Long Distance Calling
Der ewige Kreislauf

Interview

LONG DISTANCE CALLING legen mit „How Do We Want To Live?“ das Album der Stunde vor. Das ohnehin schon aktuelle Konzept der Platte handelt vom Zusammenleben zwischen Mensch und Maschine. Das spielt auch in der Corona-Pandemie eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie sich unter anderem an der Corona-Warn-App zeigt. Bassist Jan Hoffmann gibt Auskunft über die Entstehung des Albums und den aktuellen Stand bei der Band.

„How Do We Want To Live?“ setzt sich über die gesamte Laufzeit mit dem menschlichen Leben im Angesicht stetig fortschreitender Technologiesierung auseinander. War das Konzept schon da, bevor ihr euch ans Songwriting gesetzt habt?

Jan: Im Prinzip ja! Wir haben im September eine Keynote-Veranstaltung musikalisch begleitet, wo es um das Thema Neugier und Zukunft ging und eben auch um künstliche Intelligenz. Das war sowas wie der Startschuss zu der Idee und dann sind wir richtig tief in die Materie eingestiegen, weil es einfach wahnsinnig interessant und spannend ist. Damit war dann auch recht schnell die musikalische Ausrichtung klar, deshalb haben wir diesmal auch mehr elektronische Elemente in die Musik einfließen lassen.

Habt ihr es während der Arbeiten am Album an irgendeinem Punkt bereut, euch für ein übergeordnetes Konzept entschieden zu haben? Das bringt in gewisser Weise ja doch kreative Einschränkungen mit sich.

Jan: Nein, überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Das hat uns einen Fokus gegeben und es hat total Spaß gemacht, diese Ideen in einen musikalischen Kontext zu setzen und uns so auch ein wenig selbst neu zu erkunden.

„Der konzeptionelle Überbau des Albums hat danach verlangt, quasi eine Geschichte zu erzählen.“

Der erste Song beginnt mit den Worten „Curiosity is a real bastard“. Was macht die Neugierde denn zu so einem Bastard?

Jan: Naja, für mich persönlich bedeutet das, dass es eben zwei Seiten hat. Neugier ist ganz wichtig, in der ganzen Menschheitsgeschichte, um voran zu kommen, sich zu entwickeln, Neuland zu entdecken. Auf der anderen Seite birgt das natürlich auch Gefahren, weil man sich eventuell auf Terrain begibt, was man irgendwann nicht mehr unter Kontrolle hat. All diese Aspekte haben wir auf „How Do We Want To Live?“ beleuchtet.

Die beiden Teile von „Curiosity“ gehen fließend ineinander über. Warum trotzdem die Zweiteilung? Symbolisieren die beiden Teile vielleicht jeweils einen anderen Teil der Neugierde?

Jan: So kann man das sehen und da Teil eins eher einen Intro-Charakter für das Album hat und Part zwei eher ein regulärer Song ist, haben wir den Song in zwei Teile gepackt. Außerdem gehört sich das bei einem Konzeptalbum so, haha.

Sprachsamples wie in „Curiostiy“ tauchen auf der Platte immer mal wieder auf. Wollt ihr damit quasi kompensieren, dass es bei LONG DISTANCE CALLING keinen Gesang gibt? Um vielleicht den Zuhörenden den Inhalt der Songs etwas klarer zu machen?

Jan: Ganz genau, wir wollten damit das Narrativ verstärken. Der konzeptionelle Überbau des Albums hat danach verlangt, quasi eine Geschichte zu erzählen. Außerdem verstärkt sich so der filmische Charakter des Albums, den wir ja auch musikalisch verfolgen. Viele Leute schreiben uns, dass sich das Album anfühlt wie ein Film, nur eben ohne Bilder und das wird durch die Sprachpassagen natürlich noch intensiviert.

In „Fail / Opportunity“ oder auch „Sharing Thoughts“ gibt es Streicher zu hören. Elektronische Elemente sind auf der Platte sowieso allgegenwärtig. Wie wollte ihr das denn live umsetzen? Aktuell habt ihr ja niemanden speziell für die Snythesizer oder ähnliches in der Band.

Jan: Wie wir das genau machen werden, schauen wir noch, aber für die große Tour nächstes Jahr könnte ich mir vorstellen, dass man da eventuell noch jemanden mitnimmt. Die Streicher werden von Luca Gilles übernommen, der ja auch bereits auf dem „Stummfilm“-Livealbum zu hören ist. Der Umgang mit Elektronik ist wahnsinnig interessant. Einiges kann man auch selbst übernehmen und bei manchen Stellen wird uns der Computer unterstützen. Vielleicht wird es auf eine Mischung hinauslaufen.

Könnt ihr euch denn vorstellen, noch mal jemand neues in die Band zu holen, als fünftes Mitglied? Oder habt ihr mit dem Gedanken aufgrund bisheriger Erfahrungen abgeschlossen?

Jan: Nein, ich denke das wird nicht mehr passieren. Wir vier sind jetzt schon so lange zusammen in der Band, das wir perfekt aufeinander eingespielt sind. Eine Band hat eine fragile und besondere Chemie und deshalb kann ich mir das nicht vorstellen. Kollaborationen sind aber sehr spannend und machen Spaß, das werden wir immer mal weiter verfolgen, weil es unseren Horizont erweitert aber der Kern der Band werden wir vier bleiben.

LONG DISTANCE CALLING setzen auf organische Sounds

Wer kümmert sich aktuell bei euch um die elektronischen Spielereien im Studio?

Jan: Den Löwenanteil davon hat unser Drummer Janosch [Rathmer] übernommen, der dafür ein sehr gutes Gespür hat und großen Spaß daran hat, mit den Sounds zu experimentieren. Er hat einen super Job gemacht und sehr geschmackvolle Sounds aus dem Hut gezaubert!

Was mich an der Platte sehr fasziniert ist, wie wenig elektronisch die Elektro-Elemente doch oft wirken. Das klingt vielleicht widersprüchlich. Was ich damit meine ist, dass die Elektro-Elemente sehr organisch klingen. Wie habt ihr das denn hinbekommen?

Jan: Ich weiß genau, was du meinst! Es war uns immens wichtig, diese beiden Welten perfekt miteinander zu verweben. Der Bandsound ist auf diesem Album zwar wahnsinnig gut und modern produziert, aber dennoch sehr organisch. Das sollte sich auch in den elektronischen Sounds widerspiegeln. Wir haben sehr darauf geachtet, dass die Sounds zeitlos und ausnahmslos geschmackvoll sind und natürlich spielt auch der fantastische Mix von Arne Neurand – danke noch mal an dieser Stelle – eine große Rolle, der alle Sounds des Albums perfekt in Szene gesetzt hat.

„Social Media ist für uns als Band natürlich fast überlebenswichtig.“

Ein Song auf der Platte trägt den Titel „Immunity“, ein Wort, das dank Corona aktuell in aller Munde ist. Um welche Immunität geht es euch denn dabei?

Jan: Im Prinzip hat der Titel zwei Ebenen. Die Grundidee dahinter war, dass Maschinen immun gegen Krankheiten der Menschheit sind. Aber es geht auch um eine Immunität gegenüber Lügen und Fake-News, die heutzutage wichtiger denn je ist.

Angesichts der derzeitigen Ereignisse wirkt die Thematik von „How Do We Want To Live“ ohnehin noch aktueller als sowieso schon. Jetzt gibt es seit kurzem die Corona-Warn-App der Bundesregierung. Wie steht ihr dazu? Nutzt manch einer von euch sie sogar?

Jan: Ja, wir haben die auf unseren Handys, wer die wie oft im Detail benutzt, kann ich dir aber nicht sagen. Ich persönlich finde es eine gute Sache, weil man die ganze Situation dann etwas besser im Blick hat, es kann auf keinen Fall schaden. Und wer sich über Datenschutz aufregt, sollte sich erst mal informieren und andere Apps von seinem oder ihrem Handy löschen, die in der Hinsicht wesentlich bedenklicher sind.

Eine entscheide Rolle im technologisierten Dasein heutzutage spielt Social Media. Wie geht ihr bei LONG DISTANCE CALLING damit um? Als Musiker kommt ihr doch nicht umhin, Facebook, Instagram und Co. in irgendeiner Form zu nutzen.

Jan: Social Media ist für uns als Band natürlich fast überlebenswichtig, ohne diese Plattformen wird es heutzutage sehr schwer, das Wort und die Musik zu verbreiten, da kommt man leider nicht drumrum. Privat nutze ich es natürlich auch und oft auch zu viel, das nervt manchmal schon gewaltig, haha. Im Privatleben sollte man den Umgang damit wirklich begrenzen, aber für uns als Band spielt es eine sehr große Rolle. Und auch zum Albumkonzept passt es natürlich hervorragend.

Der abschließende Song auf „How Do We Want To Live?“ trägt den Titel „Ashes“. Steckt dahinter die Botschaft, dass die Menschheit in euren Augen auf den Untergang zusteuert und schlussendlich nur noch Asche übrig bleibt?

Jan: So kann man das interpretieren, aber wir wollen das auch nicht ganz aufklären, da soll schon jeder selbst für sich drüber nachdenken, was es bedeuten kann. Asche kann aber auch der Nährboden für etwas Neues sein, was dann wiederum mit Neugier beginnt. Ein ewiger Kreis.

13.07.2020

"Irgendeiner wartet immer."

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