Evergrey
"Ich schreibe aus einer Perspektive der Stärke, statt aus einer Perspektive der Verzweiflung."

Interview

Neues Label, mit „A Heartless Portrait (The Orphean Testament)“ ein neues Album mit sperrigem Titel, ein düster-spaciges Cover Artwork und erst vor kurzem die Veröffentlichung des zweiten Longplayers seines Nebenprojekts SILENT SKIES. Grund genug schon einmal, um ein wenig mit EVERGREY-Sänger und Gitarrist Tom Englund zu quatschen. Der charismatische Göteborger nimmt aber auch kein Blatt vor den Mund, was die aktuelle Lage der Welt und insbesondere Europas angeht.

EVERGREY Logo

Hi Tom! Die ersten drei Alben nach der Line-up-Veränderung („Hymns For The Broken“, „The Storm Within“ und „The Atlantic“) waren thematisch eng verbunden und bildeten eine Art Trilogie. Das letzte Album „Escape Of The Phoenix“ hat ein anderes Thema behandelt, hatte musikalisch aber starke Überschneidungen mit „The Atlantic“. Was den Sound von EVERGEY angeht, markiert das neue Album jetzt eine größere Veränderung. Würdest Du dem zustimmen und sehen wir mit „A Heartless Portrait (The Orphean Testament)“ gerade die Geburt einer neuen Trilogie?

Nein, für mich ist es immer das alte Lied. Ich schreibe über mich selbst und an welchem Punkt ich mich gerade im Leben befinde. Wir betreiben aber ansonsten einen großen Aufwand, uns selbst zu erneuern und die Dinge für uns selber interessant zu halten, bezogen auf alles vom Sound über die Produktion, das Artwork, die Videos und natürlich, zuallererst das Songwriting. Das ist das einzige Ziel, das wir haben. Wir versuchen Musik zu machen, mit der wir selber glücklich sind und die größte Herausforderung im Leben ist für uns, einen besseren Song zu schreiben als den letzten, genau so wie immer hungrig zu bleiben. Und ich kann Dir sagen: Ich fühle mich exakt so hungrig wie damals, als ich 21 war. Heutzutage bin ich allerdings in der glücklichen Lage, dass EVERGREY gerade einen ziemlich steilen Aufstieg erlebt, was ziemlich cool ist, mit einem dreizehnten Album.

Ja, das würde man wohl eher von dem „sagenumwobenen dritten Album“ erwarten, nicht unbedingt von einem dreizehnten.

Genau! Ganz ehrlich, ist ist einfach eine großartige Zeit im Moment, Teil von EVERGREY zu sein, egal ob in Sachen Kreativität als auch, natürlich, in Sachen kommerzieller Erfolg.

Um das noch einmal klarzustellen: „Nur weil das neue Album „A Heartless Portrait (The Orphean Testament)“heißt, bedeutet das nicht, dass das nächste „A Heartless Portrait“ und etwas anderes dahinter heißen wird?

Nein, es ist im Grunde einfach ein komplexer, filigraner Titel. Wir können da natürlich tiefer einsteigen, wenn Du willst, aber vielleicht war es einfach an der Zeit, einen Albumtitel zu haben, den die Leute sich niemals merken können (lacht). Wirklich, aus kommerzieller Sicht ist das total dämlich, aber vielleicht wird es wenigstens als „das Album dessen Namen wir nicht aussprechen können“ in Erinnerung bleiben.

Naja, wenn man progressive Musik schreibt, muss der Titel vielleicht auch mal etwas progressiver sein.

Ja, vermutlich ist das so.

„A Heartless Portrait (The Orphean Testament)“ klingt nicht nur um einiges düsterer als die vorherigen Alben, auch das Cover Artwork zeigt das. Ziemlich offensichtlich in diesen Tagen, in denen wir uns jetzt nicht nur mit einer globalen Pandemie konfrontiert sehen, die bereits seit über zwei Jahren anhält, sondern neuerdings sogar mit einem Krieg mitten in Europa. Was würdest Du als die Hauptgründe für die dunklere Ausrichtung des neuen Albums sehen?

Naja, ich weiß nicht ob es für mich wirklich eine düsterere Ausrichtung hat (lacht). Aber natürlich, wie schon erwähnt, schreibe ich über das, was um mich herum passiert, was mich beeinflusst. Was mich beeinflusst ist der Status der Welt, wenn man so will und meine Position darin. Eine Position, nicht in eine Welt zu passen, die immer feindseliger wird, mehr und mehr auf kurzfristigem, kurzsichtigem Denken basiert, wenn es darum geht, was im Leben wichtig ist. Wenn Du jetzt die Menschen in der Ukraine fragen würdest, was wichtig im Leben ist, dann würdest Du echte Antworten bekommen, nicht irgend etwas was Du vor 15 Sekunden auf TikTok gesehen hast. Wenn man das erwähnt, sollten wir auch erwähnen – und ich denke jedes Interview sollte das tun: Ich hoffe jemand hält Putin auf und tut das bald, denn das ist das einzige, was das beenden könnte. Wir erlauben ihm zu tun, was er tut. Unser dritter Song auf dem Album heißt „Ominous“, darin geht es um Mobbing, darum andere zu schikanieren. Wir lassen Putin die Ukraine schikanieren, sie ins Gesicht schlagen, immer und immer wieder und wir stehen da und sehen zu. Das wird ihn nicht stoppen. Es wird dazu führen, dass er mit seiner Faust ins Gesicht anderer Menschen schlägt. Als nächstes vielleicht Estland, Lettland, Litauen, danach möglicherweise Finnland und Schweden!? Deutschland ist außerdem abhängig von russischem Gas und Öl. Manchmal fragt man sich wirklich, wie verdammt dumm die Welt ist. Die Anführer der Welt, im speziellen. Putin allerdings ist nicht dumm. Das ist das schlimmste. Er spielt uns perfekt aus. Sorry, dass ich so angepisst bin deswegen, ich habe Deine Frage gerade komplett vergessen (lacht). Kannst Du sie bitte nochmal wiederholen?

Ich habe mich gefragt, warum die Ausrichtung des neuen Albums düsterer ausgefallen ist, aber ich würde sagen das wäre eine ziemlich gute Erklärung.

Natürlich war es nur ein Zufall, dass „Save Us“ genau an dem Tag erschienen ist, als Putin in die Ukraine einmarschierte. Das Video endet mit den Farben Schwedens, symbolisch sind es aber mittlerweile natürlich die Farben der Ukraine. Letztlich geht es darum. Meine Vorhersage, auf meine Art und Weise, wie die Welt immer düsterer wird und die Perspektive auf die wahre Moral im Leben, was wertvoll ist, und so weiter.

Ich habe vor kurzem Vikram zum SILENT SKIES-Album interviewt. Er erwähnte, dass die letzten beiden EVERGREY-Alben, ähnlich wie das was Ihr mit SILENT SKIES gemacht habt, ein „Manifest an die menschliche Kraft, schwere Zeiten durchzustehen“ sind, es darum geht nicht all die schlechten Dinge auf der Welt aufzusaugen, sondern auch zu erwähnen, dass es immer Licht am Ende des Tunnels gibt. Ich würde sagen, dass das auf dem neuen Album vielleicht etwas schwerer zu finden ist. Würdest Du dem zustimmen?

Nein, aber ich finde es faszinierend, dass Du es so wahrnimmst, wie Du es mir gerade erklärt hast. Andere Leute meinten zu mir: „Das ist Euer melodischstes Album bisher.“ Wieder andere sagten, dass sie mehr positive Einflüsse heraushören. Aber ich sehe es auch nicht als meinen Job, mehr zu tun als zu reflektieren, was Du sagst. Sicherlich, „Ominous“ behandelt für mich persönlich – da ich als Kind gemobbt und ausgegrenzt wurde – eines der düstersten Themen, das mein ganzes Leben geformt hat, meine Kreativität und wer ich bin. Es war Dunkelheit, jetzt ist es eine Energie und Quelle der Stärke für mich. Es machte mich zu dem, der ich bin und ist etwas, was mich heute sehr selbstbewusst macht. Das ist das gleiche wie mit der Dunkelheit, von der in „Call Out The Dark“ die Rede ist, darauf bezogen, wenn Dunkelheit so lange um dich herum ist, dass sie eine Eigenschaft von Dir wird. Sie ist nicht länger ein Feind, sondern Teil von dem, wer Du bist und ich ziehe aus ihr Energie, statt sie zu fürchten. Es war also niemals hoffnungslos für uns. Es gibt immer Hoffnung und ich denke, sie hat auf den letzten Alben zugenommen. Ich denke, ich schreibe aus einer Perspektive der Stärke, statt aus einer Perspektive der Verzweiflung.

Evergrey - Tom Englund 2022

Das ist auch ein guter Punkt, wenn man über Metal im Allgemeinen spricht. Du sagst, Du ziehst Energie aus düsteren Dingen oder der Dunkelheit, wie auch immer jeder diese für sich definiert, statt Dich davor zu fürchten. Ich denke, das ist ein entscheidender Punkt für viele Metal-Fans.

Genau. Darüber habe ich auch letztens mit FLOOR JANSEN diskutiert, die eine Freundin von mir ist. Wir unterhielten uns darüber, wie Melancholie und Gefühle dieser Art ein Antrieb für uns sind. Wir haben uns unser ganzes Leben lang wie Außenseiter gefühlt. Das ist also, wer wir sind.

Ganz genau. Und wir kennen alle Menschen, die uns erzählen wollen: „Hör Dir doch nicht die ganze Zeit so düstere Musik an, die zieht Dich doch nur runter.“ Wie erklärt man Leuten, die überhaupt keinen Zugang zu Metal haben, dass genau das Gegenteil der Fall ist?

Ja, sie verstehen es nicht, so einfach ist das.

Ich habe ja SILENT SKIES schon kurz erwähnt. Denkst Du die Arbeit an dem Projekt beeinflusst irgendwie, was Du mit EVERGREY machst? Natürlich klingt „A Heartless Portrait“ überhaupt nicht nach SILENT SKIES, aber man könnte denken, dass Du Dich dort auf die zerbrechlicheren Songs konzentrierst, während EVERGREY womöglich sogar etwas härter werden?

Ja, vielleicht. Zwangsläufig beeinflussen sie sich natürlich gegenseitig. Es ist ein hin und her. Wenn überhaupt, würde ich sagen, dass es mich zu einem besseren Musiker, ziemlich sicher zu einem besseren Sänger gemacht hat. Das ist auch tatsächlich eine der Haupteigenschaften dieses neuen EVERGREY-Albums, die herausstechen. Ich nutze neue Bereiche meiner Stimme, die ich bislang bei EVERGREY nicht eingebracht habe und das sonst vermutlich auch nicht getan hätte, wenn es SILENT SKIES nicht gäbe. Also ja, wir profitieren alle von der Interaktion zwischen diesen beiden Projekten. Das gleiche gilt für REDEMPTION und auch die Videospielmusik, die Vikram und ich schreiben. So bekommen wir Dinge aus unserem System, und das andere Zeug bleibt verfeinert dort, statt im Kopf durcheinander zu geraten. Jetzt weiß ich, dass ich EVERGREY-Musik schreiben werde, weil ich all die Dinge, die für andere Projekte benötigt wurden, schon geschrieben habe. Ich habe also einen puristischeren, auf eine Art und Weise gefilterten Verstand, um für EVERGREY zu schreiben.

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Quelle: Interview mit Tom Englund / Evergrey
17.05.2022

"Time doesn't heal - it only makes you forget." (Ghost Brigade)

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