Toundra
Stumme Aufklärer im Kampf gegen Eindeutigkeit und Ideenkontamination
Interview
Was haben Post-Rock und Stummfilm denn eigentlich gemeinsam?
Esteban: Dass sie ohne die menschliche Stimme auskommen (lacht)? Ich glaube, es ist das Epische an der Musik, das so gut zum Stummfilm passt – auch wenn man das natürlich nicht verallgemeinern kann. Aber gerade mit den expressionistischen Filmen aus Deutschland harmoniert Post-Rock sehr gut. Was die erzählerischen Mittel und die audiovisuelle Sprache angeht sind diese Filme sehr stark, auch ihre Ästhetik besitzt eine besondere Kraft. Und das passt einfach perfekt zur epischen Stimmung in der Musik.
Alberto: Eine Besonderheit von Stummfilmen ist ja, dass sie in Sachen Schauspiel ziemlich überzogen sind – selbst für die Zeit, in der sie gedreht wurden. Eine dramatische Szene im Stummfilm ist also meistens noch etwas dramatischer, als es beispielsweise eine Filmszene von heute wäre. Und dieser Aspekt passt gut zum Post-Rock, der als Musikrichtung stark auf Kontrasten aufbaut – entspannte Parts und heftige, aggressive Parts wechseln sich ab. Das macht diese Musik so ideal, um sie auf den Stummfilm abzustimmen.
Woher kommt eure Faszination für das Avantgardekino? Gibt es da einen geheimen Bezug?
Esteban: Alberto und David [Gitarre] sind echte Filmfreaks. Ich selbst habe mich durch mein Studium in Audiovisueller Kommunikation viel mit Filmgeschichte beschäftigt. Aber die anderen haben wohl immer noch mehr Ahnung vom Thema als ich (lacht).
Alberto: Unter den Avantgardefilmen gibt es viele Klassiker, die schon lange ins kulturelle Bildgedächtnis der Welt eingegangen sind. Ich glaube, dass uns diese Filme wegen der Themen und Handlungen gefallen und eben nicht einfach nur, weil sie Unterhaltungsfilme sind. Noch heute sind diese Klassiker brandaktuell und natürlich auch einfach gut gemacht. An so einem Werk mitwirken zu können ist für uns als Musiker extrem inspirierend.
Du sprichst von Aktualität. Wo genau findet man die in einem Film, der mittlerweile hundert Jahre als ist?
Alberto: Das Aktuelle findet man nicht nur in der Art und Weise, wie der Film Situationen entwirft oder Plottwists verwendet. Die Nachricht des Films wendet sich gegen Totalitarismus – ein Thema, das unserer Meinung nach auch heute noch aktuell ist – gerade hier in Europa. Mit den Entwicklungen, die bekanntlich gewisse ideologische Strömungen in den letzten Jahren erfahren haben…
Stichwort Plot Twist: Mit Sicherheit wisst ihr von den Änderungen, die Regisseur Robert Wiene in Hinblick auf die Handlung vorgenommen hat. Durch seine Eingriffe werden wir als Zuschauer im Unklaren darüber gelassen, wer nun eigentlich der Wahnsinnige ist: Doktor Caligari als manipulativer Psychiater oder sein Kritiker Franzis, der vielleicht einfach nur paranoid ist. Wie fällt eure Interpretation zum Ende aus?
Esteban: Die Wendung am Ende hat den Effekt, die bisherige Ordnung des Films zu relativieren. Ich finde, dass dieser Plot Twist dem Film eine interessante Richtung gibt – durch ihn erhält die Kritik am sich ausbreitenden Autoritarismus ein starkes Gewicht. Oder sagen wir eher: Kritisiert wird, wie die Instrumentalisierung von Ideen am Ende zu Gewalt führen kann. Mit der plötzlichen Wendung wird an das kritische Denken der Zuschauer selbst appelliert – denn das ist schließlich alles, was man dem Autoritarismus entgegenhalten kann: kritisches Denken. Ich finde, dass gerade diese Änderung des Drehbuchs essentiell für die kritische Aussage des Films ist.
Alberto: Ich finde es wichtig, den Leuten Raum für ihre eigenen Gedanken zu lassen, damit sie die Wendungen im Film selbst interpretieren können. Das heutige Kino neigt dazu, zu viel zu erklären und Aussagen überdeutlich zu machen. In „Das Cabinet des Dr. Caligari“ gibt es verschiedene Stellen, die dem Film eine offenere Form geben – und das kommt den Zuschauern zugute.
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Klingt auf dem Papier besser als in der Praxis. Kann nebenher durchaus Wirkung entfalten, aber bei bewusstem hören macht sich doch etwas Langeweile breit, was für alles, wo Post davor steht, ja aber nicht ungewöhnlich ist. Für die Thematik klingt das auch zu lieblich, wobei fehlende Härte nicht das Problem ist, das sei erwähnt. Das alles auf das Lied bezogen und wird dennoch in Gänze angehört, da das Thema und der Film natürlich sehr gut sind.