Liv Kristine
Liv Kristine
Interview
Die Karriere von Liv Kristine Espenæs liest sich eigentlich, abgesehen von der unschönen Trennung von THEATRE OF TRAGEDY, wie im Bilderbuch. Durch ihre engelsgleiche Stimme in jener Formation bekannt geworden, katapultierte sie sich als die Schöne neben dem Biest auf den Thron der Frontfrauen im Metalbereich. Nach der Trennung von ihren alten Mitstreitern wich sie aus auf Solopfade, auf denen ihr erstes Soloalbum "Deus Ex Machina" direkt einschlug wie eine Bombe und sich mehr als 30.000 Mal verkaufte. Neben diesem beruflichen Glück fand sie auch privat ihren Hafen und heiratete ATROCITY-Frontmann Alex Krull, mit dem seit ein paar Jahren in der Stuttgarter Gegend heimisch geworden ist und noch dazu einen kleinen Sohn namens Leon hat. Musikalisch ging es mit ihrer neuen Formation LEAVES‘ EYES ebenfalls ohne Zwischenschritte von 0 auf 100, und trotzdem blieb Liv noch die Zeit für ein neues Soloalbum namens "Enter My Religion", das Anfang März das Licht der Welt erblickt. Wie bekommt man diese berufliche Dauerforderung und eine funktionierende Familie unter einen Hut und ist dabei noch 100%ig glücklich und entspannt? Liv Kristine liefert Antworten.
Hi und hallo aus der Stuttgarter Peripherie! Eine recht schöne Gegend, oder? Selbst im Vergleich zur norwegischen Natur?
Ja, es ist wirklich sehr schön. Für mich wird allerdings mein norwegisches Heimatland immer am schönsten bleiben.
Welche Erwartungen und Wünsche hast du bezogen auf 2006?
Ganz wichtig ist es mir, mehr Zeit mit meiner Familie und meiner besten Freundin verbringen zu können. Außerdem möchte ich gerne öfter nach Norwegen, um neue Energien zu tanken. Zwei Alben und zwei EPs innerhalb eines Jahres, dazu noch die Promotion, das war sehr anstrengend. Und dann bin ich natürlich auch noch Mama, meine wichtigste Aufgabe.
Kommen wir direkt zu „Enter My Religion“. Was ist deine Religion, in die man mit dem Genuß der Platte eintaucht?
Für mich bedeutet Religion das, woran ich glaube. Ich glaube an die ewige Kraft des Lebens, an das Leben selbst. Der Titel „Enter My Religion“ ist also eine Einladung an meine Fans, an meinem Leben teilzuhaben.
Der Vorgänger „Deus Ex Machina“ hat europaweit 35.000 Exemplare abgesetzt. Hat dich dieser Erfolg für die neue Platte unter Druck gesetzt?
Nein, gar nicht. „Enter My Religion“ markiert einen neuen Anfang in meiner Karriere. Ich verfüge inzwischen über mehr Erfahrung, ich bin reifer geworden und fühle mich einfach sicherer bei allem, was ich tue.
Was kannst du generell mit deinem Soloprojekt ausdrücken, was bei LEAVES‘ EYES nicht geht und bei THEATRE OF TRAGEDY nicht ging?
Bei LEAVES‘ EYES steht die Natur mehr im Mittelpunkt, außerdem spezielle historische, teilweise fiktive Konzepte. Mit meinem Soloprojekt kann ich persönlicher sein, Erfahrungen aus meinem eigenen Leben thematisieren. Für beide Projekte habe ich aber eigene Texte. THEATRE OF TRAGEDY ist dagegen von einer Art Kunstsprache gekennzeichnet. Die Texte stammen meistens von Raymond und sind weder sehr persönlich, noch haben sie einen Bezug zur Natur. Bei THEATRE OF TRAGEDY habe ich hauptsächlich gesungen.
Wo liegen die Vor- und Nachteile in der Arbeitsweise, wenn Du das Soloprojekt mit LE oder TOT vergleichst?
Bei THEATER OF TRAGEDY konnte ich neben einigen musikalischen Vorschlägen hauptsächlich Ideen zum Gesang einbringen. Dagegen nehme ich sowohl bei meinem Soloprojekt als auch bei LEAVES‘ EYES teil an Produktion und Komposition. Ich bin also von Anfang an immer und überall dabei. Außerdem kann ich heute im Gegensatz zu früher meine eigenen Texte einbringen, was mir sehr wichtig ist.
Weinst Du TOT manchmal eine Träne nach?
Nein. Dass die Band damals in einer Krise steckte, habe ich nicht gewußt. Sie haben mir nichts davon gesagt. Sie haben mir auch nie persönlich mitgeteilt, dass ich draußen bin. Es gab nur diese Nachricht auf der Homepage. Ich habe zu THEATRE OF TRAGEDY keinen Kontakt mehr. Dieses Kapitel meines Lebens ist abgeschlossen.
By the way: NIGHTWISHs Tarja ist vor kurzem ein ganz ähnlicher Rauswurf widerfahren. Wie stehst du zu dieser Sache? Immerhin bist du im finnischen Äquivalent der Bild Zeitung auf der Titelseite als ihre Nachfolgerin gehandelt worden. (Leserfrage von Forumsmitglied nippel)
Von diesen Gerüchten habe ich gehört. Tarja hat mich auch schon angerufen und mir viel Glück gewünscht, wofür ich mich auch immer entscheiden sollte. Darüber habe ich mir allerdings noch gar keine Gedanken gemacht, ich bin momentan absolut zufrieden mit LEAVES‘ EYES und meinem Soloprojekt. Und dann ist da auch noch mein Sohn Leon, das Wichtigste in meinem Leben.
Ok, zurück zum Album! „Enter My Religion“ hat zwar einen etwas dunkleren Anstrich, ist aber dennoch sehr poppig ausgefallen, wenn man es aus dem Schwermetall-Winkel betrachtet. Hörst du selbst viel Pop?
Ja, zum Beispiel Madonna. Ich höre aber auch gerne klassische Musik, etwa von Edvard Grieg.
Bei einem Song wie „You Take Me Higher“ hört man Einflüsse von Madonna. Bist du ein großer Fan?
Madonna ist einfach genial! Sie ist Mutter, Künstlerin und Schauspielerin in einer Person. Sie erfindet sich immer wieder neu, zeigt immer wieder eine neue Facette.
Am ehesten in die LEAVES‘ EYES-Ecke gehen die Songs „Over The Moon“ und „Trapped In Your Labyrinth“. Beeinflussen sich LEAVES‘ EYES und dein Soloprojekt gegenseitig?
Nein, die Arbeiten laufen völlig getrennt ab. Jedes Projekt hat seine eigene Schaffensperiode. Da funktioniert das Abschalten ohne Probleme. Ich denke, das muss ein Profimusiker können. Außer mir betrifft das noch Moritz (Drums) und Tosso (Gitarre), die auch bei LEAVES‘ EYES mit mir spielen. Und natürlich meinen Mann Alex, der beide Projekte produziert.
Wie entscheidest du, welche (Text-)Ideen du für welche Band verwendest?
Diese Entscheidung muss ich gar nicht treffen. Das bestimmt ganz allein die Musik. Sie ist meine Inspiration bei allem, was ich singe oder schreibe.
Hast Du auf dem neuen Album wieder ein paar Gaststars an Bord? Du scheinst solche Kollaborationen zu mögen, wenn man an deine Duette mit Nick Holmes oder Dani Filth zurückdenkt?
Peter Tegtgrän ist der Komponist von „Over The Moon“, „Trapped In Your Labyrinth“ und „This Is Us“. Solche Projekte mag ich sehr gerne. Ich finde, dass sich aus der Kombination von meinen Vorstellungen und den musikalischen Einflüssen anderer Musiker eine wundervolle Inspirationsquelle für neue Ideen ergibt.
Wie kam es zu dem Bruce Springsteen-Cover „Streets Of Philadelphia“? Der Song hat immerhin einen Oscar gewonnen. Hattest du keine Angst, an ein solches Monument heranzutreten?
Nein, da bin ich ganz unbefangen herangegangen. Diesen Song mochte ich schon immer, weswegen die Idee einer Coverversion nahe lag.
An welche Hörerschaft ist diese Platte adressiert? Den Metallern dürfte sie zu poppig sein, während die Pop-Fans eventuelle Vorurteile hegen könnten, da du aus der Metal-Ecke kommst.
„Enter My Religion“ ist nicht für eine bestimmte Zielgruppe entstanden. Wie bereits gesagt, ist es gar nicht so leicht, das Album in eine bestimmte Kategorie einzuordnen. Mit meiner Musik möchte ich ganz einfach etwas von all den wunderbaren und positiven Erfahrungen vermitteln, die ich erleben darf. Es tut gut, den stressigen Alltag ab und zu hinter sich zu lassen. „Enter My Religion“ ist eine Einladung an alle, den Stress für eine Weile zu vergessen und mit mir in meine Welt einzutauchen.
Wie schwierig gestaltet es sich, einen Crossover zu vollziehen und auch die Mainstream-Gesellschaft anzusprechen?
Das Vertrauen zwischen meinen Fans und mir liegt mir sehr am Herzen. Inzwischen bin ich allerdings auch schon seit zwölf Jahren in der Gothic-Szene und seit acht Jahren im Pop-Business dabei. Ich denke, diese langjährige Erfahrung hilft mir sehr dabei.
Inwieweit hast du diesen Crossover schon mit Hilfe der erfolgreichen TV-Serie „Tatort“, wo zwei deiner Songs Titelmelodie waren, und deiner Teilnahme an einem „Bravo Hits Sampler“ vollzogen?
Dadurch konnten sicherlich einige Bonuspunkte gesammelt werden. Das waren gute Möglichkeiten für mich, die ich auch gerne wahrgenommen habe. Grundsätzlich entscheidend waren sie allerdings nicht.
Siehst du dich selbst gerne in der Rolle der „Gothic Queen“, der erfolgreichsten Frau, die den Weg aus dem Gothic Metal hinein ins Blickfeld aller geschafft hat? Oder siehst du dich lieber in der Rolle einer Mutter, die beweist, dass eine erfolgreiche Karriere und eine Familie doch unter einen Hut zu bringen sind?
Ich denke, beides ist wichtig. Gleichzeitig Sängerin und Mutter zu sein, lässt sich gut verbinden. Für mich wird allerdings immer mein Leon das Allerwichtigste in meinem Leben sein.
Inwieweit inspiriert dich dein Sohn Leon? Liefert er dir Ideen/Emotionen/Bilder, die in dein Songwriting einfließen?
Mit der Geburt meines Sohnes hat sich mein ganzes Leben verändert. Mein Alltag sieht jetzt völlig anders aus. Ich mache viele neue Erfahrungen. Natürlich entstehen aus dieser Situation heraus auch ganz neue Ideen und Träume. Ich denke, seit Leon auf der Welt ist, bin ich eine bessere Sängerin geworden, weil ich jetzt sehr viel emotionaler an meinen Gesang herangehen kann. Ich denke, ich bin auch ein besserer Mensch geworden. Leon macht mir jeden Tag aufs Neue klar, was wirklich im Leben zählt.
Hast du keine Angst, dass Beruf und Familie mal zu etwas ganz anderem, vielleicht Bedrohlichem, weil absolut Untrennbarem verschmelzen könnten, weil der Abstand fehlt? Es ist ja nicht nur so, dass dein Mann Alex Musiker bei LEAVES‘ EYES ist, er hat auch noch dein Soloalbum produziert.
Für mich hat diese Situation nichts Bedrohliches. Manchmal fallen das Abschalten von der Musikwelt und der Übergang zum reinen Privatleben wirklich schwer, aber wir arbeiten daran. Und Leon hilft uns sehr dabei.
Was rätst du Menschen, die verzweifelt versuchen, Beruf, Karriere und Privatleben so perfekt unter einen Hut zu bekommen, aber bisher gescheitert sind?
Man muss sich klar machen, dass es das perfekte Leben nicht gibt. Aber man kann sich immer weiter entwickeln und Erfahrungen sammeln, an denen man letztendlich wächst. Zu diesen Erfahrungen gehört auch, Fehler zu machen. Aber aus Fehlern kann man lernen, sie sind nicht umsonst geschehen. Es gibt hier also auch eine positive Seite. Familie, Liebe und Zusammenhalt im Allgemeinen sind, denke ich, die Grundpfeiler eines erfüllten Lebens.
Letzte Frage: Was bedeutet dir der Metal bzw. die Musik im Vergleich zum familiären Privatleben?
Beruflicher Erfolg ist wunderbar, da wird mir wohl niemand widersprechen. Aber eine goldene Schallplatte wird Liebe und Familie niemals ersetzen können.
Habe ich vergessen, etwas zu fragen?
Ja, du hast vergessen zu fragen, ob ich eine Rückenmassage und einen Latte Macchiato brauche. Beides hätte ich jetzt sehr nötig, haha.