Lindy-Fay Hella
Ich kann mich nicht an Regeln halten
Interview
10 Jahre nach dem ersten Wardruna-Album hat Lindy-Fay Hella das eigene Debüt gewagt. Wir sprechen mit ihr über ihren Werdegang, Metal und ihr gewaltiges Organ.
Das Interview mit Lindy-Fay Hella führte metal.de-Gastautorin Ruby Morrigan. Wir bedanken uns für die Aufbereitung und Bereitstellung.
Es gibt Sängerinnen, die kann man schlecht von anderen unterscheiden. Es gibt Sänger, die brauchen ein Mikrofon, damit man sie hört. Und dann gibt es Lindy-Fay Hella. Als die weibliche Stimme von Einar Selviks norwegischem Ambient-Folk-Projekt WARDRUNA ergänzt sie mit ihrem beachtlichen Stimmumfang und epischen Ausdruck den historisch inspirierten Sound, der spätestens seit Verwendung im Serienerfolg Vikings die Weltmusik im Sturm erobert. Auf der Bühne tanzt sie unentwegt, brilliert im ganzen Spektrum von sanft-ätherisch bis markerschütternd, und wirkt dabei mehr als ein bisschen überirdisch, wie eine schwarzhaarige Gestalt aus einer vergessenen nordischen Sage.
Nach zahlreichen Kollaborationen mit anderen Bands, zuletzt MY DYING BRIDE, hat Lindy-Fay im September ihr Solo-Debüt „Seafarer“ veröffentlicht, wo sich zum geheimnisvollen Ambient-Folk-Stil, wie man ihn durch Wardruna schon ahnte, mehr Elektronik und eine Prise Düsterpop gesellen. Kurz bevor sie ins Studio zurückkehrt, um Material für Wardrunas neues Album Kvitravn einzusingen, nimmt sich Lindy spätabends die Zeit für ein Telefoninterview mit mir. Von Bergen und Berlin aus unterhalten wir uns über stimmliches Selbstbewusstsein, Vorurteile gegen Metalheads und die Arbeit mit ihrem guten Freund Gaahl.
Lindy, Glückwunsch zu deinem erstklassigen Debütalbum. Aber erzähl doch mal von Anfang: Wie bist du Musikerin geworden?
Als kleines Kind war ich sehr auf Musik fokussiert, es lief ständig Musik im Haus. Als meine Großmutter eine von diesen alten Heimorgeln kaufte, spielte ich stundenlang darauf. Mit dem Singen fing ich erst später an. Mein Cousin – derjenige, auf dessen Traum der Song „Three Standing Stones“ basiert – war zehn Jahre älter, und er zwang mich zum Singen. Er sagte: „Du sollst singen. Ich weiß einfach, dass du singen sollst.“ Und dafür bin ich ihm sehr dankbar, denn vorher war ich zu schüchtern.
Wie hat er dich zum Singen gebracht?
Er spielte mir alte Platten vor, die er mochte. Ich liebte den Ausdruck in den Stimmen einiger dieser Sängerinnen, wie Brenda Lee und Connie Francis. Als ich mich dann endlich traute, den Mund aufzumachen, war da ganz schön viel lauter Klang, und ich fühlte mich unfassbar befreit. Ich glaube, ich war acht. Aber ich machte nicht wirklich etwas damit, bevor ich 18, 19 war. Da traf ich auf der Busfahrt von meiner Insel Radøy nach Bergen einen Typen, der sagte, seine Band suche noch Gesang. Ich dachte: „Das kann ich doch. Ich sage einfach ja.“ Seither habe ich viele verschiedene Dinge gemacht.
Was für Dinge denn so?
Als ich in die Stadt zog, geriet ich aus irgendeinem Grund da so rein: Wann immer jemand einen Song aufnahm und so was wie einen geisterhaften Chor brauchte, oder etwas, das ein wenig heulend oder seltsam klingt, klingelte mein Telefon. Also beteiligte ich mich an einem Song hier, einem Track da. Zum Beispiel für die Band HOUSE OF HISS, oder experimentelle Noise-Bands wie JAZZKAMMER aus Stavanger. Ich habe auch mit RÖYKSOPP gearbeitet, aber da wurde meine Stimme zu einem Teil der Instrumente. Ich konnte also nicht frei komponieren, aber bei anderen ging das.
Wie kam es dann zu WARDRUNA?
Ich hatte eine Band mit Arne Sandvoll, der jetzt auch live bei WARDRUNA spielt. Unsere Band, ULLAN GENSA, wurde nie aufgelöst, aber wir haben auch nichts veröffentlicht. Wir spielten nur vier oder fünf Konzerte, und bei einem davon war Einar. Da entschied er, mich zu fragen, ob ich auf zwei Songs singen wollte. Und seither, tja, bin ich einfach geblieben.
WARDRUNA gibt es jetzt seit mehr als 15 Jahren. Wie hast du dich durch die Zeit mit der Band verändert?
Ich bin sehr zerstreut. Auf Tour mit WARDRUNA muss ich sichergehen, dass das für die anderen nicht zur Last wird. Im Laufe der Jahre habe ich mir beigebracht, systematischer zu sein, etwa wenn ich reise und pünktlich sein muss. Das klingt vielleicht lächerlich, aber schon seit meiner Kindheit tue ich mich mit Pünktlichkeit schwer. Ich war schon immer in meiner eigenen Welt – aber nicht mit Absicht. So bin ich einfach. Abgesehen davon schätze ich mich unheimlich glücklich, so viele schöne Orte bereisen zu dürfen und dabei Musik zu machen.
Wie funktioniert WARDRUNA, wenn ihr nicht tourt? Sprichst du viel mit Einar darüber, was du aufnimmst, oder kannst du dich frei austoben?
Beides. „Isa“ ist ein gutes Beispiel, wo ich mir ausgedacht habe, was ich singe. Oder „Bjarkan“ und „Sowelu“ – die Gesangsmelodie im ersten Teil stammt von mir. Die meisten Songs haben natürlich schon eine Melodie, aber ich habe die Freiheit, mir etwas auszudenken.
Wann hast du dich entschieden, ein eigenes Album rauszubringen?
Ich habe die ganzen Jahre über Dinge gemacht, aber ich hatte nie den großen Drang, etwas zu veröffentlichen. Vor ein paar Jahren entschied ich plötzlich, dass es an der Zeit ist. Ich trete gern auf und hätte gern mehr Konzerte gespielt, also dachte ich, dann muss ich auch was rausbringen. Ich hatte so einen Drang, aus meiner Komfortzone auszubrechen.
Woher kam dieser Drang?
Ich hatte einen guten Freund verloren – er war mein Ex-Freund, aber wir waren weiter gut befreundet. Das war ein großer Schock. Nach seinem Tod dachte ich über existentielle Fragen anders nach. Und ich hatte dieses Bedürfnis, es irgendwie rauszubekommen und die Trauer zu verarbeiten.
Wie bist du an „Seafarer“ herangegangen?
Anfangs sollte mein Album nur aus Gesang bestehen. Aber dann langweilte ich mich. Ich dachte an Musiker, die ich kenne, die alle unterschiedliche Dinge machen – ich wollte wissen, was ihnen dazu einfällt. Also ließ ich meinen Cousin Drums hinzufügen und Herbrand Larsen das meiste davon programmieren, nur um den Ball ins Rollen zu kriegen. Ich wollte Sachen zusammenbringen, die eigentlich nicht zusammenpassen. Weil ich keine Lust auf Einschränkungen hatte, die besagen: „Dieses Instrument kannst du aber auf dem Track nicht verwenden.“
Du hast Elektronik mit organischen Instrumenten gemischt – und ein paar davon spielt dein WARDRUNA-Kollege Eilif Gundersen.
Ja, ich wollte Musiker, denen ich freie Hand lassen konnte, denn dann kriegt man das beste Ergebnis. Ich zeigte ihnen also Songs und sagte: „Aber nur, wenn du es auch fühlst.“ Es ist nie gut, etwas zu erzwingen.
Und dann ist da Gaahl, oder Kristian.
Das war ein bisschen lustig. Denn privat ist er ja einer meiner besten Freunde. Und ein fantastischer Sänger – einer meiner Favoriten, unabhängig von unserer Freundschaft. Aber ich dachte: „Ich kann ihn unmöglich fragen – am Ende bringt er es nicht über sich, nein zu sagen.“ [Lacht] Weil er einfach so lieb und gutherzig ist. Ich dachte auch, diese Musik sei ihm definitiv zu ‘rosa’. Aber dann wollte er natürlich hören, woran ich arbeitete. Als ich ihm etwas vorspielte, fing er an, dazu zu singen, und sagte, er liebe es. Dann war er auf einmal dabei und verlieh dem Ganzen seine persönliche Note. Und darüber bin ich sehr froh.
In Zukunft dürftest du dich also trauen, ihn zu fragen.
Tatsächlich machen wir auch bald noch mehr zusammen. Er hat mich eingeladen, im März bei einer Performance in der norwegischen Botschaft in Berlin mitzumachen. Und in Zukunft werden wir mehr zusammenarbeiten. Das Event in Berlin hat etwas mit einem Metalfestival in Oslo zu tun. Es geht darum, norwegische Musik mal in einem anderen Setting vorzustellen.
Norwegischer Metal hat sich im Laufe der Jahre extrem entwickelt, vom scary Underground-Phänomen zu einem Kulturexport, zu etwas Familienfreundlichem.
Es ist unglaublich. Obwohl ich nie selbst Metal gespielt habe, war ich schon immer mit Leuten aus der Szene befreundet. Und ich musste Kristian mehrmals verteidigen. Heute ist das nicht mehr nötig, aber vor 20 Jahren schauten die Leute auf mich herab, weil ich mit ihm befreundet war. Weil Menschen – nicht die Mehrheit, aber einzelne – meinten, ich sei deswegen alles Mögliche. Dass wir böse Menschen seien und so. [Lacht] Heute weiß natürlich die ganze Stadt, dass er ein total lieber Kerl ist. Aber so lief es mit Metal insgesamt, und das ging sehr schnell. Ich denke, vielleicht hat es was damit zu tun, dass diese Musik damals von Herzen kam, und das merkten die Leute. Und es war etwas völlig Neues und Anderes. Trotzdem finde ich es auch seltsam, wie es sich gewandelt hat, von etwas total Furchteinflößendem zu – ja, es ist, wie du sagst, ein Kulturexport. Die Leute in Norwegen sind stolz darauf.
Du sagst, du hast nie Metal gemacht, aber hast du viel Metal gehört?
Nein, aber auf Konzerte gehen liebe ich schon immer. Natürlich war ich schon bei GAAHLS WYRD, dann war ich zum Beispiel noch bei IMMORTAL… Aber ganz ehrlich, ich hab vermutlich irgendeine Diagnose, denn ich kann dieselben Songs jahrelang anhören. Ich hing mehrere Jahre lang an „Black Celebration“, dem Album von DEPECHE MODE. Ich habe jahrelang nichts anderes angehört. Insgesamt war es schon viel elektronische Musik.
Elektronische Musik ist also deine große Liebe?
Ja, aber es muss irgendwie rau, düster und melancholisch sein. Wenn sich alles zu glatt anhört, mag ich es nicht mehr. Aber mir gefallen Sachen aus so gut wie jedem Genre. Ich habe auch alte Cabaret-Musik gehört, und ich liebe uralten Blues aus den 20ern und 30ern. Ich habe Phasen, in denen ich mich auf etwas konzentriere. Norwegischer Folk war auch so eine Phase.
Wie sehen deine Zukunftspläne aus? Du hast deine Tour verschoben, aber du holst sie definitiv nach?
Genau, sie ist nur verschoben. Das war, weil ich mein Management gewechselt habe und es ein paar Probleme mit den Terminen und der Logistik gab. Aber das kommt auf jeden Fall und ich freue mich sehr darauf. Zum Glück stehen aber auch so ein paar Konzerte an. Wir drehen auch ein Musikvideo für „Two Suns“, und dann werde ich im Laufe des Jahres drei Songs mit einer Band veröffentlichen, mit der ich gerade zusammenarbeite. Der erste Song kommt im Frühling raus. Außerdem arbeite ich noch an eigenen Sachen, die entweder zu einer EP oder einem Album werden.
Und aktuell heißt es volle Kraft voraus für das neue WARDRUNA-Album?
Kommende Woche gehe ich für WARDRUNA ins Studio. Ich bin nicht ganz sicher, wann ich die Musik kriege. Mit Einar zu arbeiten, ist großartig, weil du nie richtig weißt, was du bekommst. Ich denke, da wir schon so lange zusammenarbeiten, weiß er einfach, dass es nichts macht, wenn ich das Material erst zwei Tage vor meinem Studiotermin kriege. Wenn ich wollte, das alles total durchgeplant ist, hätte ich klassische Musik studiert. Ich könnte nie klassische Sängerin sein, einfach weil ich mich nicht an Regeln halten kann. Ich breche sie lieber. Ich kriege die Sachen gern serviert, kurz bevor ich etwas damit machen soll. Dann hast du nicht so viel Zeit zum Einstudieren und es bleibt ein bisschen ungeschliffener.
Als ich dich zum ersten Mal live gehört habe, saß ich in der ersten Reihe und konnte zusätzlich zum Mikrofon-Sound deinen Raumklang hören. Wie hast du diese Stimmgewalt entdeckt?
Vom Wohnzimmer aus auf unserer Insel konnte ich ganz weit entfernt am Horizont die Berge von Hardanger sehen. Ich stellte mir dann einfach vor, meine Stimme erreiche diese Berge. Ein Stück weit malte ich es mir auch wie reisen aus – dass meine Stimme jetzt den ganzen Weg dorthin fliegt. Je nach Persönlichkeit könnte man sich alles Mögliche vorstellen – Hauptsache, man fühlt sich dabei unfassbar stark in sich selbst. Wenn du dich nicht stark und gefestigt fühlst, dann musst du dir vorstellen, dass du es bist.
Hast du eine Gesangsausbildung? Und wie kam es dann zu deinem markanten, eigenen Stil?
Ich habe jahrelang Gesangsunterricht bei Benedicte Sjøvold gehabt, erst in meiner Jugend, und dann habe ich vor Kurzem wieder angefangen. Ab 17 sang ich klassisches Material mit meiner Lehrerin, aber sie wollte auch hören, woran ich selbst arbeitete – ich machte ja eigene Sachen, auch wenn ich sie nicht veröffentlichte. Es entstand dann so ein seltsamer Mix mit dem klassischen Stil. Ich bin sehr froh, dass ich die klassische Basis habe und gelernt habe, wie man auf die Stimme aufpasst und so weiter, aber das mit der lauten Bruststimme habe ich selbst beim Üben entdeckt. Für meinen Körper fühlte es sich einfach natürlicher an, auf diese Art Klang zu erzeugen. Ich kann so auch die Noten länger halten. Das ist eine Technik, von der mir klar wurde, dass viele Musikrichtungen aus aller Welt sie gemeinsam haben, von Joik über bulgarischen Gesang bis hin zu afrikanischen Gesängen.
Würdest du sagen, du singst eher intuitiv als hochtechnisch?
Wenn ich ein Konzert singe, dann dreht sich alles um die Emotionen. Aber es ist sehr gut, Technik als Hintergrund zu haben, zum Beispiel falls du mal krank wirst. Das schlimmste Konzert war für mich vor zehn Jahren, oder vielleicht vor sieben, in der Schweiz, als ich einen schlimmen Atemwegsinfekt hatte. Im oberen Stimmregister hatte ich schon einiges verloren. Also musste ich mir andere Lösungen ausdenken, und durchgehend auf Technik achten. Ich glaube, das war auch das Konzert, wo die Erkältung danach zur Lungenentzündung wurde. Aber ich habe es durchgezogen. Vielleicht hätte ich dieses Konzert absagen sollen, aber ich sage sonst nie etwas ab. Wenn ich mal was absage, dann heißt das eigentlich, dass ich tot bin.
Fotocredit des Titelbildes: Raina Vlaskovska, May Husby