At The Gates
Gegen den Abgrund der Gleichgültigkeit
Interview
Die schwedischen Melo-Death-Metal-Pioniere AT THE GATES liefern nach vier Jahren den Nachfolger zum Comebackalbum „At War With Reality“ ab: „To Drink From The Night Itself“ entpuppt sich aber nicht als Nummer-sicher-Album, weder musikalisch noch textlich. Wir baten Sänger und Texter Tompa Lindberg zum Interview und fragten ihn, warum er sich gerade von einem tausendseitigen Wälzer hat inspirieren lassen. Außerdem mussten wir natürlich wissen, wie sich der neue Gitarrist Jonas Stålhammar in die Geschicke der Band eingefügt hat.
Ihr habt mittlerweile schon einige Auftritte mit dem neuen Line-Up absolviert. Im März habt Ihr aber eine Surprise Show im Bastard Club in Osnabrück gespielt – angekündigt wart Ihr nicht als AT THE GATES, sondern als THE BURNING DARKNESS. Wie war es?
Das war sehr schön. Wir haben ja in letzter Zeit viel mit unseren anderen Bands gemacht und haben bei AT THE GATES auch ein neues Mitglied (Jonas Stålhammar, Gitarre), so dass wir das erste Mal seit zwei Jahren mit AT THE GATES wieder auf der Bühne standen. Nervös ist vielleicht das falsche Wort
Es war ja kein heimlicher Auftritt, es war nur ein kleiner Club. Es war ganz perfekt. Die Leute haben ja erstmal nicht kapiert, wer spielen würde. Als sie das AT THE GATES-Merch gesehen haben, ist aber der Groschen gefallen. Es war wirklich nett. Wir haben ja nie den Kontakt zum „Underground“ verloren. Wir wurden häufig gefragt, wie es denn war, auf solch einer kleinen Bühne zu spielen, aber das haben wir bei AT THE GATES ja häufiger gemacht, als auf großen Bühnen zu spielen. Alles hat funktioniert, also war alles gut.
Der Auftritt war für Jonas Stålhammar die erste Show mit AT THE GATES. Wie war es für ihn?
Ich glaube, für ihn fühlte es sich gut an. Eigentlich ist er derjenige, der von uns am meisten geprobt hat und am besten vorbereitet war. In der Hinsicht war er von uns wohl am wenigsten nervös. Wir haben natürlich auch geprobt, aber bei uns sitzen die Songs eher im Bauch.
War es wichtig, einen alten Freund als Nachfolger von Anders Björler in der Band zu haben?
Ja, absolut. Es ist wichtig, dass es sozial funktioniert. Man muss ja sozial neu dazulernen. Jonas und wir kennen uns schon superlange, und da haben wir dieselben Referenzpunkte, wenn wir beispielsweise über Musik sprechen. Wir kennen alle Platten, die der andere hat. Und er versteht die Band. Er hat uns schon 1990 live gesehen. Er versteht einfach, warum wir die geworden sind, die wir jetzt sind. Das alles zusammen macht es einfach, und das waren die Komponenten, die uns wichtig waren. Außerdem ist Jonas auch ein guter Gitarrist, das wusste ich.
Er hat auch schon die neuen Stücke eingespielt?
Genau. Er hat zwar keine Songs geschrieben, aber seine eigenen Soli komponiert. Wenn man die beiden Gitarristen vergleicht, hört man auch Unterschiede. Jonas Stålhammar ist mehr vom Prog Rock inspiriert, WISHBONE ASH und so. Er spielt melodischer, flüssiger, intuitiver. Nicht nur schnelles Zeug. Ich finde es schön, dass man hört, dass die Band den Gitarristen gewechselt hat. Das war übrigens bislang immer der Fall, wenn mal das Line-Up gewechselt hat.
Du, Adrian Erlandsson und Johan Stålhammar spielen auch bei THE LURKING FEAR. Weshalb hattet Ihr die Band gegründet?
Wir hatten mit AT THE GATES eine kleine Pause eingelegt und keine Konzerte vor der Brust. Anders Björler (Lead-Gitarre) brauchte eine Auszeit, um die Situation zu überdenken. Dann hat sich alles wie ein Puzzle zusammengefügt: Adrian und Jonas hatten die Überlegung, etwas zusammen zu machen, dann kamen Fredrik Wallenberg und ich ins Spiel, später unser alter Kumpel Andreas Axelsson. Wir wussten sofort, was wir machen wollten: Death Metal, da gab es keine Diskussionen. Das ganze lief dann auch nicht als AT THE GATES-Projekt, sondern als eigenständige Band. Sieben Monate später hatte sich Anders dann entschieden, AT THE GATES zu verlassen. Das lief dann unbhängig voneinander. Wir haben auch schon Musik für die nächste Platte geschrieben, die in der nächsten Pause mit AT THE GATES erscheinen wird. So können wir mit den zwei Bands eigentlich ohne Pause auf Tour gehen. (lacht)
Mit dem Touren haben L.G. Petrov und Martin van Drunen ihr Engagement in verschiedenen Bands auch erklärt.
Ganz so ist es natürlich nicht. Ich finde den kreativen Prozess, ein Album zu schreiben, ebenfalls sehr wichtig. Aber trotzdem ist die Kombination von zwei Bands schon perfekt.
Du hast die Atmosphäre des THE LURKING FEAR-Albums „Out Of Our Voiceless Graves“ mit einem nebligen Friedhof bei Nacht verglichen. Wie würdest Du dann „To Drink From The Night Itself“ beschreiben?
Das stimmt, „Out Of Our Voiceless Graves“ hat ein klassisches Death-Metal-Feeling. (überlegt) Das gesamte Konzept vo „To Drink From The Night Itself“ handelt von Widerstand und Kunst. Für mich hat es etwas von einem alten griechischen Monument oder einem zehn mal fünf Meter großen Monumentalgemälde, das im Louvre hängt. Es ist kein großartiges, episches Gemälde, sondern versinnbildlicht eher etwas Schicksalhaftes. Die Symbolik ist auch nicht sofort einsichtig, sondern man benötigt gewisse Werkzeuge, um den Sinn dahinter zu interpretieren.
Das Textkonzept von „To Drink From The Night Itself“ basiert auf einem Buch des deutsch-schwedischen Schriftstellers Peter Weiss, „Die Ästhetik des Widerstands“. Wovon handelt es?
Es ist ein tausendseitiges politisches Buch, das in drei Teilen erschien. Es hat mehrere Ebenen. Das Buch handelt unter anderem vom Widerstand gegen den Faschismus in Deutschland, aber auch im Spanien der dreißiger Jahre. Aber das ist nur ein Teil devon. Zu einem anderen Teil ist das Buch hinsichtlich der handelnden Personen ein Entwicklungsroman.
Der Teil aber, auf den wir uns am meisten beziehen, handelt von Kulturgeschichte und davon, wie man Kunst interpretiert. In dem Buch wird unter anderem diskutiert, wie Kunst auf der einen Seite als Widerstand gebraucht werden kann, auf der anderen Seite aber auch als Werkzeug für Unterdrückung. Es wird diskutiert, wie wir klassische Kunstwerke interpretieren, sie verstehen und sie uns zu eigen machen, um unseren eigenen Platz in der Welt zu verstehen und daraus möglichst eine Veränderung zu erwirken. Es ist wie ein ständiger Kampf gegen den Abgrund der Gleichgültigkeit und der Gefühllosigkeit, wenn es darum geht, die moderne Welt zu erfahren.
AT THE GATES ist keine politische Band, und wir fokussieren uns in diesem Zusammenhang auch nicht auf etwas rein Politisches. Uns geht es um den Punkt des allgemeinen Widerstands. Das ist ein fast schon klassisches Thema, das auch abgehoben ist von einer reinen politischen Betrachtung. Man muss als Person nicht unbedingt links sein, um beispielsweise gegen Eliten zu sein.
Du hast das Buch gelesen – 1.000 Seiten – und hattest dann die Idee…
(unterbricht) Ich habe das Buch tatsächlich jetzt dreimal gelesen. Dazu noch die Notizbücher von Peter Weiss, die ebenfalls verlegt wurden. Es ist ein wahnsinnig inspirierendes Buch, und es verändert jedes Mal mein Verständnis von Kultur und beispielsweise der Frage der Solidarität. Wenn man darüber reflektiert, ist das Buch wie ein Spiegel, um zu verstehen, warum man so denkt, wie man denkt.
Wofür steht der Titel „To Drink From The Night Itself“?
Es ist eine Metapher. Sie beschreibt den Erschaffungsprozess, wie man als Künstler Emotionen, Eindrücke und Gefühle kanalisiert und zu Kunst verarbeitet. Verschiedene Emotionen, beispielsweise Melancholie oder Verzweiflung, dienen als Inspiration, werden verarbeitet und dann für den Hörer herausgelassen. Und der Hörer seinerseits interpretiert das Material ein weiteres Mal. Für diesen gesamten Prozess steht „To Drink From The Night Itself“ als Metapher. Die Nacht steht hier für die eher dunkle Seite des menschlichen Wesens, wir sind schließlich eine Death-Metal-Band.
Meine spontane Assoziation war, dass „To Drink From The Night Itself“ die Fortsetzung von „With Fear I Kiss The Burning Darkness“ ist.
Na ja, beide Titel entspringen ja derselben Bildsprache, aber zwischen beiden Platten liegen gute 25 Jahre. „With Fear I Kiss The Burning Darkness“ ist, wie soll man sagen, eher Teenager-Romantik.
Wie ordnest Du „To Drink From The Night Itself“ hinsichtlich des Vorgängers „At War With Reality“ ein?
„To Drink From The Night Itself“ kann als Reaktion auf „At War With Reality“ verstanden werden, das uns im tiefsten Inneren als ein wenig zu sicher, zu zugänglich erschienen ist. „To Drink From The Night Itself“ ist weder leichtverdaulich noch einfach zu verstehen. Wir haben wirklich hart an den Arrangements gearbeitet und versucht, ein möglichst dunkles, verzweifelt klingendes Album zu erschaffen. Ein Death-Metal-Album, das ein bisschen zurück zu den Wurzeln geht, aber auch die aggressiven Elemente enthält. Man soll sich als Fan nie zu sicher sein, was als Nächstes kommt. Unsere Fans verstehen auch, dass das immer ein wichtiger Punkt von AT THE GATES war. Wir haben weder Fahrstuhlmusik geschrieben noch über Satan gesungen. Wir haben unsere Fans und auch uns selbst gefordert. Das war nicht immer leicht, weil wir dadurch auch immer ein Stück weit unberechenbar waren.
Nochmal zum Stichwort ‚Widerstand‘: Wie wichtig ist es, in einer Welt, in der Populisten immer mehr Platz mit ihren Ideen einnehmen, Widerstand zu leisten?
Wir sind ja, wie gesagt, keine politische Band. Aber wir sehen schon das politische Klima derzeit. Wenn man Politik, Medien und Kultur betrachtet, ist schon ein Widerwille festzustellen, die Welt zu verstehen. Viele Leute wählen auf ihre Fragen einfache Antworten. Viele Menschen machen sich auch nicht die Mühe, eine eigene Meinung zu bilden, sondern konsumieren gleichwohl nur noch ein fertiges Konzept. Alles, was wir wollen, ist, dass die Leute ein bisschen aufwachen und genau hinsehen, verstehen, fühlen, anstatt immer nur zu konsumieren. Man muss halt selbst denken, anstatt nur einem fertigen Konzept zu folgen.
Ich habe den Eindruck, dass manche Leute das aber nicht wollen, dass sie ganz zufrieden sind mit ihrem Horizont.
Dabei liegt alles Wissen, liegen alle Fakten, alle Kultur so viel näher, als man denkt. Man kann sich so viel selbst beibringen. Heute ist Wikipedia nur ein Klick entfernt. Dort kann man sich ja über alles einlesen und einen vertieften Einblick in die Dinge bekommen. Du hast Dich ja auch im Vorfeld über Peter Weiss‘ Buch informiert.
Absolut.
Man findet das alles, auch unterschiedliche Ansichten und Standpunkte. Aber viele Leute machen sich die Mühe nicht. Jedenfalls fühlt es sich so an. Aber es gibt auch gute Gegenbeispiele: Ich war auf dem Roadburn 2017 zur Panel-Diskussion zum Thema „The Definition of Heavy“ eingeladen, ein Gespräch, das fast schon philosophisch ausfiel. Eine Erkenntnis war natürlich, dass zum Roadburn viele Leute kommen, die neue Bands kennenlernen möchten. Und es gibt Leute, die komplizierte Musik mögen, die sie herausfordert. Das ist vielleicht nur ein kleiner Prozentsatz, aber solche Leute gibt es ja auch.
Eine Bonusfrage: Ihr habt mit Jonas Björler und Jonas Stålhammar zwei Jonas‘ in der Band. Wie heißen sie innerhalb der Band?
Jonas Stålhammar war schon immer einfach ‚Stålis‘, insofern ist es einfach. Manchmal albern wir auch rum und nennen die beiden ‚J1‘ und ‚J2‘. Manchmal nennen wir Jonas Björler auch ‚JB‘, aber wenn wir Jonas sagen, meinen wir meistens Jonas Björler.
Danke für das Interview!