Toundra
Stumme Aufklärer im Kampf gegen Eindeutigkeit und Ideenkontamination
Interview
Was haben ein expressionistischer Stummfilm aus dem Deutschland der Zwanzigerjahre und eine eigensinnige Post-Rock-Formation aus dem Herzen der Iberischen Halbinsel gemeinsam? Neben ihrer systematischen Missachtung von Konventionen doch zumindest eins: „Das Cabinet des Dr. Caligari“, TOUNDRAs neuestes Albumprojekt frisch aus der musikalischen Versuchsanstalt. Im Interview geben Bassist Alberto Tocados und Gitarrist Esteban Girón einen Einblick in die Experimentanordnung und sprechen nebenbei von der despotischen Macht des Mikrofons und dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
Euer neues Album „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist der Soundtrack zu einem deutschen Filmklassiker von 1920. In einem Ranking für ungewöhnliche Albumideen würde ich hier ganz klar eine Bestplatzierung ansetzen. Wie kam das Projekt zustande?
Esteban: Die Anfänge gehen auf eine Promoterin zurück, die hier in Madrid eine Veranstaltungsreihe mit Stummfilmklassikern organisiert. Sie war auf der Suche nach Musikern, die während der Vorstellung live vor der Leinwand jammen würden – und fragte uns. Mit der Idee dieser Frau fing also zunächst alles an. Doch wir begnügten uns nicht damit, einfach nur über den Film zu improvisieren und feilten später einen eigenständigen Soundtrack dazu aus.
Alberto: Der Film ist ein Klassiker, den jeder kennt – möchte man meinen. Es soll ja auch Leute in der Band geben, die ihn bei der Vorführung zum ersten Mal gesehen haben (lacht). Aber das war so eine Sache, die wir schon immer mal machen wollten: Einen Soundtrack aufnehmen. Auch wenn wir natürlich davon ausgegangen sind, dass wir mit den Aufnahmen vor der Filmpremiere starten würden (grinst).
„Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist nun mit Sicherheit nicht das, was man ein Standardstudioalbum nennen würde. Hat sich das auch beim Songwriting bemerkbar gemacht?
Alberto: Ja, diesmal war alles etwas anders. Wenn wir an einem normalen Album mit TOUNDRA arbeiten, sammeln wir natürlich zunächst einmal unsere Ideen. In diesem Fall war der Ausgangspunkt allerdings der Film und seine Botschaft. Mit so einer Vorlage weiß man schon im Voraus, an welchen Stellen man Spannung aufbauen muss, um markante Szenen im Film zu unterstreichen. Natürlich müssen auch der Ausdruck und die Stimmungen der Schauspieler umgesetzt werden – das sind alles Faktoren, denen man sich anpassen muss. Bei einem normalen Album haben wir da mehr Freiheiten. Im Schreibprozess waren wir hier limitierter, aber gerade das finde ich spannend: Auf diese Weise haben wir bisher schließlich noch nie gearbeitet.
War der Einfluss des Films auch während der Proben spürbar?
Esteban: Im Proberaum lief der Film immer auf einem Bildschirm.
Beide: Die ganze Zeit (lachen)!
Alberto: Es ist einfach schön, wenn man sich von etwas direkt im Moment beeinflussen lassen kann. Nicht eine einzige Probe lief ohne den Film ab. Wir haben uns immer an das gehalten, was einen unmittelbaren Eindruck auf uns gemacht hat.
Was haben Post-Rock und Stummfilm denn eigentlich gemeinsam?
Esteban: Dass sie ohne die menschliche Stimme auskommen (lacht)? Ich glaube, es ist das Epische an der Musik, das so gut zum Stummfilm passt – auch wenn man das natürlich nicht verallgemeinern kann. Aber gerade mit den expressionistischen Filmen aus Deutschland harmoniert Post-Rock sehr gut. Was die erzählerischen Mittel und die audiovisuelle Sprache angeht sind diese Filme sehr stark, auch ihre Ästhetik besitzt eine besondere Kraft. Und das passt einfach perfekt zur epischen Stimmung in der Musik.
Alberto: Eine Besonderheit von Stummfilmen ist ja, dass sie in Sachen Schauspiel ziemlich überzogen sind – selbst für die Zeit, in der sie gedreht wurden. Eine dramatische Szene im Stummfilm ist also meistens noch etwas dramatischer, als es beispielsweise eine Filmszene von heute wäre. Und dieser Aspekt passt gut zum Post-Rock, der als Musikrichtung stark auf Kontrasten aufbaut – entspannte Parts und heftige, aggressive Parts wechseln sich ab. Das macht diese Musik so ideal, um sie auf den Stummfilm abzustimmen.
Woher kommt eure Faszination für das Avantgardekino? Gibt es da einen geheimen Bezug?
Esteban: Alberto und David [Gitarre] sind echte Filmfreaks. Ich selbst habe mich durch mein Studium in Audiovisueller Kommunikation viel mit Filmgeschichte beschäftigt. Aber die anderen haben wohl immer noch mehr Ahnung vom Thema als ich (lacht).
Alberto: Unter den Avantgardefilmen gibt es viele Klassiker, die schon lange ins kulturelle Bildgedächtnis der Welt eingegangen sind. Ich glaube, dass uns diese Filme wegen der Themen und Handlungen gefallen und eben nicht einfach nur, weil sie Unterhaltungsfilme sind. Noch heute sind diese Klassiker brandaktuell und natürlich auch einfach gut gemacht. An so einem Werk mitwirken zu können ist für uns als Musiker extrem inspirierend.
Du sprichst von Aktualität. Wo genau findet man die in einem Film, der mittlerweile hundert Jahre als ist?
Alberto: Das Aktuelle findet man nicht nur in der Art und Weise, wie der Film Situationen entwirft oder Plottwists verwendet. Die Nachricht des Films wendet sich gegen Totalitarismus – ein Thema, das unserer Meinung nach auch heute noch aktuell ist – gerade hier in Europa. Mit den Entwicklungen, die bekanntlich gewisse ideologische Strömungen in den letzten Jahren erfahren haben…
Stichwort Plot Twist: Mit Sicherheit wisst ihr von den Änderungen, die Regisseur Robert Wiene in Hinblick auf die Handlung vorgenommen hat. Durch seine Eingriffe werden wir als Zuschauer im Unklaren darüber gelassen, wer nun eigentlich der Wahnsinnige ist: Doktor Caligari als manipulativer Psychiater oder sein Kritiker Franzis, der vielleicht einfach nur paranoid ist. Wie fällt eure Interpretation zum Ende aus?
Esteban: Die Wendung am Ende hat den Effekt, die bisherige Ordnung des Films zu relativieren. Ich finde, dass dieser Plot Twist dem Film eine interessante Richtung gibt – durch ihn erhält die Kritik am sich ausbreitenden Autoritarismus ein starkes Gewicht. Oder sagen wir eher: Kritisiert wird, wie die Instrumentalisierung von Ideen am Ende zu Gewalt führen kann. Mit der plötzlichen Wendung wird an das kritische Denken der Zuschauer selbst appelliert – denn das ist schließlich alles, was man dem Autoritarismus entgegenhalten kann: kritisches Denken. Ich finde, dass gerade diese Änderung des Drehbuchs essentiell für die kritische Aussage des Films ist.
Alberto: Ich finde es wichtig, den Leuten Raum für ihre eigenen Gedanken zu lassen, damit sie die Wendungen im Film selbst interpretieren können. Das heutige Kino neigt dazu, zu viel zu erklären und Aussagen überdeutlich zu machen. In „Das Cabinet des Dr. Caligari“ gibt es verschiedene Stellen, die dem Film eine offenere Form geben – und das kommt den Zuschauern zugute.
Die Offenheit nötigt den Zuschauer also förmlich dazu, sich selbst Gedanken zu machen. Verwendet ihr aus diesem Grund auch keinen Gesang in eurer Musik?
Alberto: Das spielt definitiv eine wichtige Rolle für die Musik von TOUNDRA, ja. Manchmal machen wir einen Song, den wir für fröhlich halten, der voller Energie steckt – und dann erzählt uns jemand, dass er für ihn todtraurig klingt. Es überrascht und freut uns immer, wenn die Leute unsere Musik von ihrem eigenen Standpunkt aus interpretieren. Wir möchten ihnen nicht vorschreiben, was sie beim Hören unserer Musik zu denken oder zu fühlen haben. Natürlich haben wir ein Konzept dazu im Kopf, aber wir wollen die Ideen der anderen nicht mit unseren Gedanken kontaminieren.
Esteban: Wir sind gegen den Autoritarismus der Sänger (lacht).
Kann man also von einem verstärkten politischen Kurs in eurer Musik sprechen?
Esteban: Wir haben eigentlich immer versucht, eine kritische Komponente in unsere Musik einfließen zu lassen. Das war schon beim ersten Song der Fall, den wir je geschrieben haben – „Baja Mar“ vom Album „I“. Auf unserem zweiten Album haben wir auf das Thema Krieg, die Zerbrechlichkeit von Zivilisation angespielt und ‚IV‘ ist eine Metapher dafür, wie der Mensch die Natur und damit seinen eigenen Lebensraum zerstört. In unserem Nebenprojekt EXQUIRLA schlagen sehr deutlich eine politische Richtung ein, was zum Beispiel in den Texten deutlich wird. Auf „Vortex“ haben wir mit der humanitären Krise auf dem Mittelmeer noch einmal ein wichtiges politisches Thema aufgenommen. TOUNDRA wird es nur eine Zeit lang geben und wir dürfen die Chance nicht verpassen, in unseren Songs auf das aufmerksam zu machen, was uns ungerecht erscheint.
Gerade im Vergleich zu vorigen Alben wie „III“ und „Vortex“ schlägt „Caligari“ deutlich leisere Töne an. Die für den Post-Rock so typischen Wechsel zwischen ruhigen Parts und massiven Ausbrüchen sind hier deutlich weniger präsent. Steckt dahinter ein Konzept?
Alberto: Es gibt durchaus heftige Momente auf dem Album, aber die feine und empfindsame Seite unserer Musik können und wollen wir deshalb nicht außenvorlassen. Wir waren immer eine Band der Gegensätze und es würde uns schwerfallen, dieses Kontrastkonzept von Zerbrechlichkeit und Aggressivität aufzugeben. Über dem Film hat sich unsere Musik natürlich etwas anders entwickelt, er gab die Richtung vor. Man könnte vielleicht sagen, dass der Film die Rolle eines eigenen Instruments einnimmt: Er ist die Spezialzutat, die dem Album seinen ganz eigenen Charakter verlieht. Manche Leute sind natürlich skeptisch, ob das überhaupt so recht zusammenpassen will – TOUNDRA und expressionistische Kunst. Wir dagegen haben uns wohl damit gefühlt, dem Film etwas von uns hinzuzufügen. Und man muss sagen, dass die Reaktion auf die Live-Shows bisher auch wahnsinnig gut war.
Esteban: Man sollte „Caligari“ vielleicht nicht als neues TOUNDRA-Album verstehen, sondern mehr als einen Soundtrack, der eben von TOUNDRA zusammengestellt wurde. Die Absicht und die Herangehensweise waren diesmal anders, komplett verschieden von unseren regulären Releases. Wir haben andere Werkzeuge verwendet, aus dem einfachen Grund heraus, dass wir eben konnten. Dabei waren wir etwas zurückhaltender, was Schlagzeug und Distortion angeht, aber dafür sind auch ganz neue Instrumente und Noise-Elemente dazugekommen. Mittlerweile haben wir immerhin sechs Studioalben – sieben, wenn man das EXQUIRLA-Release von 2017 mit in die Rechnung aufnimmt – in elf Jahren aufgenommen. Das ist eine ganze Menge! Deshalb wollten wir dieses Mal etwas Anderes ausprobieren – um später umso lieber zum Erprobten zurückzukehren.
Heißt das für die Zukunft: „Keine Experimente“?
Alberto: Das nächste Album wird auf jeden Fall wieder ein „normales“ sein. Aber natürlich bleiben wir offen für Möglichkeiten wie diese – denn es war einfach ein lang gehegter Wunsch von uns, einmal ein Projekt wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ umzusetzen. Bis sich die Gelegenheit dazu ergeben hat, hat es eine Weile gedauert – dafür sind wir mit dem Resultat umso zufriedener. Die Chance war einfach einmalig.
Eine letzte Frage zum Schluss: Wie hat eigentlich euer Label auf die Pläne zu „Das Cabinet des Dr. Caligari“ reagiert?
Esteban: (ruft) Marta! Haben dir die neuen Songs gefallen?
Marta Ribarte von InsideOut (aus dem Hintergrund): Nein!
Alberto: Also sie fand die Idee wunderbar (lacht).
Das Interview mit TOUNDRA führte metal.de-Gastautorin Anke Hügler. Wir bedanken uns für die Aufbereitung und Bereitstellung.