Evergrey
"Ich schreibe aus einer Perspektive der Stärke, statt aus einer Perspektive der Verzweiflung."

Interview

Für mich konzentriert sich „A Heartless Portrait“ stärker darauf, eine bestimmte Atmosphäre zu kreieren, statt auf die super epischen Parts, die Schlüsselstellen der letzten paar Alben waren, denke ich. Das habt Ihr vermutlich nicht unbedingt geplant. Kannst Du trotzdem etwas dazu sagen, wie es dazu gekommen ist?

Es ist zwar eine langweilige Antwort, aber solche Dinge planen wir nie. Wir können die musikalische Ausrichtung nicht planen. Ich vermute AC/DC sagen: „Lasst uns ein AC/DC-Album schreiben.“ Und sie machen das großartig. Damit EVERGREY klingen wie EVERGREY müssen wir aber offen sein. Wir müssen alle Einflüsse berücksichtigen und das lassen wir auch zu. Was dann herauskommt ist eine pure Reflexion der Zeitperiode, in der wir uns befunden haben. Ehrlich, zusammen haben wir bestimmt 200 bis 300 Songideen auf unseren Rechnern. Jedes Mal wenn wir das Songwriting für ein neues Album starten, sagen wir zu irgend etwas: „Oh, erinnerst Du Dich an diese alte Idee? Lass uns das noch einmal anhören.“ Jemand sagt dann vielleicht so was wie: „Verdammt, das ist großartig, warum haben wir das nicht verwendet? Wir sollten es auf diesem Album benutzen.“ Aber dann sagen die meisten der anderen: „Nope.“ Wir müssen zeitgenössische Musik machen, damit es für uns funktioniert. Aber ja, es mag tatsächlich weniger epische Momente auf diesem Album geben, wenn Du es mit „The Atlantic“ vergleichst, was vermutlich auf eine gewisse Art und Weise bislang das „majestätischste“ Album war. Am Ende ist es aber für mich nur tolle Musik, mit der ich super zufrieden bin.

Einige Leute werden vermutlich sagen, dass „A Heartless Portrait (The Orphean Testament)“ ein Back-To-The-Roots-Album ist und tatsächlich klingt es wieder zumindest ein bisschen mehr wie die Alben der frühen bzw. mittleren 2000er-Jahre, vor allem „Recreation Day“ und „The Inner Circle“. Kannst Du verstehen, warum einige Menschen denken könnten, dass Ihr während des Songwritings mal wieder etwas mehr in Eure alten Sachen rein gehört habt?

Ja, tatsächlich hat das auch schon jemand in einem anderen Interview gesagt. Er meinte: „Es fühlt sich so an, als wärt Ihr ein wenig zu Euren Wurzeln zurückgekehrt.“ Ich denke unsere Wurzeln sind nun mal in uns, was sollen wir machen (lacht)?

In „Save Us“ und „Midwinter Calls“ habt Ihr Fan-Chöre benutzt. Wer hatte die Idee und wie genau habt Ihr das eigentlich umgesetzt?

Ich laufe gerne morgens oder gehe spazieren. So starte ich jeden Tag meinen kreativen Verstand. Normalerweise singe ich Songideen einfach in mein Telefon, speichere dort auch Textideen, und so weiter. Hier und dort mal eine Zeile. Ich war schon die ganze Zeit davon begeistert, wie gut das bereits klingt, wenn man das mit seinem Telefon aufnimmt. Also begann ich mir zu sagen: „Wir könnten das problemlos verwenden.“ Das macht es für die Fans super einfach, uns ihre Sachen zu schicken. Dann schrieb ich „Save Us“ und wir haben einfach darum gebeten, alles Zeug einzusenden. Das war für uns auch eine einfache Möglichkeit zu sagen: „Hallo? Erinnert Ihr Euch noch an uns? Werdet Ihr da sein, wenn wir aus der ganzen Pandemie-Scheiße raus sind?“. Mehrere hundert Leute haben ihr Material eingesandt. Aus ökonomischer Sicht war es das sicherlich nicht wert, wenn man die ganze Entwicklungsarbeit im Studio betrachtet, aber das Ergebnis ist es auf jeden Fall. Alle Namen sind auch im Booklet erwähnt. Das ist natürlich auch ein toller Weg, zusammen eine schönere Erinnerung zu haben, wenn wir zurück blicken und wenigstens etwas aus der Pandemiezeit mitnehmen, was nicht negativ ist.

Konzertfotos von Evergrey - Tour 2019

Natürlich ist die Idee nicht ganz neu, scheint aber ganz hervorragend funktioniert zu haben. Ich erinnere mich daran, dass ein Freund mir erzählte, dass DEVIN TOWNSEND in der Vergangenheit auch damit gearbeitet hat. Er hat einfach ein paar Mädels nach dem Konzert auf dem Parkplatz gefragt, ob sie etwas auf seinem iPad einsprechen können und das ist tatsächlich später auf einer Platte gelandet. So was war vermutlich vor zehn Jahren noch völlig unmöglich, heute ist es dafür super einfach.

Ja, genau. Und für „Midwinter Calls“ war das auch eine besondere Erfahrung. Wir haben da ein Live-Publikum für ein Studioalbum aufgenommen. Sie haben den Song nicht gehört, wir haben einfach etwas komplett anderes gespielt, gestoppt und dann haben sie gesungen. Für sie absolut ungeplant, aber es klingt ebenfalls richtig groß.

Ihr habt das auf einem normalen Konzert gemacht?

Ja, das war Mitte Dezember letzten Jahres. Da haben wir wieder angefangen in Schweden aufzutreten, bevor alles wieder herunter gefahren wurde.

Neben Veränderungen bezüglich Atmosphäre und Artwork habt Ihr AFM Records nach acht Jahren und vier Alben verlassen. Was waren die Hauptgründe zu Napalm Records zu wechseln – mit beiden Deiner Projekte?

„Escape Of The Phoenix“ war kommerziell gesehen unser bislang erfolgreichstes Album. Ich glaube wir waren sogar auf dem zwölften Platz der deutschen Album-Charts, was vorher noch nie passiert ist. Aus dieser Sicht mag es vielleicht komisch aussehen, zu gehen. Aber gleichzeitig haben wir eben schon vier Alben mit AFM gemacht. Beide Seiten hatten die Chance, unsere Zusammenarbeit für eine Zeitspanne von sieben, acht Jahren auf die Probe zu stellen. Ich denke dann ist es einfach Zeit, weiter zu ziehen. Geschäftlich gesehen braucht jede Kooperation einen Schwung frischer Luft, neues Blut im System um auf seinen Zehenspitzen zu bleiben. Bislang hat es für uns mit Napalm extrem gut funktioniert, wenn wir uns die ersten beiden Songs anschauen. Der Grund, SILENT SKIES ebenfalls zu Napalm zu holen wird vermutlich in ein, zwei Jahren offensichtlicher für Dich werden.

Auch darüber hatte ich mit Vikram gesprochen und es mag anfangs komisch wirken, ein Nicht-Metal-Album auf einem der größten Metal-Label da draußen zu veröffentlichen, aber auf der anderen Seite seid Ihr definitiv nicht die erste Nicht-Metal-Band in ihrem Portfolio. Die Reaktionen zum letzten Album haben außerdem gezeigt, dass die Musik, die Ihr mit SILENT SKIES macht, auch beim Metal-Publikum gut anzukommen scheint.

Ja, und das ist ziemlich großartig. Damit haben wir niemals gerechnet. Wenn wir im Vorfeld etwas gehört hatten war es eher, dass wir aus der Metal-Community einige Scheiße abbekommen könnten. Und am Ende landeten wir bereits mit dem ersten Album in vielen Jahres-Top-Listen. Das beweist, wie offen das Metal-Publikum am Ende ist, wenn es darum geht, was sie zulassen und was nicht. Dafür sind wir auch sehr dankbar.

Ich war vielleicht am Anfang nicht so offen, denn ich habe das erste Album komplett verpasst und hatte am Ende erst mit SILENT SKIES zu tun, weil ich die Rezension zu „Nectar“ übernommen habe. In diesem speziellen Moment war es dann genau die Musik die ich gerade brauchte und vielleicht hätte mir „Satellites“ auch noch gar nicht gefallen, zu dem Zeitpunkt, als es heraus kam.

Und das ist das coole an SILENT SKIES. Es ist genau so heavy, düster und komplex wie EVERGREY, wenn nicht sogar noch mehr. Es hat nur keine heavy Gitarren und keine heavy Drums, ist aber dennoch verdammt heavy.

Wie vermutlich alle Bands hattet auch Ihr einige Probleme mit Euren Tourplänen während der letzten zwei Jahre. Ihr musstet die Europatour um ein ganzes Jahr verschieben, was unglücklicherweise bedeutet, dass WITHERFALL nicht mehr dabei sein können. Einige Bands und Bookingagenturen scheinen Europa und insbesondere Deutschland seit einer Weile ein wenig zu meiden, weil Gigs dort einfach zu unsicher sind. Bist Du zuversichtlich, dass die Tour diesen Herbst so stattfinden kann, wie geplant? Findest Du, dass es zu lange gedauert hat, bis Konzerte in Europa wieder möglich waren, während es in Nordamerika offenbar deutlich weniger Restriktionen gegeben hat?

Zunächst einmal hat sich Schweden ja ziemlich stark von allen anderen strategischen Plänen abgespalten, die Europa diesbezüglich hatte. Alle dachten wohl, dass Schweden das dümmste Land der Welt wäre. Ich war einfach zuversichtlich, dass der Typ, der schon dabei Half die Ebola-Pandemie in Afrika zurückzudrängen und jetzt Teil des Gesundheitsministeriums in Schweden ist (gemeint ist Anders Tegnell, Staatsepidemiologe Schwedens von 2013 bis 2022, Anmerk. d. Verf.) schon weiß, was er tut. Zumindest dachte ich, dass er es besser weiß als ich. Aber zuversichtlich zu sein, dass wir im kommenden Herbst eine Tour wie geplant spielen können, würde mich wohl ziemlich dumm wirken lassen. Trotzdem denke ich, dass wir so langsam mit dem Thema durch sind, um ehrlich zu sein. Es wird bleiben, vermutlich als eine Art Erkältung angesehen werden. Immerhin hatten wir das Glück – und waren so schlau – die Tour im letzten September direkt um ein ganzes Jahr zu verschieben und nicht nur ein paar Monate. Wir dachten, wenn wir das jetzt nicht durchziehen können, müssen wir es deutlich später tun, weil alle Venues ausgebucht sein werden, jeden Tag für mindestens zwei Jahre. So gesehen lief es bei uns sogar ganz gut. Und jetzt werden wir hoffentlich am 16. September in Eindhoven eine sechswöchige Tour starten und natürlich auch einige Gigs in Deutschland spielen.

Dann lass uns hoffen, dass wir uns im Herbst auf Tour sehen! Ich drücke jedenfalls die Daumen.

Danke, das hoffe ich auch.

Galerie mit 17 Bildern: Evergrey - European Tour 2022

Seiten in diesem Artikel

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Quelle: Interview mit Tom Englund / Evergrey
17.05.2022

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

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