bei mir in den Raum gestellt und mit der E-Gitarre in den Raum über den Karaoke-Eingang der Stereoanlage irgendwelche Scheiße aufgenommen und auf Mini-Disks gebrüllt. So etwas würde ich aber nie veröffentlichen. Davon habe ich dann zehn Stücke ausgewählt und neu aufgenommen.

Die Stücke sind nur mit Akustikgitarre und Stimme aufgenommen und das einzige, was ich verändert habe, waren schlimme Grammatikfehler oder wenn ich nicht mehr erkannt habe, welchen Akkord ich da überhaupt gespielt habe. (lacht) Ansonsten ist das wirklich Original, es ist ein Spiegel meines jugendlichen Ichs. Das ist wirklich etwas super Persönliches. Man drückt als Teenager Sachen einfach anders aus, so wie man es heute nie machen würde. Ich bin jetzt 41 und Familienvater und habe dadurch eine andere Sicht der Dinge. Ich kann noch wütende, verzweifelte Songs schreiben, klar, aber die kommen aus einer ganz anderen Sicht als damals.

Das war für mich total spannend, denn ich konnte mich an alle diese Texte nicht erinnern. Ich habe diese Mini-Disks mit 100 Songs gefunden und einen fetten Leitz-Ordner mit 300 Texten und habe geguckt, welcher Text zu welcher Mini-Disk gehört. Also ein riesiger kreativer Output… (überlegt kurz) ok, das ist heute eigentlich immer noch so. (lacht) Inzwischen habe ich, inklusive aller Songs, die ich unter Pseudonymen geschrieben habe, gut 1200 Songs bei der GEMA gemeldet. Ich mache ja auch Songs für so Malle-Schlagerkram, die ich aber nicht unter meinem Namen veröffentliche, weil ich keine Lust habe, dass Fans von LORD OF THE LOST bei Autogrammstunden anfangen, Malle-Schlager zu singen, weil ich nicht permanent dieser Musik ausgesetzt sein möchte, die ich zwar gerne schreibe aber nicht gerne höre.

Danke für eure Zeit und die berühmten letzten Worte gehören euch.

Class: Vor dem Essen Hände waschen nicht vergessen und: man sieht sich auf Tour!

Quelle: Interview mit Chris & Class
01.07.2021

Redakteur für alle Genres, außer Grindcore, und zuständig für das Premieren-Ressort.

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