Disillusion
"Wir wollten keinen großen Bruch haben."
Interview
DISILLUSION führen mit ihrem neuen Album „Ayam“ den November-Soundcheck an und haben auch in der Rezension und den Kommentaren dazu viel Lob geerntet. Und das zu Recht, denn die Scheibe wird sich sicherlich in einigen Jahresbestenlisten wiederfinden. Damit die Band auch keine Chance hat, mal wieder spontan zehn Jahre in der Versenkung zu verschwinden, wie es schon einmal passiert ist, haben wir schnell bei Mastermind Andy Schmidt angeklopft und ihn ausführlich zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von DISILLUSION befragt.
Schön, dass das mit dem Gespräch geklappt hat! Was macht das überwältigende, positive Feedback zum neuen Album mit einem? Vor allem, weil es ja nicht das erste Mal ist, dass es so kommt.
Joa, gute Frage. Da könnte ich jetzt was sagen von wegen „wow“ und so aber puh, was macht das? Das ist natürlich eine riesige Frage, da muss ich ein bisschen ausholen. Es liegen ja drei Jahre zwischen den beiden Platten und es ist auch nicht so, dass „The Liberation“ überall nur abgefeiert wurde.
Da steckt natürlich viel Arbeit jetzt drin. In diesem Moment, wo wir Freitag die Releaseshow gespielt haben und vorher seit Januar ohne Pause gearbeitet haben, da ist das menschliche Gefühl nach Kurzurlaub und Wellness überwiegend (lacht).
Aber natürlich ist das geil. Man muss dazu sagen, dass wir auf dem Weg dahin schon das Gefühl hatten, dass die Platte gut wird, das meine ich ganz unarrogant. Sie hat uns während der Zeit berührt und von daher freue ich mich natürlich mega, dass sie so gut ankommt.
Musikalisch wie optisch macht „Ayam“ den Eindruck einer düsteren Fortsetzung von „The Liberation“. Hängen die Alben denn konzeptmäßig zusammen?
Ja und nein. Natürlich gibt es einen Charakter, den man „alter Ego“ nennen könnte, an dem wir uns ein bisschen orientieren, beziehungsweise Dinge drauf projezieren. Das ist kein Philosoph oder so, das ist ein ganz normaler Mensch.
Wir haben die Scheibe wenige Monate vor Corona angefangen. Da war uns wichtig, das letzte Lied von „The Liberation“, also „The Mountain“, ganz flüssig ins neue Album übergehen zu lassen. Die Frage war dann, was passiert mit unserem Charakter, der sich gerade so richtig frei fühlt. Was passiert dann jetzt? Wie er sich dann fühlt, kann sich jeder aus „Am Abgrund“ selber herauslesen.
Dann ging aber Corona los und das kannst du nicht ausklammern, weil du ja die Düsternis angesprochen hast, die Entropie, die Gefühle, die Verletzlichkeit, Wut, Sorgen, gesellschaftliche Umbrüche, Diskussionen, der Virus und all diese Themen – da komme ich jetzt wieder zurück – der Krieg noch obendrein. Das ist alles in dieser Zeit gewesen und wir haben uns gesagt, wir lassen einfach alles zu. Und wenn dann mit der Story alles nicht so kohärent ist, das spielt dann mal keine Rolle.
Als ich im März die Texte schrieb, ist halt das dabei rausgekommen. Wir haben uns nirgendwo verbogen. Das Layout wurde wieder von Safi gemacht, sie hat es in ihrer Welt gedeutet, das kam dabei raus und wir haben es im ersten Moment abgesegnet. Da gibt es auch Kontinuität und das war uns auch wichtig, wir wollten keinen großen Bruch haben.
Ganz im Gegensatz zu „Gloria“ und „Back To Times Of Splendor“, die ja sehr unterschiedlich ausgefallen sind.
Ja, das ist jetzt ja auch fast 20 Jahre her. Ich liebe diese Vergangenheit, die ist ein Teil von uns und die gebe ich auch nicht mehr her. Klar, wir sind eine ganz andere Band, also ich bin noch da aber die anderen nicht. Insofern darf alles gelebt werden und wir haben jetzt unser Statement hier hin gesetzt und schauen mal, wie es sich entwickelt.
Auch auf „Gloria“ sind ja einige tolle Songs, es ist einfach nur ein ganz anderes Album, aber ein wirklich tolles Album.
Der Unterschied bei „Gloria“ ist einfach, dass mehrere Menschen dran gearbeitet haben und deswegen die Kontinuität schwerer greifbar ist. Natürlich hat die Band da viel beigetragen, aber auch einige andere, was ja auch okay war. Aber „Ayam“ ist dann eher das, was die Band kontinuierlich zu bieten hat.
Was bedeutet „Ayam“ eigentlich?
Ich will die Frage nicht umgehen, aber es sind wieder viele Sachen. Es ist Sanskrit für „der / das Eine“, also „Ich“, wenn du so willst. Die phonetische Verwandschaft zu „I am“ ist auch gegeben. Die Frage „Wer bin ich?“ und „Was will ich?“ stellte sich in den vergangenen Jahren viel mehr noch als sonst, auch im Bezug auf Klimakrise und alles einfach. „Was ist meine innerste Stärke?“, „Wer bin ich?“ einfach.
Wenn ich das so erzähle ist das schon sehr punktuell, fast banal. Aber wie wir in den letzten 2,5 gemerkt haben, kann wirklich schnell alles flöten gehen, an das wir uns gewöhnt haben. Es ist einfach ein riesiges Gefühl, auf das keiner eine Antwort hat, wir auch nicht.
Ich glaube, dass gerade in den jüngeren Generationen viele Fragen in diese Richtung aufgeworfen wurden in den letzten 2,5 Jahren.
Absolut. Die Kinder müssen sich diese Fragen eigentlich nicht stellen, aber wir Erwachsenen müssen sie uns stellen, sonst ist in 30 Jahren Schluss, das ist nunmal so.
Weswegen hast du bei „Am Abgrund“ einen deutschen Titel gewählt, obwohl du nicht deutsch singst?
Die Dinge passieren halt einfach (lacht). Dieser Song ist auch emotional „on the edge“, da gibt es etwas, eine Kante, einen Abgrund, etwas Dunkles. Auch musikalisch gehen wir da ins Extreme, wir dramatisieren den Song immer mehr. Irgendwann fiel das Wort und dann war es geschehen.
Obendrein könnte ich sagen, dass alles mit „chasm“ irgendwie bescheuert klingt. Das war eine sofortige Entscheidung. Auf „Gloria“ haben wir ja auch „Untiefen“. Wir haben da keine Scheu, wir singen nicht deutsch, aber es ist auch nicht das erste Lied, das auf einer anderen Sprache den Titel hat.
Denkst du, deutsche Texte passen nicht zu DISILLUSION oder würdest du da auch sagen, wenn’s passiert, dann passiert’s halt?
Jedes Mal, wenn ich eine Platte rausbringe, kriege ich die Frage gestellt und vergesse jedes Mal die Antwort (lacht). Also nee, irgendwie kommt es nicht dazu, vielleicht irgendwann mal. Soweit denke ich da nicht drüber nach. Englisch ist halt auch gut, weil die Musik so von möglichst vielen Menschen verstanden werden kann.
Gesanglich hast du auf „Ayam“ noch mehr Vielfalt rausgeholt als auf „The Liberation“. Hast du versucht, mit den verschiedenen Vocals die entsprechende Stimmung der Songs zu verstärken?
Ja, das versuche ich immer. Wir hatten direkt nach „The Liberation“ eine Art Zukunfts-Meeting und haben sehr konkret besprochen, was wir auf dem neuen Album verändern wollen. Ich habe die Notizen gerade letztens noch gesehen und wir haben tatsächlich alles geschafft von dieser Liste. Ein Punkt war, die Vocals drastisch mehr ins Songwriting einzubeziehen und nicht erst ganz am Ende.
Alle Demos von vor 2,5 Jahren hatten schon Vocals, das ist eine Veränderung, das gab es bei DISILLUSION so noch nicht. Der Fokus verändert sich dadurch. Mit Robby Kranz am Bass haben wir halt auch jemanden, der nicht nur ein Backing-Vocal-Typ ist, sondern mehr. Das ist zwar seine Rolle, aber die Zusammenarbeit in den zwei Jahren und, wie wir das aufgebaut haben, das empfinden wir als starke Weiterentwicklung.
Die Gesänge waren mega viel früher Teil der musikalischen Landschaft. Dann hat sich anderes an einigen Stellen reduziert, weil klar war, dass die Vocals da den Raum brauchen. Wenn da schon ein Chor ist, muss da nicht mehr so viel anderes hin.
Die Bildsprache bei DISILLUSION ist auch immer sehr gewaltig. Wir haben über die Düsternis des Albums gesprochen, aber ich finde gerade bei „The Brook“ hört man auch Hoffnung raus. Du stehst auf einem Felsmassiv und rufst in die weite Ferne. Wie ein Kino im Kopf.
Schön! Ja klar, das soll ja auch passieren. Wir haben kein Drehbuch, keinen Plot in dem Sinne, aber wenn das Gefühl da ist und alles kohörent ist, das wollen wir. Es soll auch uplifting sein. Auch, wenn wir die Harke auspacken und zeigen, wie die Dunkelheit sich anfühlen kann, soll es trotzdem ein bereicherndes Gefühl geben. Das ist irgendwie auch unsere Aufgabe. Das meine ich nicht als Unterhaltungskünstler, sondern als Person.
Das ist natürlich auch gepaart mit Wehmut, mit großen Gefühlen. Wir haben alle unsere Erlebnisse, in der Natur, in einer Beziehung, mit Kindern, das sind ganz große, innere Gefühle. Wenn ich merke, dass in einem Songentwurf solche Gefühle nicht zugelassen werden können, dann verfolgen wir den auch nicht.
Jetzt hast du ja ein paar Mal gesagt, dass Dinge einfach so passiert sind und auch viel Planung durchblicken lassen. Was würdest du sagen regiert mehr, der Perfektionismus oder die Spontanität?
Naja, das ist immer wieder dasselbe. Es sind zehn Prozent Kreativität und neunzig Prozent Arbeit und das war es bei dieser Platte auch wieder. Die Momente, wenn es einfach fließt sind wunderbar, wie das entsteht. Aber dann kommen Monate der Ausarbeitung und die dienen nur dem Zweck, wie es alles funktioniert und rüberkommt, die Tiefe entwickelt und technisch alles korrekt ist.
Das gehört beides dazu und ist ein riesen Aufwand, aber trotzdem würde ich sagen, dass bei dieser Platte viel aus dem Gefühl kommt, mehr als sonst.
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