Bethlehem
Interview mit Jürgen Bartsch zu "Hexakosioihexekontahexaphobia"
Interview
„Hexakosioihexekontahexaphobia“ steht für die Furcht vor der Zahl 666. Bitte erläutere uns die Bedeutung des Albumtitels näher!
Das ist auf gewisse Art und Weise auch ironisch gemeint. Bei uns Metallern fährt doch jeder auf die 666 ab. Nimm „Number Of The Beast“ oder all die Black-Metal-Bands mit ihren Logos oder Songtiteln. Da wollten wir einfach mal den Spieß umdrehen und die Furcht vor der Zahl 666 verwenden. Wir haben keine Angst vor der Zahl 666. Da ist auch eine gesunde Portion Selbstironie dabei. Diese Phobie ist verbreitet, zum Beispiel hatte sie Ronald Reagan. Wenn er als Präsident unterwegs war, durfte kein Hotel die Hausnummer 666 haben, ebenso wenig wie die Zimmernummer oder die Flugnummer. Da musste dann das Hotel gewechselt werden oder das Flugzeug, was teilweise zu extremen Terminschwierigkeiten führte. Ich nehme an, dass Ronald Reagan streng gläubisch war, und daraus hat sich dann diese Phobie wahrscheinlich entwickelt. Wir haben den Fall auch in meiner Familie, meine Schwester leidet auch darunter. Wenn man mit ihr einen Film wie „Das Omen“ anschaut, der ja jetzt nicht so schlimm ist, dann kam es schon vor, dass ihr abends vor dem Spiegel die 666 auf ihrer Stirn erschienen ist. Das ist schon heftig mit solchen Halluzinationen. Es ist also nicht nur Selbstironie sondern hat auch tatsächlich einen ernsthaften Hintergrund.
Das ist Teil eines Konzepts. Ende der Neunziger nach dem „S.U.I.Z.I.D.“ Album habe ich in einem Zeitraum von 1,5 Jahren eine Kurzgeschichte geschrieben. Diese Kurzgeschichte gab ich einigen Leuten zu lesen, die hat vielen gefallen da sie grauenhaft krank, sehr verstörend und bizarr war. Ich kam dann auf die Idee, daraus eine Album-Trilogie zu machen.
Teil 1 „Schatten aus der Alexander Welt“ beschreibt das Reich der Dämonen, das hat aber keinen religiösen oder spirituellen Hintergrund. Das sind die eigenen Dämonen. Rockstars haben ja immer Drogen genommen, und ich dachte mir dann, auch wenn wir nie Rockstars waren, dass ich das mit Sex, Drugs and Rock’n’Roll auch erleben möchte. Ich hatte dann so richtig über die Stränge geschlagen, was mir nicht bekommen ist, dadurch hatte ich dann die wahren Dämonen in mir selbst kennengelernt, bedingt durch den Drogenmissbrauch. Ich bin nämlich normal ein rational denkender Mensch und glaube nicht an Hokuspokus oder Aberglaube. „Schatten aus der Alexander Welt“ beschreibt dieses Dämonenreich.
Teil 2 „Mein Weg“ beschreibt die Reaktion auf diese Jahre. 2001 bekam ich einen Herzinfarkt, den zweiten bereits. Den ersten hatte ich während meiner Drogenzeit, aber ich war nicht einmal im Krankenhaus, mit Ende zwanzig denkt man nicht an einen Herzinfarkt. An dem zweiten Herzinfarkt bin ich hier in meinem Zimmer gestorben. Dann kam der Rettungswagen, die hatten dann die Tür unten aufgebrochen, während ich schon Herztod war. Sie fanden mich auf dem Boden liegend vor und reanimierten mich, zuerst mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung, da ging aber nichts mehr. Dann mit Adrenalin, aber nicht wie in „Pulp Fiction“ direkt ins Herz. Das hat auch nichts gebracht, daher schlossen sie dann als letztes Mittel den Defibrillator an. Der dritte Schock brachte mich dann wieder zum Atmen, was auch höchste Eisenbahn war. Ich war zu diesem Zeitpunkt wohl schon zwei Minuten weg. Wenn du zwei Minuten schon Herztod bist, können durch diesen Herzstillstand und Sauerstoffmangel schon dauerhafte Schäden entstehen. Zum Glück trug ich aber keine davon. Am nächsten Tag kam dann der Rettungsarzt zu Besuch in die Düsseldorfer Uniklinik und sagte: „Herr Bratsch, machen sie weiter! Wann machen sie denn ihr nächstes BETHLEHEM Album?“. Ich muss wohl im Schock um mich getreten haben, weswegen ich unter Morphium gesetzt wurde. Jedenfalls muss ich wohl einen der Helfer durchs Zimmer getreten haben, wovon ich aber nichts mehr weiß. Als ich dann unter Morphium stand, muss ich wohl im Krankenwagen von meiner Band BETHLEHEM erzählt haben. Und das war dann so lustig, wir haben Tränen gelacht. „Mein Weg“ beschreibt die Selbstreflexion auf diese Tage, die dann schlagartig vorbei waren. Es war klar, dass ich beim erneuten Mal sterben würde. Das nahm ich auch wirklich ernst. Es war tatsächlich schon in dieser Kurzgeschichte drin, ich arbeitete es dann nur in meine eigenen Erlebnisse aus. „Mein Weg“ ist auch der Versuch, einen anderen Weg einzuschlagen: weg von den Dämonen, weg von der Dunkelheit, weg von dem Bösen. Natürlich jetzt nicht hin zu den Zeugen Jehovas, der BETHLEHEM Spirit ist auch in Teil 2 vorhanden, aber es war die Suche nach dem Weg als übergreifende Thematik.
Teil 3 „Hexakosioihexekontahexaphobia“ ist ein Resümee, die Erkenntnis, dass du deinen eigenen Dämonen nicht entfliehen kannst. Du solltest das als ein Teil deiner Selbst verstehen, unabhängig davon, wie Menschen dich beurteilen oder was sie in dir sehen. Ich durfte jetzt wieder im Metal Hammer lesen, dass ich der Sicko-Guru bin. Da ich das in ähnlicher Form schon öfter gelesen habe, kann ich mir schon vorstellen, wie ich in der Öffentlichkeit gesehen werde. Wobei ich das eher noch als positiven Aspekt sehe, da gibt es noch ganz andere Sichtweisen. Letztendlich ist „Hexakosioihexekontahexaphobia“ der Schlussstrich, die Erkenntnis. Gib dich der Sache hin, lehne es nicht ab. Es ist ein Teil von dir selbst. Daher vielleicht auch der selbstironische Titel. Wir sind also doch nicht von der 666 losgekommen. Wir stecken noch immer in diesem 666, Satan, Dämonen Klischee fest. Und ich akzeptiere das als Teil meiner Selbst. Ich kann also meiner Verrücktheit freien Lauf lassen, was ich auch getan habe vor allem mit Songs wie „Nazi Zombies mit Tourette-Syndrom“. Dieser beschreibt den Gedankengang eines Irren in einer geschlossenen Anstalt. Diesen Text habe ich schon oft versucht zu verstehen aber es klappt einfach nicht, weil der so irre und krank ist. Deshalb habe ich einfach losgelassen. Ich habe mich einfach als das akzeptiert und losgelassen. Also kein wirkliches Happy End. Zur Not gibt es ja noch immer die geschlossene Anstalt. Man kann sich ja auch selbst einweisen lassen, wenn man meint, dass es nicht mehr geht. Aber soweit ist es noch nicht gekommen.
Auch auf „Hexakosioihexekontahexaphobia“ gibt es die typische Chiffrenlyrik in Form von metaphorischen Bildergeschichten. Kannst du uns bitte einige etwas näherbringen? Weiter würde mich interessieren, wie du deine Visionen zu Papier bringst, und was dich dabei inspiriert?
Ich hatte das schon mal versucht zu erklären, aber das klang so nach Oberlehrer. Ich habe keinen Bock auf Klugscheißerei, das ist ja widerlich. Aber im Prinzip funktioniert das einfach so, dass ich Bilder im Kopf habe, so wie jeder andere auch. Einige von den Bildern sind eher verstörender Natur. Das hängt alles miteinander zusammen. Diese Bilder sind ja eher eine Gefühlslage, eine Emotion. Und einige davon taugen für BETHLEHEM, das habe ich schon sehr früh festgestellt. Man denkt ja sehr viel und sieht viele Bilder, die dann aber normalerweise aber auch schnell wieder weg sind. Ich behalte diese aber, ich halte die Emotion fest. Ich habe mir da eine Schublade in meinem Gehirn gebaut, und da lege ich die rein. Wenn dann ein entsprechender Anlass kommt, krame ich sie wieder raus. Jetzt ist es natürlich schwer bis unmöglich, diese Bilder und Gefühle in Worte zu fassen. Für jeden Text ein Buch schreiben geht ja nicht. Größtenteils haben wir dann auch schon neue Songs, dann gehe ich die Bilder nochmals durch, die Texte kommen immer erst nach den Songs. Ich prüfe dann, ob es dazu passt, jetzt nicht vom Wortsatz oder Reim, das kann man alles noch zurechtbiegen, sondern von der Stimmung. Jeder Song braucht als Text eine gleiche oder ähnliche Stimmung, die zur Musik passt. Wenn ich das alles habe, nehme ich mir 20 bis 30 leere Blätter, noch ein Bier dazu, und dann sprudelt das aus mir heraus. Alle Blätter werden vollautomatisch beschrieben, ohne dass ich darüber nachdenke. Das sind dann die gesehenen Bilder und der Versuch, diese textlich darzustellen.
Das ist natürlich ein ganz eigenes persönliches Ding. Ich sehe ein Wort, und unter diesem Wort stelle ich mir eine ganz eigene Landschaft vor. Jemand anderes sieht ein Wort und sieht auch wirklich nur das Wort, ohne sich was drunter vorstellen zu können. Deshalb kommt es häufig zu Missverständnissen oder Fehlinterpretationen, oder die Leute denken „Mein Gott, ist das ein Schwachkopf, was schreibt der da wieder für einen Blödsinn?“. Das Geschriebene ist eine Masse ohne Punkt und Komma, mit vielen Worten, und aus diesen Worten heraus, aus diesen unzählig vollgeschriebenen Seiten, und darin sehe ich dann die Songthematiken. Ich kann das dann zusammenfügen. Es kann sein, dass die ersten beiden Worte von der ersten Seite ganz wunderbar zu den letzten beiden Worten von der dreißigsten Seite passen. Das ist ein richtiges Stückwerk. Natürlich soll es nicht Sinnfrei sein. Es soll zur Atmosphäre des Songs als auch zur Thematik passen. Zumindest für mich muss es Sinn machen. Ich erkläre beispielsweise auch immer dem Sänger, was ich mit diesen Texten sagen will. Guido Meyer de Voltaire brauche ich das nicht mehr so erklären, da er mittlerweile meine Herangehensweise kennt und es auch von selbst versteht. So schwer ist das auch garnicht zu verstehen. Diese Chiffrenlyrik kannst du auch ganz leicht entschlüsseln. Du darfst nur nicht den Fehler machen zu denken, dass das so ist wie bei normalen Texten und eins zu eins einen Sinn ergibt. Man darf nicht nach dem Sinn suchen. Wichtiger ist, dass man seine eigene Lebenserfahrung nimmt und das als Schlüssel verwendet. Dadurch wird man sich dann immer selbst oder zumindest einen Teil von sich in den Texten wiederfinden. Das ist interpretierbar, aus einer eigenen Reflexion heraus. Ich habe schon Leute in meinem Leben kennengelernt, die meine Texte vollends verstanden haben. Das war in der Regel selbst Künstler, die Bilder gemalt haben oder Kurzgeschichten geschickt, die genau die Thematik behandelt haben, die bei mir zugrunde lag. Das ist aber sehr selten, daher nehme ich an, dass meine und ihre Lebenserfahrung ähnlich sind. Viele andere sehen auch den Sinn, allerdings ihren eigenen Sinn darin, finden darin ihr eigenes Verständnis. Ich kann die Texte nicht anders schreiben, ich muss das in dieser kryptischen Art und Weise tun, sonst macht es für mich keinen Sinn mehr.
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