Corvus Corax
Corvus Corax

Interview

Selbst der größte Klassikverächter hat meist ein Exemplar von ihr im Schrank stehen: Carl Orffs "Carmina Burana". Bald kann man sie jedoch genießen, ohne komplett in Klassikgefilde abdriften zu müssen. Deutschlands bekannteste Spielleute CORVUS CORAX haben sich der ältesten überlieferten Mittelalter-Liedschrift angenommen und sie komplett neu vertont, ohne Carl Orffs Version auch nur im Geringsten als Einfluß herangezogen zu haben. Dabei kamen nicht nur ihre bekannten Mittelalter-Instrumente zum Einsatz. Nein, um diesem Werk gerecht zu werden hat die Band von Anfang einen Chor und ein Orchester mit insgesamt 160 Musikern mit einbezogen. Quasi ein Crossover aus Mittelaltermusik und Klassik. CORVUS CORAX-Trommler Harmann, der Drescher, stand mir für ein ausführliches Gespräch rund um dieses Mammutprojekt zur Verfügung, das sich von der ersten Idee dieses Projektes bis in die Tiefen der Spielmannskunst und des Wesens dieser Leute erstreckte.

Was hat euch dazu veranlaßt, es ausgerechnet mit der „Carmina Burana“ aufzunehmen?

Da gibt es verschiedene Gründe für. Kürzlich hatten wir als CORVUS CORAX unser 15-jähriges Jubiläum. Deswegen wollten wir uns nach dieser Zeit selbst ein Geschenk machen, etwas Großartiges, etwas vollkommen Neues. Solange wir jetzt ins dieser Band aktiv sind, hat uns die „Carmina Burana“ begleitet, weil man als Musiker, der sich mit weltlicher Mittelaltermusik beschäftigt, an dieser Schrift nicht vorbei kommt. Dann kam noch ein Kneipenabend mit zuviel Alkohol dazu und die Sache war quasi geritzt. Wir hatten uns entschieden, die „Carmina Burana“ neu zu vertonen. Und weil es etwas Großartiges, noch nie Dagewesenes sein sollte, wurde direkt mit großem Chor und Orchester geplant.

Also war diese großflächige Inszenierung direkt Plan des Ganzen und ist nicht erst im Entstehungsprozeß gereift?

Eigentlich wollten wir es anfangs sogar mit zwei Orchestern angehen, hehe. Diesen Größenwahn haben wir dann allerdings recht schnell reduziert.

Wie nimmt man ein solches Mammutprojekt in Angriff?

Wir haben uns das Buch geschnappt und Texte ausgewählt, die für uns in Frage kommen. Die paar Texte dieses Buches, die geistlicher Natur sind, paßten natürlich nicht zu uns. Uns sprachen eher die klassischen Lieder über Wein, Weib und Gesang an. Als die Textauswahl stand, haben wir nach feinen, passenden Melodien in unseren Köpfen gekramt und begonnen, die einzelnen Songs zu skizzieren. Mit der Zeit lief es dann von alleine und wurde immer größer, weswegen wir uns sogar aufteilen mußten. Mein Ressort war die Trommelei, Wim kümmerte sich um die Orchesterpartituren und Castus übernahm die Chorstimmen. Sonst würden wir wahrscheinlich jetzt noch mit rauchenden Köpfen im Studio hocken. Es hat ja so schon über 2 ½ Jahre gedauert von der ersten Melodieidee bis zum fertigen Mix. Aber es hat die komplette Zeit Spaß gemacht. Wir haben nie an der Sache gezweifelt. Als wir uns zum ersten Mal im Studio Teile unseres Werkes anhören konnten, waren wir wirklich selbst überrascht und baff, wie groß alles geworden ist.

Konnten ihr stets aus dem Vollen schöpfen und all das miteinbeziehen, was in euren Köpfen herumgeschwirrt ist, vom zweiten Orchester jetzt mal abgesehen?

Eigentlich hatten wir die Idee schon vor gut drei Jahren. Damals stellte sich allerdings die Frage, wer das bezahlen soll. Wir machen sonst alles selbst: eigene Plattenfirma, eigenes Booking, etc. Deswegen wußten wir genau, was für Zahlen gerade bei uns aktuell waren. Das Geld hat nicht gereicht. So haben wir mit „Seikilos“ erst noch eine normale CORVUS CORAX-CD vorgeschoben. Danach hatten wir zumindest soviel Geld, daß wir anfangen konnten. Es ist im Prinzip so gelaufen: Unter der Woche haben wir im Studio gesessen und am Wochenende Konzerte gespielt, um die Orchestermusiker zu bezahlen. Wir waren rund im die Uhr am arbeiten.

Wieviel Respekt hat euch die „Carmina Burana“ eingeflößt?

Gar keinen! (schallendes Gelächter tönt aus dem Hörer) Natürlich hatten wir anfangs Zweifel, ob die Leute ein „Carmina Burana“-Orchesterwerk losgelöst von Carl Orff akzeptieren würden. Diese Zweifel haben wir für uns aber selbst ausgeräumt, indem wir uns wirklich keinen Deut um die Orffsche Version gekümmert haben. Wir versuchten, nichts anders und nichts ähnlich zu machen. Wir dachten einfach nicht daran, um von vornherein jegliche Form von Selbstzensur zu übergehen.

Dieser aufgedrückte, eigene CORVUS-Stempel ist wunderbar zu hören…

Es ist eine komplette Neuvertonung. Einzig die Texte stammen aus dem Buch. Jede einzelne Note kommt von uns. Genauso hat es auch Carl Orff gemacht. Aus diesem Grunde ist es nicht überraschend, dass die Platte nach CORVUS CORAX klingt, denn wir sind nun mal CORVUS CORAX. Alle unsere typischen Instrumente sind Teil der Kompositionen. Das wirklich Interessante war, herauszufinden, ob wir zusammen mit einem Orchester im Studio und auch auf der Bühne funktionieren. Am 30.Januar hatten wir in Cottbus eine Art akustische Generalprobe, in der sich zeigen sollte, ob beides zusammen funktionierte. Es war super. Mit 160 Musikern zusammen zu musizieren, ist ein großartiges Gefühl. Wir waren sehr gespannt, wie die Reaktionen ausfallen würden. Eine Inszenierung gab es z.B. noch gar nicht. Alles war noch sehr statisch. Die unglaublichen Beifallsbekundungen haben uns dann zusätzlich noch überrumpelt.

Wie sind denn die Reaktionen der beteiligten Orchestermusiker ausgefallen? Für sie war es auch nicht alltäglich, mit Mittelaltermusikanten zusammenzuarbeiten. Waren eine anfängliche Skepsis oder Berührungsängste zu verspüren?

Als es um die Liveumsetzung ging, haben wir uns vorab informiert, welches Orchester schon Kontakt zu anderen Musikszenen hatte. So sind wir auf das Cottbusser Staatsorchester gestoßen, das einen sehr guten Ruf genoß, weil es gerne Crossover-Geschichten macht. Bevor wir kamen, hatten alle Musiker schon Erfahrungen mit Jazz- oder Rockensembles gemacht. Und es gab noch einen weiteren Vorteil: Im Falle METALLICA – „S&M“ war es z.B. so, dass deren Songs schon vorher existiert haben. Sie sind also nie für ein Orchester geschrieben worden. Wir haben alles von vornherein für Orchester, Chor und CORVUS CORAX konzipiert. Untereinander ist alles so vernetzt, dass man keinen der drei Pfeiler weglassen dürfte. Aus diesem Grunde wird es die „Carmina Burana“ auch niemals auf einem unserer Solokonzerte zu hören geben, weil dann zwei der drei Säulen fehlen würden, wodurch das Gebäude einstürzen würde. Das haben die Orchestermitglieder sehr schnell mitbekommen und hatten Respekt davor, da sie wesentlicher Bestandteil des Ganzen waren und nicht nur Beiwerk.

Gab es neben der Umsetzung eines eurer Wunschträume noch ein weiteres Ziel, das ihr mit der Neuvertonung verfolgt habt?

Gezieltes Arbeiten ist eigentlich nicht so unsere Sache. Wir nehmen ab und zu bewußtseinserweiternde Getränke wie Rotwein zu uns, gebären wahnwitzige Ideen, die in einem bestimmten, mittlerweile überquellenden Schubfach landen, und dann warten sie dort auf ihre Umsetzung.

Was kann nach „Carmina Burana“ eigentlich noch kommen? Immerhin ist es das bekannteste Werk aus dem Mittelalter.

Diese Orchesterversion der „Carmina Burana“ ist im Endeffekt unser drittes Projekt. Es gibt CORVUS CORAX, TANZWUT und die Orchestervariante. Genauso wollen wir in Zukunft weiter arbeiten. Es wird normale CORVUS-CDs geben, TANZWUT-VÖs und auch wieder größere Ensemblesachen. Ob das nun „Carmina Burana II & III“ wird – das Buch hat über 350 Texte – oder wir uns einer anderen Geschichte annehmen und daraus ein Orchesterwerk machen, mal sehen…

Wann schreibt ihr moderne Popmusik aufs Mittelalter um?

Hehe, als TANZWUT entstanden ist, hatten wir tatsächlich die Idee, so etwas durchzuziehen. Es gibt sogar noch geheime Aufnahmen, auf denen wir PRODIGYs „Firestarter“ im CORVUS CORAX-Style interpretieren. Aber irgendwie haben wir das wieder verworfen.

Was war deine erste Begegnung mit der „Carmina Burana“?

Das habe ich meinen Eltern zu verdanken. Mein Daddy hat gerne Klassik gehört. Mozart hat mich gar nicht interessiert. Wagner fand ich solange gut, solange die Damen meinten, schreien zu müssen. Kein Werk hatte jedoch so eine beeindruckende Wirkung wie das von Carl Orff. In den letzten zehn bis 15 Jahren hatte ich es dann aber ein wenig aus den Augen und Ohren verloren, da es soviel neue Musik zum Entdecken gab. Erst kam KRAFTWERK, dann kam der Industrial und dann tauchten Bands wie SLAYER auf, die mir vollends die Fresse polierten.

Du hast vorhin erwähnt, dass ihr die „Carmina Burana“ nie alleine performen werdet. Heißt das, die Gigs auf dem Wacken Open Air und auf der Berliner Museumsinsel werden die einzigen Chancen sein, dieses Ereignis mitzuerleben?

Nein, wir wollen damit weiterhin auf großen Bühnen auftreten. Für November sind noch zwei weitere Konzerte geplant, aber noch nicht bestätigt. Über die Bühne gehen werden sie wahrscheinlich in München und Düsseldorf. Es kann aber auch sein, dass das erst nächstes Jahr druckreif wird. Wir haben auf jeden Fall vor, in den nächsten zwei Jahren regelmäßig die „Carmina Burana“ live darzubieten. Unsere Generalprobe in Cottbus hat uns auf diesem Sektor sehr viel weiter gebracht. Wir haben im Vorfeld vielen Leuten von unserem Projekt erzählt und ihnen auch die dazugehörige Musik vorgespielt. Aber jeder hatte Schwierigkeiten damit, sich Mittelaltermusik in Kombination mit einen Orchester vorzustellen. Dadurch, dass wir Cottbus auf DVD aufgezeichnet haben, konnten wir nun Veranstaltern endlich den visuellen Aspekt des Ganzen näher bringen. Als Resultat sind bisher etliche Anfragen bei uns eingegangen, auch aus dem Ausland. Wir stehen schon mit China in Verhandlungen. Wenn das klappt, kann es sogar sein, dass wir dort mit einem traditionellen, chinesischen Orchester zusammen auftreten. Das kann ich mir selbst noch nicht vorstellen. Und ein chinesischer Chor, der lateinische Texte singt, ist bestimmt der Oberknüller, hehe.

Wie war denn die Gefühlskette, die von vor der Generalprobe über das Konzert an sich bis jetzt abgelaufen ist?

Vor der eigentlichen Generalprobe hatten wir noch drei normale Proben. Schon dort hat sich eine unglaubliche Spannung samt Lampenfieber breit gemacht. Eigentlich habe ich selten Lampenfieber, aber das war ein so komplett neues Universum, da kam das einfach. Die Proben waren auf jeden Fall notwendig. Ein Orchester funktioniert komplett anders als z.B. eine Rockband. So wie wir als CORVUS CORAX arbeiten und eingestellt sind, sind wir sehr rockig. Bei der ersten Probe zählte der Dirigent ein und auf die eins waren wir sofort da, weil wir es nicht anders kannten. Wir machten ‚rummms‘, aber das Orchester blieb stumm und kam erst mit einer halben Sekunde Verspätung dazu. Das lag daran, dass die Orchestermusiker auf der eins nicht anfingen zu spielen, sondern sich erst vorbereiteten. Die Bläserabteilung hat z.B. auf der eins Luft geholt, anstatt schon zu blasen. In diesem Punkt mußten wir uns also erst annähren. Resultat war dann, dass das Orchester wirklich probierte, auf die eins einzusteigen.

Was können wir also für Wacken erwarten, wenn sich zu Mittelalterspielleuten und einem Orchester samt Chor noch Metalpublikum gesellt?

Das ist eine sehr spannende Fragestellung. Wir wissen es selbst nicht. Unsere Erfahrungen mit CORVUS CORAX auf Metalfestivals waren immer gut. Wir haben schon zwischen HOLY MOSES und ATROCITY gespielt. Im Prinzip war das ein Wagnis, aber die Leute sind komplett ausgerastet. Als ich mich danach unters Publikum gemischt und mit den Leuten geredet habe, sprang mir sehr viel Erstaunen entgegen. Viele hatten nämlich erst nach unserem Konzert mitbekommen, dass wir keine Gitarre auf der Bühne hatten. Die Leute wurden direkt von unserer Energie mitgerissen und haben es deswegen gar nicht bemerkt. Die „Carmina“ auf Wacken wird wuchtig. Leider können wir nicht mit dem kompletten Orchester anreisen, da wir aus statischen Gründen nur 80 Musiker auf die Bühne stellen dürfen. Aber das wird funktionieren. Ich denke mal, ein Teil der Leute wird einfach abwinken und weggehen und sehr viele werden interessiert zuschauen. Eines kann ich jedoch versprechen: Wir sind laut und schieben wird es wie Sau! Das sollte als Basis eigentlich reichen. Auch für ein Metalpublikum.

Mittelaltermusik ist doch auch so in Metalkreisen sehr beliebt, wie man an den vielen erfolgreichen Bands sieht, die beides mischen.

Das finden wir sowieso erstaunlich. Mittlerweile gibt es schon einen Begriff „Mittelalterszene“. Dabei sind wir selbst eine Band, die sich keiner einzigen Szene anrechnet. Unsere Erfahrung ist, dass wir alle ansprechen. Das können sowohl Hip-Hopper, als auch welche aus der Techno-Ecke sein. Solche verirren sich zwar seltener auf unsere Konzerte, aber wenn sie mal da sind, kommen sie danach an und erzählen uns, wie unglaublich sie das ganze fanden und wieviel Groove wir doch inne hätten. Deswegen finde ich es sehr entspannend, nicht zu einer Szene zu gehören. Denn dann bin ich weder cool, noch uncool. Szenen grenzen sich gegenseitig immer ab. Das wollen wir nicht. Im Gegenteil, wir wollen, dass unser Publikum so gemischt wie möglich ist und trotzdem feiert. Ich finde es großartig, dass sich so viele verschiedene Menschen auf unseren Konzerten treffen und feststellen: „Hey, der Typ da sieht zwar anders aus als ich, aber kann ja doch nicht so schlimm sein, wenn wir dieselbe Musik hören.“ So haben wir auf gewisse Weise ein verbindendes Element.

Das ist jetzt vielleicht ein etwas weit hergeholter Vergleich: Aber könnte es nicht sein, dass sich viele und vor allem die Metaller in euch Spielleuten zu einem gewissen Grad wiederfinden, da die Spielleute im Mittelalter auch eher von der Gesellschaft ausgegrenzt worden sind und kein hohes Ansehen genossen?

Sicher spielt das auch eine Rolle. Früher war es so, dass die Spielleute tagsüber wohlgelitten waren. Ging es dann aber gegen Abend, wurden sie ruckzuck vor die Stadttore gesetzt. Auf Parties waren sie noch gern gesehen. Aber danach konnten sie getrost wieder verschwinden, da sie eigenartig drauf waren und sich auch gerne mal die nächste Frau schnappten. Außenseiter waren sie deswegen, weil sie keinen Herren hatten. In der Rechtssprechung hatten sie keinen Fürsprecher und waren somit rechtlos. Da, wo die Metalszene herkommt, haben auch eher die Outlaws regiert. Ich habe früher selbst lange in einer Metalband gespielt (Depressive Age, Anm. d. Verf.). Wir wollten damals ebenfalls eher unser Ding abseits von gesellschaftlichen Zwängen durchziehen.

Also könnt ihr euch im Endeffekt mit dem alten Bild der Spielleute sehr gut identifizieren?

Ja, wir sehen uns als moderne Spielleute.

Party feiern und die nächste Frau mitnehmen?

Genau, hehe! Aber auch rein musikalisch. Wir werden oft gefragt, wie wir es als Mittelalterband denn wagen könnten, mit einem Orchester aufzutreten. Nun, es war früher so, dass die Spielleute durch ganz Europa gezogen und sogar in den Orient vorgedrungen sind. Dabei haben sie alles, was sie aufgeschnappt haben und was irgendwie gepaßt hat, in ihr Repertoire integriert. Seien es seltsame neue Instrumente oder neue Melodien gewesen, es wurde gut hingehört und hingeschaut.

Gibt es wirkliche „true medieval hardliner“, die jetzt sagen: „Nee, mit Orchester kommt ihr mir nicht ins Haus!“?

Das ist total verrückt, aber es gibt wirklich eine „true medieval“-Szene. Die wirft CORVUS CORAX sowieso schon immer vor, dass alles, was wir heutzutage machen, kaum noch mittelalterlich ist. Nur unsere alten Sachen, die waren angeblich noch „echt“. Der Schwachsinn an der ganzen Sache ist nur, dass das, was wir mit CORVUS CORAX auf die Beine stellen, mit Authentizität nicht viel zu tun haben kann. Es gibt nun mal keine CD aus dem Mittelalter. Keiner kann beurteilen, welche Band jetzt den medieval spirit richtig rüberbringt und welche nicht. Deswegen sind solche Behauptungen richtiger Unsinn, über den wir nur den Kopf schütteln können. Ich meine, wir haben diese Szene erst entwickelt. Früher wurde Mittelaltermusik komplett anders dargeboten. Diese brachiale, extrem rhythmisch orientierte Variante, wie wir sie betreiben, gab es früher überhaupt nicht. Nun ist sie aber für andere Bands der Standard, wie Mittelaltermusik zu klingen hat. Allerdings gibt es absolut keine rhythmischen Überlieferungen, sondern nur Melodiefragmente, die man selbst erst arrangieren muß. Auch für unsere Melodien gibt es im Endeffekt absolut keine Vorbilder. Selbst die Fragmente sind nicht in definitiven Noten überliefert, sondern nur in alternierend ansteigenden und abfallenden Melodiebögen. Dadurch muß erst mit einem Instrument ausprobiert werden, wie es gespielt werden könnte, damit eine schöne Melodie entsteht. Der dazugehörige Rhythmus ist einzig unsere eigene Auslegungssache. In den 20er und 30er Jahren gab es schon mal eine sehr aktive Mittelalterszene. Aber damals wurde alles gnadenlos im ¾-Takt gespielt. Somit ist die heutige Rhythmik stark geprägt von der Gegenwart.

Wie es damals definitiv geklungen hat, kann mal also nicht beweisen.

Nein, man kann aber durch ganz Europa ziehen, wie es ein Teil von uns gemacht hat. Klassisch wie die fahrenden Spielleute früher, manchmal sogar wirklich mit Eselskarren. Auch wenn es das hier in Deutschland nicht mehr gibt, hat die traditionelle Musik anderer Länder ihre Wurzeln sehr wohl im Mittelalter, die ohne Unterbrechungen bis heute überliefert worden sind. Natürlich hat sich die Musik weiter entwickelt und z.T. verändert, aber wenn man in den Balkan oder nach Nordafrika fährt, trifft man dort auf eine wirklich lebendige Mittelalterszene, auf lebende Fossile. Wenn man dort genau hinhört, kann man sich etwa vorstellen, wie es früher geklungen haben mag. Wir machen die Straßenmusik des Mittelalters, die Musik der Leute, die umhergezogen sind und auffallen wollten. Die Musik der jungen Leute. Das muß laut gewesen sein und rhythmisch so gebaut, dass man darauf tanzen konnte. Schriftliche Beschreibungen von Mittelaltermusik gibt es viele. Aber nie wurde es so geschildert, dass die Leute in der Taverne andächtig einem Harfenspieler lauschten. Viel eher sind wilde Parties überliefert, wegen denen im Laufe der Zeit immer mehr Verbote und Gesetze erlassen worden sind, um das einzudämmen.

Ist es nicht so, dass z.B. heutzutage in München immer noch kein Dudelsack auf der Straße gespielt werden darf?

Das ist Altes Stadtrecht. Es gibt etliche Städte in Deutschland, wo man auch heute noch als Straßenmusiker als Instrumente nicht Dudelsack oder Trommel angeben darf. Wenn du das angibst, bekommst du keine Spielerlaubnis. Diese Gesetze wurden seit dem Mittelalter nicht mehr geändert. Jedes neu geschriebene Gesetzbuch basierte auf den Gesetzen, die vorher da waren. Für Spielleute gab es nie eine Lobby. So war es diversen Städten einfach verboten, diese Instrumente zu spielen, zumal sie von der Kirche als Instrumente des Teufels klassifiziert worden sind.

Womit wir wieder eine Parallele zum Metal hätten…

Dieser Teufelsaspekt ist auf jeden Fall eine sehr große Parallele zum Metal. Die Spielleute spielten die Musik des Satans.

Zurück zum eigentlichen Hauptthema: Ihr werdet aber trotz des „Carmina Burana“-Trubels Mittelaltermärkten und der Burg Kaltenberg, wo ihr seit Jahren ein feste Attraktion des dortigen Ritterturniers seid, erhalten bleiben, oder?

Ja, natürlich. Gerade Kaltenberg ist für uns dadurch, dass wir nicht auf Tour sind, sondern drei Wochen an ein und demselben Fleck spielen, wie Urlaub. Wir können auch einfach mal auf der Wiese in der Sonne relaxen. Auf Tour haut das nicht hin.

Wie geht es in naher Zukunft weiter im Hause CORVUS CORAX? Zukunftsaussichten? Pläne? Oder seid ihr jetzt rundum glücklich?

Nein, hehe! Wir hatten noch nie das Problem, dass wir keine Ahnung hatten, was wir als nächstes angehen sollten. Eher im Gegenteil, wir wissen nie, wo wir anfangen sollen. Konkrete Pläne kann ich dir aber nicht mitteilen, da wir immer mehrere Projekte im Kopf herumspuken haben. Definitiv kann ich nur sagen, dass wir an der Arbeit mit einem Orchester Blut geleckt haben. Das macht einen Riesenspaß. Da kommt definitiv noch mehr. Das nächste Mal dann hoffentlich mit den zwei Orchestern, die wir ja dieses Mal schon verwenden wollten. Oder vielleicht machen wir es auch gleich mit derer vier, damit eine Art Surround-Effekt entsteht, haha. Ach, da fällt mir noch was ein: Drei Monate, nachdem wir mit der gesamten „Carmina“-Sache durch waren, haben wir uns wieder ins Studio gesetzt und das Ganze noch mal im 5.1-Sound abgemischt, was ebenfalls veröffentlicht wird. Es wird eine ltd. Edition geben, die als Bonus u.a. ein Interview mit uns, einen Livesong aus Cottbus und alle zwölf Titel im Surround Sound enthält. Das muß man hören, da man wirklich mitten im Orchester drin sitzt. Dieser Mix war für mich die Krönung der gesamten „Carmina“-Geschichte.

Am 8.8. wissen wir mehr. Danke für das sehr interessante Interview…

26.07.2005
Exit mobile version