Licht Erlischt...
Interview mit Nerrath

Interview

So, jetzt weg von HORN, hin zu den textlichen Inhalten. Wenn ich das recht sehe, hast du dich diesmal sehr urbanen Themen gewidmet. Das ist ziemlich post und trendy, aber der Blickwinkel scheint ein anderer zu sein, oder? Ums Romantisieren geht’s dir ja nicht, richtig? Das hast du ja dem Wandern vorbehalten, hehe… Magst Du die Großstadt? Jetzt mal ganz abgesehen davon, ob es in D solche gibt. Stadtwandern kann auch sehr spannend sein, nur mal so als Tipp. Als ich das erste Mal nach China kam, hab ich in der ersten Woche bestimmt 100 Kilometer zu Fuß zurück gelegt. Schon mal probiert?

Post und trendy, hehe… in der Tat. Einerseits Romantisierung (für mich unverständlich, was an aschfahlen Betonwänden oder rauchenden Fabrikschloten romantisch sein soll, du weißt, ich steh‘ ja eher auf Wald und Wiesen, hehe), aber mein Blickwinkel ist da ein ganz anderer. „Cities… Monuments“ und „A People to be Revised“ widmen sich urbanen Themen, allerdings aus einer deutlich politischen Draufsicht. Ich bin beruflich gezwungen, im Herzen einer namhaften deutschen Großstadt zu leben, und beobachte als Landkind viel und gerne, was um mich herum geschieht (damit auch impliziert, dass ich deinen Vorschlag vom Großstadtwandern bereits ausgiebig beherzigt habe). Die Lieder sind Auszüge dieser Erfahrungen. Ich bin ein starker Globalisierungsgegner und verachte das Zusammenschmelzen tausender Gesichter in die Form eines geschlechts- und herkunftslosen Wesens, das sich mit allen unterhalten kann, aber niemanden versteht, das seine Ursprünge mit allen teilt, aber doch keine eigenen besitzt. Es ist die Welt, in der man sich mit funkelnden Gegenständen und Technologien neue Götter geschaffen hat, deren Prinzipien für alle zu einfach zugänglich und verständlich sind. „Cities… Monuments“ besingt sozusagen das Paradox des 21. Jahrhunderts, eine Welt, in der sich die Menschen dadurch, dass sie ihre primitiven Instinkte und Wurzeln aufs Blut bekämpfen, letztendlich wieder genau in diese zurückentwickeln.

In einem Text geht es um Europa, worum genau? Was Politisches oder was Historisches? Hat die real existierende EU den europäischen Gedanken dauerhaft beschädigt?

Sowohl als auch! Ich halte nichts davon, eine klare Trennlinie zwischen Politik und Musik zu schaffen. Die lahme „Politik hat nichts im Metal zu suchen“-Phrase ist letztendlich oft nur ein hinkender Euphemismus dafür, sich von „rechts“ abgrenzen wollen, aber auf der anderen Seite dann doch nicht zu links zu wirken. Der schadfreie Mittelweg, damit es in ein paar Jahren vielleicht doch noch mal mit dem Millionenvertrag klappt. Der Spruch ist einfach hinfällig, weil er oft nicht stimmt und in seiner eigentlichen Bedeutung auch nicht ernst genommen wird. Denn was z.b. besingt jede x-beliebige Thrash Metal-Band, wenn’s um die bekannten „Social Issues“ geht? Beschwert sich da jemand und schiebt denen einen Riegel vor? „No Politics in Metal“-Phrasendrescherei diktiert, dass man sich zwischen drei Lagern entscheiden muss: „links, rechts oder gänzlich unpolitisch“. Diese Einteilung ist für Kleingeister gedacht, für die das Leben ein Multiple-Choice-Test ist, und berechnet nicht mit ein, dass es erstens tausende feine Nuancen und Überschneidungen zwischen den Lagern gibt, und dass – zweitens – politische Themen auch aus der Vogelperspektive besprochen werden können.

„No Statures of Europe“ etwa ist das Szenario des Aufeinanderprallens politischer Extreme, wie es im wilden ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat. Mich fasziniert die Energie, die freigesetzt wird, wenn Ideale aufeinandertreffen. Das ist heute anders. Am Fehlen von Idealen geht das 21. Jahrhundert zugrunde, und darüber hinaus daran, dass der Bürger zu sehr mit Fußball-WM und DSDS beschäftigt ist, als dass er mit der Faust auf den Tisch hauen könnte, wenn ihm fremde Ideale überhand nehmen (Stichwort Selbstregulierung).

Der europäische Gedanke eines Kulturkreises ist durch die Neudefinition Europas als wirtschaftliche Einheit erstickt und nachhaltig beschädigt worden. Die vielen Völkergruppierungen unseres Kontinenten sind untereinander verwandt, weil sie ähnliche Lebensarten führen und – bis zu einem gewissen Grad – auf gemeinsamen traditionellen Werten basieren. Aber wie es so schön heißt: Beim Geld hört die Freundschaft auf. Kulturelle Gemeinsamkeiten treten in den Hintergrund, sobald man übergeordnet verpflichtet wird, sich die gleiche Wirtschaftsethik anzueignen wie der befreundete Nachbar, und dem anderen mit seinem sauer verdienten Geld aus der Not helfen muss, wenn der mal wieder etwas fauler war. Das Experiment kann man gut am lebenden Beispiel nachvollziehen. Menschen sind nun mal primitive Egoisten. Ich kann die Faulheit meiner besten Freunde mit einem Lächeln als „Ach das ist halt so seine Art“ abtun, aber nur solange, bis ich nicht selbst für besagte Faulheit aufkommen muss. Und Faulheit ist hier nur ein Beispiel, die Unterschiede könnten genauso gut durch unverschuldete Faktoren entstehen.

Europa ist und wird niemals mit der EU/EWR vereinbar sein. Letztere ist ein grenzfreies Konstrukt, das durch wirtschaftliche Interesse abgesteckt, beliebig ausgeweitet oder verkleinert wird, oder auch je nach Charity-Laune der Brüssel-Diktatur mit neuem Humankapital aufgefüllt wird, wenn’s mal irgendwo wieder an fleißigen Bienchen mangelt, die den Unterschied zwischen Mindestlohn und Wunschgehalt nicht kennen. Europa allerdings ist ein Kontinent, angefüllt mit Völkern, die sich über Jahrtausende haben beschnüffeln können, der der gesamten Welt das Leben eingehaucht hat, und bei dem man nicht mal eben ein paar Landzungen absägen oder ein paar Inseln annähen kann.

Entschuldige meine Ausschweifungen, aber ich denke diese Sachen sind wichtig, um einen Teil des Konzepts von „…retrograde…“ zu verstehen.

Kannst du dir eigentlich vorstellen, deine Solosachen mal auf die Bühne zu bringen? Oder hast du es bereits getan? Bspw. mit dem Rest von ZERSTÖRER als Instrumentalsklaven wäre das ja gar nicht so unmöglich. Oder hast du da gar keine Lust drauf?

Ein heißes Eisen. 2008 habe ich zwei HORN-Konzerte veranstalten lassen und mir hierzu drei gut befreundete Musiker ins Boot geholt. Allerdings haben wir zu dem Zeitpunkt in ganz Deutschland verstreut gewohnt und daher ungenügend proben können, geschweigedenn die optischen Auftritte (welches Licht, welche Thematik, welche Details) ordentlich geplant. Daher fielen die Konzerte recht dürftig aus, zumal auch wenig Vorabwerbung getätigt wurde. Das Problem bei HORN ist darüber hinaus die doch sehr eigene und mit vielerlei Effekten versehe Instrumentalisierung, die – wie wir festgestellt haben – live nur begrenzt umsetzbar ist. Dennoch träume ich davon, das Ganze einmal richtig professionell anzugehen. Aber dafür fehlt mir die Zeit. Die Jungs von ZERSTÖRER bzw. das Umfeld sind/ist selbst gut ausgelastet, und auch ich wohne derzeit zu weit ab vom Schuß und habe zu viel um die Ohren, um dieses Problem zu bewältigen.

Für LE sehe ich musikalisch weitaus größere Chancen, da das Material weitaus besser umsetzbar ist. Der Wille besteht, es wird sich zeigen, ob auch die Realität mitspielt.

Als nächstes, nehme ich an, wirst du dich sicher auf HORN konzentrieren. Trotzdem würde mich interessieren, ob du auch für die Zukunft von LICHT ERLISCHT… schon Pläne hast. Bist du der große Pläneschmieder, oder nimmst du Alben eher spontan und kurzfristig auf, wenn dich die Muse küsst?

Nun, wie oben beschrieben, bin ich doch eher der Pläneschmieder. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was als nächstes an der Reihe ist. Ich habe Lust, etwas Neues auszuprobieren, und befinde mich gerade in den Vorbereitungen und weiß, das früher oder später ein neues Album daraus entspringen wird. Ob das Ganze dann auch ein anderes Etikett erhält oder nicht, kann ich im Augenblick nicht beantworten. Tatsache ist, dass ich meine Füße als Solomusiker nicht still halten kann, und im Grunde genommen seit zehn Jahren ununterbrochen neue Musik schreibe. Das mag zwar zu einer gewissen Überkompensation führen (Bei HORN z.b. halte ich ein Jahre/VÖ-Verhältnis von 9:6 schon fast zu unausgewogen), aber mir kreisen einfach zu viele Ideen im Kopf herum, die herausgelassen werden müssen.

So genug der dummen Fragen. Die letzten Worte gehören natürlich dir.

Keineswegs, ich fand die Fragen äußerst interessant und fordernd, und bin sehr dankbar für den relativen Beantwortungsfreiraum.

An den geneigten Leser: Wer an Textilien und einer LP-Version des Albums interessiert ist, dem empfiehlt es sich, ab und an mal unter www.black-blood-records.de vorbeizuschauen. Ich danke für die Aufmerksamkeit!

Licht Erlischt...

 

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28.02.2012

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