Brutal Truth
Brutal Truth
Interview
Grindcore bekommt ein neues Standardwerk. Dafür sind keine Geringeren als BRUTAL TRUTH verantwortlich. Groß Hintergrund liefern muss man hier nicht, die Anhänger kennen sie, schätzen sie; alle anderen, wissen zumindest um ihre Platten. Wichtig ist nur: Sie sind zurück. Auf ihrer ersten Full-length primär noch eine amtliche NY-Death-Metal-Combo mit lediglich einem Faible für Blastbeats, entwickelten sie auf ihrer zweiten Platte "Need to Control" wilde Lärm- und Sounderuptionen, die Grindcore gänzlich neu akzentuierten und perspektivierten, ein rotes X auf einer verwaschenen Landkarte. Das, was an ihnen beschreibbar wäre, ist heute vielleicht nicht unbedingt mehr reizvoll. Dennoch sind ihre Reize unerreicht, der Charakter der Musik einmalig. Bassist und Szene-Urgestein Danny Lilker meldet sich im Interview zu den kurrenten Entwicklungen zu Wort.
Bevor wir auf die neue Platte zu sprechen kommen, möchte ich gerne nocheinmal auf die Gründe zurückkommen, die für euren Split im Jahr 1998 ausschlaggebend waren.
Es gab da Streitigkeiten zwischen unseren altem Gitarristen Gurn und unserem Sänger Kevin; und da Gurn eh nicht mehr mit dabei ist, sehe ich keinen Grund die Hintergründe für diesen Zwist hier breitzutreten. Soviel sei gesagt: Gurn hatte familiäre Verpflichtungen, denen er am Ende nicht mehr nachkam, und einen festen Job, er konnte somit nur eingeschränkt am Bandgeschehen teilnehmen. Daran ist leider die Band als Ganzes zugrunde gegangen. Heute sind alle Probleme ausgestanden.
Lass uns doch mal kurz eruieren, wie und warum sich eure Reunion ergeben hat: Ausschlaggebend waren EYEHATEGOD bzw. das Tribute-Album „For The Sick“, auf welchem ihr mit „Sister Fucker“ vertreten seid.
Wir wurden gefragt, ob wir uns an einem Benefiz- / Tribute-Album für EYEHATEGOD, deren gesamtes Equipment beim Hurricane Katrina zerstört worden ist, beteiligen möchten. Wir haben eingewilligt und entschieden uns für „Sister Fucker“. Als wir den Song soweit parat hatten, wollten wir mal schauen, ob wir unsere alten Songs noch auf die Reihe bekommen; das hat erstaunlicherweise – wirklich! – wunderbar funktioniert. Grund genug für uns kurzerhand eine Show zu buchen und uns eine MySpace-Seite zu errichten. Ohne die Benefiz-Sache hätte es für uns vermutlich keinen triftigen Anlass gegeben, mit BT weiterzumachen. Dann kamen auch noch die Fans auf uns zu, bombardierten uns mit Fragen bezüglich mehr Konzerten und einem neuen Album. Irgendwann konnten wir nicht mehr nein sagen.
Nach dem Aus suchten sich die meisten von euch schnell neue musikalische Spielwiesen, gründeten Projekte oder klinkten sich in andere Bands ein – vor allem dir dürfte es nicht langweilig geworden sein. Was geschieht gerade mit den anderen Bands, in die ihr alle verstrickt seid?
Stimmt, jeder von uns war und ist auch heute noch in anderen musikalischen Projekten involviert. Zusammen mit Kevin, und Shane und Danny von NAPALM DEATH lärme ich noch in VENOMOUS CONCEPT, außerdem spiele ich bei CRUCIFIST hier in Rochester. Auch gibt es da noch THE RAVENOUS, die zwar noch immer existieren, aber bekanntlich nie wirklich als Band aktiv waren. Erik hat mit seiner Band SULACO noch ein weiteres Betätigungsfeld, Rich hat seine TOTAL FUCKING DESTRUCTION. Es ist alles eine Frage der Organisation, die Aktivitätspläne dieser Bands aufeinander abzustimmen. BT hat dabei oberste Priorität für uns alle. Aber sollen auch die anderen Bands Berücksichtigung finden. Mit VC werden wir in nächster Zeit zwei Konzertangebote wahrnehmen: wir sind für das Maryland Deathfest und das Obscene Extreme gebucht, zwei größere Shows also. Ob noch mehrere Konzerte folgen, oder eine ganze Tour, ist nicht auszuschließen, zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht geplant. Auch TFD spielen regelmäßig kleinere Gigs.
Das neue Album von BRUTAL TRUTH klingt nach guter Gesundheit, nach jugendlicher Kraft, rosigen Wangen. Hört man „Evolution Through Revolution“ von Anfang bis Ende, wirkt die Platte wie die Geschichte einer Entwicklung: Am Anfang herrscht noch der relativ konventionelle BT-Sound vor, der einst Grindcore gänzlich neu akzentuierte: wilde, verdrogte Lärm- und Sounderuptionen, flächige Feedbacks und highly-distorted Geschredder. Dazu röhrt der Grand Monsieur des Genres, Kevin Sharp, allerlei schön gesellschaftskritischen Kram. Dann aber wird das dräuende Amalgam von stockenden, stolpernden, offenbar von Zappa inspirierten Riffs aufgeraut, jazzig-verfrickelte, verspielte Details, auch mithilfe divergierender Delay-Effekte markant aufgespaltene Melodien schälen sich aus den abstrakten Soundlawinen, die alle Dimensionen der Dynamik ausloten. Was war euer musikalischer Ausgangspunkt?
Die „Sound Of The Animal Kingdom“-Platte ist vom Stil und Sound her ganz klar unser Referenzwerk, es war abgefahren und tight, und galt uns daher auch als Ausgangspunkt für „Evolution…“, als erste Orientierung für die neuen Stücke. Dennoch markiert „Evolution…“ auch zugleich einen Neustart als Band. Unser neuer Gitarrist Erik hat viel zur neuen Platte beitragen können; nicht nur wirklich abgefahrene, drugcrazed Riffs und Songideen, sondern auch indem er uns zeigte, wo unsere Stärken liegen, wo wir stehen und was wir können. Uns war es wichtig, uns nicht zu limitieren, d.h. wir wollten etwas wagen, dabei aber nicht unseren Grundgestus aus den Augen verlieren.
Ich denke auch, dass das Album eine Art Geschichte unserer Entwicklung erzählt, es enthält Elemente aus allen unseren alten Alben – von „Extreme Response…“ bis „Sounds…“, wie ein großer Schmelztiegel vereinen wir alle klassischen BT-Elemente. „Evolution…“ kann als unser Beitrag zur neuerlichen Verortung Grindcores verstanden werden, als ein Etikett, an dem man dieses Genre aus unserer Perspektive heute festmachen kann. Es ist, wie ich finde, eine perfekte Einführung in das Reich des Grinds, und zugleich für all diejenigen, die unsere 90er-Heydays nicht miterlebt haben, ein guter Weg unsere Band kennen zu lernen.
Wenn euch „Sounds…“ damals auf der Höhe eures Könnens zeigte, gibt es denn dagegen ein Album mit dem du heute nicht mehr zufrieden bist?
Am wenigsten zufrieden bin ich heute mit „Need To Control“, das war einfach nur eine Platte, die gemacht werden musste, mehr nicht. Natürlich gibt es auch hier große Songs, aber vieles ist schon während den Aufnahmen schief gegangen, sodass ich nur die schrecklichen Details heraushöre, vor allem die Produktion ist ziemlich mies und mickrig. Hinzu kamen die Querelen mit Earache, auf die ich hier aber nicht eingehen möchte. Aber generell bin ich auf alle unsere Veröffentlichungen stolz, und sie haben alle – wie gesagt – ihre Berechtigung; sie hatten alle ihren Zweck und müssen letztlich so sein wie sie sind, um uns dahin zu bringen, wo wir heute als Band stehen.
Eure neue Platte klingt wie aus einem Guss. Mit zwanzig Stücken, die sich durchschnittlich nur zwei Minuten Zeit lassen, sich zu entfalten, findet ihr die perfekte Schnittmenge zwischen Brachialität und filigranem Detailreichtum – etwas, was man bei Grindcore-Bands vergeblich suchen muss. Gibt es bezüglich eures Vorgehens beim Songwriting konkrete Vorstellungen, so etwas wie ein Fahrplan, wie etwas zu klingen hat? Oder vertraut ihr auf den üblichen Lauf der Dinge? Kannst du uns einen Einblick gewähren, wie ihr euch euren durchaus komplexen Songs annähert?
Unser Songwriting-Prozess ist, glaube ich, ziemlich herkömmlich, unspektakulär, um nicht zu sagen: natürlich, d.h. niemals durchdacht. Wir gehen immer ohne Kalkül und konkrete Intention an die Sache heran, das macht es für uns ziemlich einfach. Nur in logistischer Hinsicht ist es deutlich schwieriger geworden mit dem Proben, da wir alle ziemlich weit auseinander wohnen, in verschiedenen Städten und Staaten.
Erik und ich wohnen jedoch nur ein paar Meilen auseinander, sodass wir uns mehrmals im Monat treffen konnten. Wir gehen dann auf seinen Dachboden, wo einige Gitarren, Verstärker und Aufnahmeequipment stehen, rauchen ein bisschen was, trinken ein kaltes Bier und spielen uns gegenseitig Riffs vor. Nach so einem Treffen stehen die Grundstrukturen für etwa zwei bis drei Songs. Rich kam dann einmal im Monat aus Philadelphia zu uns, und wir stellten die so entstandenen Riff-Fragmente zu Songs zusammen. Pro Monat entstanden so in den letzten zwei Jahren immer etwa drei neue Songs; nach einiger Zeit hatten wir dann genug Material für ein gesamtes Album. Rund 90 % des Materials stammen von Erik und mir, Rich steuert den Rest bei. Kevin schreibt zu den von uns dreien fertig gestellten Songs die Texte.
Bei THE MINUTEMEN handelte es sich um drei gewitzte Kerlchen, die in den 1980er Punkrock – wie viele andere Bands auf SST auch – durch Einflüsse aus Funk und Jazz neu perspektivierten. Sie waren von dem Zwang befallen, ihre Musik über Genregrenzen hinaus regelrecht zu inszenieren, ihre Texte mit sympathischer Albernheit, zugleich aber mit einer Portion Kritik ausstaffieren zu müssen, was sich deutlich in einem Songtitel wie „Bob Dylan Wrote Propaganda Songs“ niederschlägt, an unzähligen anderen Stellen aber weit subtiler eingewoben ist. Eben dieser Song wurde nun von BRUTAL TRUTH sehr gelungen neu interpretiert.
Unser Drummer Rich ist ein großer MINUTEMEN-Fan und wollte schon lange diesen Song covern. Er kam erstmals bei den Aufnahmen zu „Need To Control“ damit an. Damals wurde aber aus irgendwelchen Gründen die Idee wieder verworfen. Als diesmal der Gedanke aufkam, einen Song zu covern, fiel die Wahl sofort auf THE MINUTEMEN und „Bob Dylan Wrote Propaganda Songs“. Wir dachten uns, es wäre cool ein Stück auszuwählen, welches man uns nicht unbedingt zutrauen würde. Also haben wir es zu unserem eigenen gemacht. Ich wollte mich eigentlich an einem Song von D.R.I. vergehen, eine brutale, noch schnellere Version von „Yes M’am“ von ihrer ersten 7″ / Album einspielen; vielleicht klappt es ja auf unserem nächsten Album.
Grindcore ist heute ein kaum entwirrbares Neben- und Übereinander von Soundgebilden, das an seinen Spitzen unbegrenzt weiterwächst, selbst wenn ältere Teile verkümmern. Die Evolution dieses Genres seit Mitte der 1980er-Jahre ist ein Prozess beständiger Weiterentwicklung und Differenzierung, in dem sich wie bei einer Rhizomstruktur immer neue Verästelungen ausbilden, andere überlagern, während die alten Gründerfiguren längst abgedankt haben. BRUTAL TRUTH mischen wieder mit, und es ist so als seien sie nie wirklich weg gewesen. Ihr habt viele Bands maßgeblich beeinflusst. Habt ihr Werdegang und Entwicklung des Genres verfolgt? Gibt es Bands jüngeren Datums, die euch wieder auf die Spur gebracht haben?
Es ist schön zu sehen, dass sich Grindcore auch nach über zwanzig Jahren immer noch weiterentwickelt! Wer hätte damals erwartet, dass sich dieses kleine Genre derart durchsetzt. Grindcore ist heute wesentlich vielfältiger: Da gibt es diese osteuropäischen Bands, die Schweinequieken als Gesangsform etabliert haben und komische, abgefahrene Störgeräusche unter ihre Musik mischen; da gibt es – ehrlich gesagt – ziemlich bescheuerten Porngrind oder Porngore oder wie man das auch immer nennen möchte – ich kann und will das beim besten Willen nicht wirklich ernst nehmen; dann die Bands, die nicht müde werden, CARCASS zu interpretieren. Da hat sich in den letzten Jahren mit dem Razorback Label eine feine Szene herausgebildet. Und es gibt Bands wie AGATHOCLES und MISERY INDEX, die Grind mit ihren sozialkritischen Lyrics wie in den guten alten Anfangstagen immernoch ein ernsthaft-politisches Charakteristikum verpassen.
Tatsächlich haben uns heute viele Bands beeinflusst, die wir – laut eigenen Aussagen der jeweiligen Band – beeinflusst haben. Vor allem die ganzen, kaum zählbaren schwedischen Bands hatten beim Entstehungsprozess von „Evolution…“ eine prägende Wirkung auf uns. Ganz vorne mischen mit: allen voran selbstverständlich NASUM, eine überaus wichtige Band für unser Genre, dann SAYYADINA, SPLITTER, BIRDFLESH und GADGET, die neue Generation lärm- und geschwindigkeitsbesessener Maniacs, und viele, viele mehr. Auch die Finnen ROTTEN SOUND haben es einfach drauf, und natürlich die mächtigen BLOCKHEADS aus Frankreich. MUMAKIL aus der Schweiz sind wohl aber die Grind-Band der Stunde, wirklich herausragend. Diese Band sticht zurzeit alle aus!
Es ist schon erstaunlich, wie sie sich nun endlich mit „Evolution Through Revolution“, ihrem vierten Album, an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Missachtung ziehen. Alle Welt war gespannt, man munkelte und legendisierte: Wie würden gerade sie auf all das reagieren, was in diesen elf Jahren im unbegrenzten Niemandsland Grindcore so geschehen ist? Das war nicht immer so. Während ihres Bestehens, noch zu „Sounds…“-Zeiten, wurden BRUTAL TRUTH nicht nur nicht geschätzt, sondern regelrecht ignoriert. Erst nach ihrem Split erreichten sie den Status, den sie heute innehaben, sie avancierten zu Eisheiligen. Ist es nicht irgendwie wunderlich, dass man euch erst im nachhinein Respekt und Anerkennung entgegenbrachte?
Ich denke, wir waren „immer unserer Zeit voraus“, haha! Es hat vermutlich einige Zeit gedauert, bis die Leute kapiert haben, was wir da eigentlich machen, um was es uns eigentlich geht. Das stimmt, was du sagst: erst nachdem wir uns aufgelöst haben, sind die Leute auf den Trichter gekommen; sie hatten verstanden. Auf einmal kamen dann Leute auf mich zu und fragten mich Dinge wie „Glaubst du, ich werde noch einmal die Möglichkeit haben, BT live zu erleben? Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie einflussreich ihr für die Grindcore-Szene gewesen seid?“ – es ist wirklich seltsam, so etwas zu hören, wo man uns noch zu „Sounds…“-Zeiten so gut wie völlig ignoriert hat.
Heute ist die Welt allem Anschein nach bereit für BT. Wir können uns mittlerweile aussuchen, welche Konzerte wir wo und wann spielen wollen! Ja, wir sind beliebt, das kann man ruhig so sagen – und das ist für uns ziemlich befremdlich und amüsant zugleich, haha.
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