Insomnium
Sightseeing und Musik-Talk: Interview with a View

Interview

Vor gut vier Jahren luden uns INSOMNIUM in ihre Heimat- bzw. Gründungsstadt Joensuu im finnischen Nordkarelien ein, um der Listening Session ihres damals anstehenden Albums „Heart Like A Grave“ beizuwohnen. Während ihrer aktuell laufenden Europatour bot sich nun endlich die Gelegenheit, uns zu revanchieren und der Band unsererseits eine Sightseeing-Tour zu kredenzen. Dies taten wir im pittoresken Heidelberg, wo sie am 23.11.2023 in der Halle02 Halt machten. Auf dem Zettel standen das Schloss – inklusive Fitnessprogramm in Form von 400 Stufen dorthin – sowie einige andere Sehenswürdigkeiten der Stadt. Das Ganze diente aber nicht nur dem Selbstzweck, denn ein paar Fragen beantworten sollten uns INSOMNIUM natürlich auch – bei unserem ‚Interview with a View‘.

Die Reisegruppe Insomnium: Markus Vanhala (Gitarre, Gesang) und Niilo Sevänen (Gesang, Bass).

Ich beginne mal mit einem Zitat aus einem Kommentar unter der Review zu „Anno 1696“: „Insgesamt doch ein überraschendes Album und das erste, das schon relativ deutlich von den bisherigen INSOMNIUM-Alben abweicht, befinden sich eigentlich mit „Lilian“ und „The Witch Hunter“ nur zwei – sagen wir mal – traditionelle INSOMNIUM-Songs auf dem Album. Dark Folk, Black Metal und progressive Elemente nehmen deutlich mehr Raum ein […].“ Entpricht das eurer eigenen Auffassung des Albums?

Markus: Das ist ziemlich genau das, auf was wir abgezielt haben. Wir hatten darüber gesprochen, wegen des rauen Themas auch ein raues Album zu machen und etwas Black Metal und progressive Elemente beizumischen. In meinen Augen gehört zu einer großen Geschichte auch Musik mit vielen Nebenpfaden. Das passt besser zur Stimmung, denn die Story ist auch komplexer.

Niilo: Genau. Ich würde trotzdem sagen, dass all diese Elemente schon vorher bei INSOMNIUM vorhanden waren und wir unseren Stil nicht dramatisch verändert haben. Wir experimentieren nur etwas mehr im Black- und Prog-Bereich. Es ist komisch, dass die Person findet, dass „The Witch Hunter“ ein traditioneller INSOMNIUM-Song ist, denn ich finde, dass er sehr anders ist. Es ist lustig, wie verschiedene Menschen ganz andere Einschätzungen haben.

Markus: Ja, das finde ich auch. Auf eine gewisse Art ist das einer der proggigsten Songs, mit dem Prog-Part am Ende. Aber vielleicht ist das gut versteckt. Bei den eigenen Sachen weiß man nie. Manchmal denkt man, man hat etwas komplett anderes geschaffen, und dann kommen die Medien und Fans und sagen ‚die guten alten INSOMNIUM‘. Man ist selbst zu nah dran. Wenn man etwas ein klein wenig anders macht, kann es sich wie ein großer Sprung anfühlen.

Galerie mit 11 Bildern: Insomnium - Sightseeing in Heidelberg

Sowohl ich in meiner Review zu „Anno 1696“ als auch mein Kollege, der die „Songs Of The Dusk“-EP rezensiert hat, haben unabhängig voneinander geschrieben, dass „Anno 1696“ das stärkste INSOMNIUM-Album seit „Shadows Of The Dying Sun“ ist. Bei den Leser:innen kam es auch sehr gut an. Man erkennt auf dem Album den Stil bis einschließlich „Shadows Of The Dying Sun“ wieder, aber auch die sanfteren Töne, die ihr zum Beispiel auf „Heart Like A Grave“ und natürlich auf „Argent Moon“ angeschlagen habt. Plus die spezielleren Elemente. Ist das eine Richtung, in der ihr weitermachen werdet?

Markus: Das Album wurde ‚im Auge des Sturms‘ gemacht, während der Pandemie und allem möglichen Kram im Umfeld der Band. Der Prozess stand unter dem Stern ‚packen wir’s an und schauen dann, wohin es geht. Oder wird das das Ende?‘ Dass das Album in diesen turbulenten Zeiten gemacht wurde, hat ihm vielleicht diesen extra Push gegeben. Vielleicht fasst es gleichzeitig auch die Bandgeschichte zusammen. Aber geplant war das glaube ich nicht.

Niilo: Unsere Alben passieren einfach, und dieses Mal ist eben das dabei rausgekommen.

Markus: Es ist zumindest etwas komplett anderes als die „Argent Moon“-EP.

Niilo: Also das war Absicht. Erst eine sanfte EP und dann etwas Raues mit Black-Metal-Einschlag.

Niilo, wenden wir uns mal deinem Roman „Ikitalven Polku“ zu, der bald rauskommt. Erst mal auf Finnisch, aber später hoffentlich zumindest auch auf Englisch. Kannst du uns ein wenig dazu erzählen? Es ist ein Sequel zur Kurzgeschichte, auf der „Winter’s Gate“ beruht.

Niilo: Ja, es setzt die „Winter’s Gate“-Geschichte fort, aber die Handlung spielt viel später. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich die Story fortführen könnte. Es sollte eine größere Geschichte werden, aber dann hat es Jahre gedauert, bis ich durch die Pandemie die Möglichkeit hatte, zu Hause zu sitzen und einfach zu schreiben. Da das Buch in der „Winter’s Gate“-Welt spielt, gibt es einige bekannte Figuren.

Insomnium: Bereuen die 400 Stufen Aufstieg nicht.

In einem Video auf Instagram hast du dazu noch etwas mehr erzählt und ebenfalls gesagt, dass du durch das vielen Touren nicht wirklich zum Schreiben bekommen bist. Ist es also ein Trade-off zwischen zwei Leidenschaften – der Musik und dem Schreiben? Wie ist es, die beiden Sachen zu jonglieren?

Niilo: Natürlich hat man nur begrenzt Zeit. Es ist ein Jonglieren, so wie Markus vier oder fünf Bands jongliert.

Markus: Ich glaube, du kannst deine zwei Leidenschaften auch verbinden, weil du auch für INSOMNIUM schreibst.

Niilo: Ja, es sind keine zwei kompletten Gegensätze. Auf der jetzigen Tour knapse ich immer, wenn es geht, etwas Zeit ab, um am Buch weiterzuschreiben. Ich mache gerade noch den Feinschliff am ersten Teil [von zwei Teilen – Anm. d. Red.], bevor er in den Druck geht. Es ist also schon möglich, das auf Tour zu machen. Mental ist es natürlich etwas anstrengend, denn du bist im Tourmodus, die Jungs sitzen um dich herum und frühstücken, und du musst in den Schreibmodus gelangen. Man muss sich ein wenig dazu zwingen, zu schreiben, auch wenn man eigentlich nicht in der Stimmung ist.

Du bist also in einem anderen mentalen Space?

Niilo: Ja, es ist ein anderer mentaler Space und man muss sich auf die Story konzentrieren können.

Ebenfalls zum Thema anderer mentaler Space: Markus, du schreibst für mehrere Bands, unter anderem INSOMNIUM und OMNIUM GATHERUM. Der Begriff ‚Insomnium Gatherum‘ existiert schon länger und nicht ohne Grund, denn eine gewisse Ähnlichkeit ist zum Beispiel bei den Gitarren vorhanden. Wenn du schreibst und dir etwas in den Sinn kommt, weißt du dann gleich, für welche Band es sein wird?

Markus: Dazu muss ich sagen, dass ich auf der aktuellen Tour ebenfalls versucht habe, in den Schreibmodus zu kommen, um Musik zu schreiben. Aber ich kriege meinen Kopf nicht dahin.

Niilo: Das ist echt schwer.

Markus: Dabei ist es egal, um welche Band es geht. Im Grunde brauche ich Isolation und viele Tage am Stück, um den ganzen Bullshit loszuwerden. Du musst viele beschissene Riffs schreiben, um daraus etwas Gutes zu entwickeln. Früher war das leichter, vor Covid. Denn da gab es bestimmte Perioden. Wenn INSOMNIUM im Schreibmodus waren, waren OMNIUM GATHERUM normalerweise im Tourmodus. Die Pandemie hat das alles durcheinandergeworfen. In dieser Zeit habe ich für vier verschiedene Bands geschrieben. Vier full-length Alben und drei EPs. So habe ich die Pandemie überlebt; die ganze Zeit Musik geschrieben. Seitdem ist der Tank ziemlich leer. Normalerweise erkenne ich aber sehr leicht, was zu welcher Band geht. Denn in meinem Kopf sind die Bands komplett unterschiedlich.

Galerie mit 18 Bildern: Insomnium - European Tour 2023 in Heidelberg

Ich habe in letzter Zeit aber etwas festgestellt. Vor dieser Tour habe ich zum Beispiel versucht, für OMNIUM GATHERUM zu schreiben, ich konnte es aber einfach nicht. Letztendlich habe ich zufällig etwas für I AM THE NIGHT geschrieben. Dann dachte ich, ‚OK, machen wir doch eine EP für I AM THE NIGHT, wenn das schon von selbst kommt‘. Als ich den dritten Song dafür schreiben wollte, habe ich dann stattdessen einen neuen Song für OMNIUM GATHERUM geschrieben [lacht]. Ich muss also anfangen, mich selbst auszutricksen, denn das Gehirn stellt sich quer und will mir nicht bei der Aufgabe helfen.

Es ist schwer, und es wird auch immer schwerer. Aber wenn das Material mal da ist, ist es sofort sehr klar, ob es INSOMNIUM, OMNIUM GATHERUM, oder was auch immer ist. Ich glaube auch, dass die Bands sich immer weiter voneinander entfernen. „Beyond“ ist wahrscheinlich das OMNIUM-GATHERUM-Album, das noch am nächsten an INSOMNIUM ist.

Wenn ihr, wie heute, die Möglichkeit habt, auf Tour die Stadt zu erkunden, was macht ihr dann normalerweise gerne?

Niilo: Sightseeing. Ich schaue mir gerne alte Schlösser, Kirchen und allgemein alte Gebäude an, wenn es etwas in der Art gibt. Das ist mein Ding. Oft sind wir aber auch im Nirgendwo, es regnet und es ist schwer, irgendwo hinzukommen. Dann sehen wir eigentlich nichts. Tage wie heute, wo wir die Möglichkeit haben, etwas anzuschauen, sind viel schöner.

Markus: Am Anfang, als noch alles neu für uns war, war es sehr viel touristischer. Mittlerweile kennen wir viele Städte einfach schon. Außer Heidelberg heute, denn wir sind das erste Mal hier. Ich schaue immer auf Google nach second-hand Plattenläden und laufe da hin. Das ist wie Medizin für mich, selbst wenn ich nichts kaufe. Der Trip an sich, irgendwo hinzukommen. Das hat Tradition. Diese Tradition führt natürlich immer dazu, dass ich einen Riesenstapel Platten heimtragen muss. Dann frage ich mich am Flughafen, wie und warum ich das wieder gemacht habe.

Tradition: Check.

Inspirieren euch Orte, die ihr auf Tour seht, auch zum Schreiben? Sei es Musik oder Literatur.

Niilo: Ja, natürlich, vor allem diese alten Schlösser und Ruinen. Die können auf viele Arten inspirieren. Es ist sehr schön, diese Orte besuchen zu können, denn in Finnland haben wir nicht viele Schösser und Schlossruinen. Es gibt vielleicht drei Schlösser in Finnland. Hier findest du in jedem Dorf etwas.

Markus: Na, na, na, du musst Werbung für deine Heimat machen. Wir haben viele Schlösser!

Niilo: Najaaa, „Schlösser“…

Markus: Es ist halt eine andere Art Schloss. Festungen.

Niilo: Ja, Festungen. Aber wir haben nur drei mittelalterliche Schlösser in Finnland. Und eine Ruine. Und dann haben wir diese Festungen. Aber hier ist es anders. Jedes Dorf hat eine mittelalterliche Kirche oder Ruine auf dem Berg. Und das kann sehr inspirierend sein, ja.

Insomnium bewundern den ‚Gesprengten Turm‘ des Heidelberger Schlosses.

Der ‚Gesprengte Turm‘ am Heidelberger Schloss wurde 1693 zerstört. Der Pfälzische Erbfolgekrieg, in dessen Rahmen das war, endete 1697. Das ist die gleiche Zeit, in der „Anno 1696“ spielt. Die Lebensrealitäten der Menschen an den beiden Orten waren aber komplett unterschiedlich. Das ist eigentlich keine richtige Frage, das ist mir nur spontan bewusst geworden.

Niilo: Ja, Finnland und Deutschland im siebzehnten Jahrhundert waren sehr unterschiedlich. Finnland war quasi der abgelegenste Ort im kalten Norden von Europa. Alle wohnten in Torfhütten und haben Hexen verbrannt. Es gab hier zwar auch Hexenverfolgung, aber es war schon sehr anders.

Wir kommen zum Ende. Wie sehen eure nächsten Pläne aus?

Markus: Der Plan ist, die Heidelberger Metalszene zu erobern!

Niilo: Unser erstes Mal in Heidelberg. Es wird mega.

Vielen Dank für eure Zeit!

Metalheads, die in die Ferne starren.
Quelle: Niilo Sevänen und Markus Vanhala, Insomnium
29.11.2023

headbanging herbivore with a camera

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