Leprous
Interview mit Einar Solberg zum neuen Leprous-Album "Aphelion"

Interview

Bandfoto von LEPROUS 2021

Um demnächst nur noch Singles zu droppen, sind LEPROUS dann doch noch zu sehr Prog.

In der Musikindustrie gibt es einen Trend in Richtung einzelner Singles und EPs anstatt vollwertiger Alben. Wäre das ein Weg, den ihr euch für LEPROUS vorstellen könntet?

Die Prog-Szene schätzt ihre Alben immer noch sehr. Was du beschreibst, findet ja eher in der Pop-Szene statt. Obwohl es mittlerweile ja durchaus Leute gibt, denen wir zu poppig geworden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob die Pop-Industrie da zustimmen würde. (lacht)

Unsere Musik ist immer noch für Musikliebhaber. Und Leute, die Musik lieben, hören meist auch noch ganze Alben. Das Albumformat ist aus unserer Szene noch lange nicht wegzudenken. Aber du hast recht: Als großer EDM-Artist brauchst du mittlerweile nicht mehr unbedingt Alben zu veröffentlichen.

Kannst du uns ein bisschen was zum Albumtitel „Aphelion“ erzählen? Nach allem, was ich weiß, beschreibt das Wort den Punkt, an dem ein Objekt in der Umlaufbahn der Sonne am weitesten von ihrer Wärme und ihrem Licht entfernt ist. Eine schöne Metapher, aber wofür? Geht es erneut um deine psychischen Dämonen?

Die Bedeutung ist tatsächlich eher positiv. Es geht mehr um die Pandemie-Situation, die uns alle im vergangenen Jahr beschäftigt hat: Obwohl wir so weit weg waren von der Wärme und dem Licht, dem Ort, an dem wir sein wollen, hatten wir Möglichkeiten und Handlungsoptionen. Das Leben ging irgendwie weiter. Ich glaube, dass viele Leute das so wahrgenommen haben. Ja, wir mussten unsere Lebensweisen teilweise radikal einschränken und ändern. Viele haben aber Alternativen und Ideen gefunden, mit denen es irgendwie weiterging. In manchen Fällen sogar mit positiven und überraschenden Ergebnissen, die im normalen Alltag vorher so nicht denkbar gewesen wären. Im Kern ging es um Anpassung und den Umgang mit den beschränkten Möglichkeiten.

So haben LEPROUS ja die Möglichkeiten des Live-Streamings voll ausgenutzt. War das etwas, das ihr schon immer mal machen wolltet, oder auch eine reine Pandemie-Entscheidung?

Das war zu 100 Prozent durch die Pandemie begründet. Wir wollten irgendwie weiter aktiv bleiben und live spielen. Die Kommunikation mit unseren Fans war uns wichtig und auch einfach zu zeigen, dass wir noch da sind. Musik ist so ein wichtiger Teil unserer Leben, dass wir nicht einfach aufhören konnten, nur weil plötzlich dieses Virus da war.

Habt ihr auch ein bisschen experimentiert oder war es eure normale Show im Digitalen?

Wir haben ein paar ganz besondere Sachen gemacht. Beispielsweise konnten unsere Fans uns sechs Tage lang virtuell dabei begleiten, wie wir einen Song schrieben und auch selbst mitbestimmen, welche Wege wir beim Songwriting gingen. Das war eine neue und sehr interessante Erfahrung, mit der wir eine Fan-Verbindung herstellen konnten.

Was die Konzerte angeht war meine Erkenntnis, dass die einfachsten Konzepte oft die beliebtesten sind. Album „XY“ in voller Länge kommt immer noch am besten an. Für uns war das super und es hat sehr viel Spaß gemacht und die Fans waren begeistert.

Logisch. So schön ein Best-of-Set ist, ist es doch auch etwas ganz besonderes, wenn deine Lieblingsband DEIN Lieblingsalbum in voller Länge spielt.

Ja, wobei: Ich dachte lange genauso, aber dann habe ich MASSIVE ATTACK live gesehen, wie sie „Mezzanine“ in voller Länge gespielt haben. Und im Laufe des Sets habe ich gemerkt, dass ich eigentlich doch nur vier oder fünf Songs von dem Album wirklich, wirklich gerne mag. Die anderen hätte ich gerne getauscht gegen Highlights von den anderen Alben. Nur weil Leute Lieblingsalben haben, heißt das noch lange nicht, dass auch gleich alle ihre Lieblingssongs darauf sind. Für mich persönlich funktioniert eine gemischte Setlist einfach besser. Aber natürlich macht es sehr viel Spaß, für eine Nacht zu einem einzelnen Album zurückzukehren und die Leute lieben es.

Du sprachst gerade von eurem virtuellen Songwriting-Experiment: Wie war das für dich? Plötzlich schrieben Fans eure Songs?

Glaub mir, wenn sie den Song wirklich alle zusammen geschrieben hätten, wäre es ganz schön scheiße geworden. Nicht, weil sie es musikalisch nicht draufhätten, sondern weil du keinen Song mit mehreren Hundert Menschen gemeinsam schreiben kannst. Und es waren beileibe nicht nur Musiker und Songwriter im Live-Stream.

So war es einfach ein witziges Experiment, in dem man diverse, teilweise kaum umsetzbare Vorgaben bekommen hat, aus denen wir dann etwas machen mussten. Uns war schon klar, dass das Ergebnis eine Katastrophe hätte werden können. Aber unsere Mission war es, diese wirklich zufälligen und abgefahrenen Vorgaben der Fans zu einem guten Song zusammenzufügen. Im schlimmsten Fall hätten wir halt einen lustigen Bonus-Track mit einer lustigen Hintergrund-Story gehabt.

Man kann also sagen: Wir haben schon als Band den Song geschrieben – die Fans haben uns dabei aber durch diverse Vorgaben gelenkt. Und glücklicherweise ist der Song dann doch ganz cool geworden und hat es auf das Album geschafft.

Welcher ist es?

„Nighttime Disguise“, der Rausschmeißer.

Echt? Wahnsinn. Er passt als bombastisches und explosives Outro einfach perfekt. Man hört dich darin sogar schreien. War das auch eine Vorgabe der Fans?

Ja, sie haben einfach für alles gevotet. Es gab mehrere Vorgaben für Stilrichtungen, und meistens wollten sie alles auf einmal. Deshalb musste ich in diesem Song meine komplette Range nutzen, inklusive Screaming.

Die Herausforderung für uns war es, einen geschmackvollen Weg zu finden, der das alles vereint und der sich gut anfühlte. Deswegen hat dieser Song drei verschiedene Tonarten, die nichts miteinander gemeinsam haben. Und ich habe wahnsinnig viel Zeit damit verbracht, sie so zu modulieren, dass die Übergänge organisch klingen. Das war wirklich das Schwierigste. Taktarten waren weniger das Problem. Da sind wir einiges gewohnt.

„Schlechte Songs schreiben wir andauernd.“

Ich bin großer Fan von dem, was ihr draus gemacht habt. Auf gewissen Weise, haben die Fans doch das Beste aus euch rausgeholt, oder?

Ja, und manchmal regt es den kreativen Prozess sehr an, wenn man mit vielen Einschränkungen schreibt. Dieser Song wäre nie so geworden, wenn wir ihn nicht auf diese Weise geschrieben hätten. Ein solches Experiment werden wir vielleicht nie wiederholen – dafür wird es möglicherweise andere Experimente geben. Es ist immer gut, die eigene Komfortzone zu verlassen und etwas Neues zu machen.

Und wenn Leute uns fragen, ob wir uns keine Sorgen um das Ergebnis bei einem solchen Experiment machen, sage ich immer: Was wär das Schlimmste, was uns passieren könnte? Ein schlechter Song? Schlechte Songs schreiben wir eh andauernd. Das sind wir gewohnt.

Habt ihr das Experiment aufgezeichnet und kann man es irgendwo sehen?

Ja, wir würden sehr gerne eine Schnittversion davon anfertigen, vielleicht als Bonus-Material. Aber es ist sehr viel Material, dass wir dafür erst einmal sichten müssen.

Zum Abschluss: Wann steht denn für LEPROUS mal wieder eine richtige Tour an und was sind eure Erwartungen für 2022?

Wenn es eine Sache gibt, die ich während der Pandemie aufgegeben habe, dann ist das, Erwartungen zu haben. Es ändert sowieso nichts. Wenn wir touren dürfen, dann touren wir. Wenn nicht, machen wir etwas anderes. Ich denke aber, dass wir zumindest einige der Shows werden spielen können, die wir zum jetzigen Zeitpunkt geplant haben. England ist ja zum Beispiel jetzt schon komplett offen. Demnächst werden wir sehen, ob das eine gute Idee war oder nicht.

Also: Ich erwarte nichts. Wenn wir die Tour durchziehen können, freue ich mich sehr. Wenn nicht, holen wir sie eben nach.

Wie sieht es mit Sitzkonzerten aus? Bei LEPROUS kann ich mir das noch ganz gut vorstellen, bei SLAYER eher nicht so.

Dieses Jahr haben wir nur Sitzkonzerte gespielt, da haben wir uns komplett dran gewöhnt. Wir nehmen jede Crowd, die wir bekommen können. Setzt euch, legt euch auf den Boden, ist uns ganz egal. (lacht)

So oder so haben wir in der Zwischenzeit ein fantastisches neues Album zum Warmhören. Ich freue mich auf hoffentlich bald stattfindende Konzerte in der Nähe! Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast.

Ich auch! Danke dir auch und hoffentlich bis bald.

Galerie mit 22 Bildern: Leprous - Aphelion European Tour 2024 in Leipzig

Seiten in diesem Artikel

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27.08.2021

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