Angizia
Interview mit Michael Haas

Interview

Es gibt nur wenige Künstler, welche ihre Vision so konsequent und kompromisslos umsetzten wie die österreichische Ausnahmeformation ANGIZIA, welche soeben erneut in Eigenregie das neue Stück „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ veröffentlicht hat. Michael Haas erzählt im folgenden Interview sehr ausführlich, was es mit diesem Kokon auf sich hat.

Zwischen eurem neuen Werk „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ und eurem letzten Album „Ein Toter fährt gen Ringelspiel“ liegen inzwischen über 6 Jahre. Weshalb war es so lange still um ANGIZIA?

Nun, dafür gibt es mehrere Gründe. „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“ war eine extrem teure und aufwändige Produktion, die sehr viel Substanz und Energie gekostet hat. Wir haben damals in 4 verschiedenen Studios aufgenommen, und das Stück hatte eine Spielzeit von fast 80 Minuten. Andererseits wollte ich mich nach „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“ auch aus familiären Gründen (zunächst einmal auf unbestimmte Zeit) von eigenen Musikproduktionen und damit von ANGIZIA zurückziehen. Nach einigen Jahren an „musikalischer Entbehrung“ und zu einem Zeitpunkt, da das letzte Kapitel ANGIZIAs schon längst geschrieben schien, entschieden Emmerich Haimer und ich völlig spontan, an einem neuen ANGIZIA-Album zu arbeiten. Anfänglich wollten wir eigentlich bloß all den Bitten fanatischer ANGIZIA-Fans nachgeben und aus einer Laune heraus zumindest einen oder zwei neue ANGIZIA-Nummern für unsere Website entwickeln. Doch schon bald überkam uns der Tatendrang, und wir befanden uns mittendrin in der „Kompositionsphase“ für ein leidenschaftliches 6. ANGIZIA-Stück namens „kokon“.

In welchem Zeitraum entstand das neue Werk?

„kokon“ entstand in einem Zeitraum von etwa 2 Jahren, wobei eigentlich kaum ein Tag verging, an denen wir uns nicht mit irren und äußerst peniblen Details zum Plot, zum Konzept, zur Musik, den Proben & Illustrationen beschäftigt haben.

Musik, Stimmen und Lyrik gehen bei ANGIZIA stets Hand in Hand. In „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ erfahren wir eine schlichte Schachtel als wahrlich groteskes Szenenbild, der Hörer wird in die Abgründe eines Geschöpfs geführt, welches im Kokon darbt und verdirbt. Möchtest du vielleicht etwas näher auf die lyrische Basis von „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ eingehen?

„kokon“ verstand ich von Anfang an als passioniertes „Drama“, was grundsätzlich einmal bedeutete, dass wir uns doch gezielt von der bei Stücken wie „39 Jahre für den Leierkastenmann“ und „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“ angefochtenen Koinzidenz aus Komik und Tragik distanzieren wollten. Mir war wichtig, im Stück selbst mit einer völlig reduzierten, monochrom gehaltenen Schachtel eine „fesselnde“ Bühne zu haben, die den Fokus auf 3 Hauptfiguren lenkt. Der Homunkulus ist eine Kreatur, die geknebelt, ja unsäglich hässlich, „mit Gift genährt und in der Wolle eingesperrt“ an der Decke dieser Schachtel schlottert und von einer grotesken Spinnerin (der Frau Jansen) als eigenes Kunstwerk erschaffen wurde. Die Jansens verehren den Homunkulus und damit ein Ekel, das auf alle Betrachter abstoßend, irritierend und dennoch anziehend wirkt. Die Jansen speist den Homunkulus mit Gift und macht ihn zu Beginn des Stücks zum theatralischen Antihelden, der sich fortan treiben lässt, selbst nicht ins Geschehen eingreifen kann und als „lebendes Mahnmal“ der Jansens vor sich hin siecht. Herr Jansen wiederum ist ein barscher, knorriger, gewaltbereiter Hauptmann mit Uniform und Starterpistole (die Waffe selbst wird schlussendlich Mittel zum Zweck). Alles was der Hauptmann sagt, ist von unglaublicher Intensität. Er wirkt unschlüssig und kalt, sieht sich als Bewacher des „Kokons“ und stützt den Gedanken, diese schauderhafte Kreatur in einem als Kunstwerk verstandenen Kokon zu „konservieren“.

In Nebenrollen brauchte ich einen Erzähler (Herr Eismann), der Lakai des Hauptmanns ist, einen blinden Klavierspieler, eine Cellistin in der Nebenkammer, eine Bratschistin und einen Bohemien mit Kontragitarre und Erpel. Sämtliche Musiker sind Teil des Plots und so war – gerade hinsichtlich der Entwicklung der Dramaturgie des Stücks – bald klar, dass wir für dieses Album auf Instrumente wie Akkordeon und Klarinette verzichten müssen, um meiner eigenen Vorstellung des „Dramas“ voll und ganz gerecht zu werden. Ausgangsbasis für unsere Arbeit (im lyrischen und musikalischen Sinne) war ein prosaartig verfasstes „Stimmungsbild“, dass ich als Ausgangsszenenbild begriff und fast „kafkaesk“, ja bewusst verstörend und ohne darauf lyrisch vorzubereiten, in den Plot des Stücks einleitete. In weiterer Folge, nach dem ersten Drittel, mutiert der anfänglich passive „Antiheld“ zum Protagonisten des Stücks, ja zum „positiven Helden“. Dabei gebe ich dem Homunkulus „die Fäden in die Hand“ und er entwickelt seinen eigenen Plot. Er erkennt sich als Mime dieser Bühne, wächst in seinem „Ich“, greift immer aktiver in das Geschehen ein und bestimmt es schließlich ganz. Die Jansens verächtet er als seine Schänder. Er wandelt fortan mit schierem Drang zur Zerstörung, ja zur Selbstzerstörung als „negativer Held“ ins letzte Drittel des Stücks, um seine eigene Vergeltung voranzutreiben. Der Plot findet seinen Knalleffekt. Unbändige Leidenschaft. Ein Walzer. Viel Blut. Und zurück bleibt eine Schachtel ohne Hauptfiguren…und…darüber hinaus…über allem schwebend…die Musik.

Bitte beschreibe kurz die Charaktere des Dramas sowie ihre entsprechenden Sänger!

„Frau Jansen“ wurde gänzlich von Irene Denner interpretiert.

Ich selbst sang, flüsterte, schrie und sprach einen großen Teil der Librettostellen des Erzählers, des knorrigen Hauptmanns und der schauderhaften Kreatur/des Homunkulus‘.

Manche Rollen teilte ich mit Jochen Stock, der sowohl einige intensive Schreie des Homunkulus als auch Flüsterstellen bzw. „spoken word passages“ des Erzählers übernahm.

Rainer Guggenberger steuerte den Chorteil für „Maß für Maß“ bei.

Wie bist du auf diese Geschichte, dieses Drama mit der Idee des Kokons gekommen? Was hat dich hierzu inspiriert?

Im Grunde gab es weder jene offenkundige, ja verhaftete Inspiration noch einen wirklichen Beweggrund für den Plot selbst. Mich zieht generell alles Theatralische in seinen Bann. Filme, insbesondere Art- und Programmfilme, verschlinge ich mit schierer Intensität – generell inspirieren mich Filme weit mehr als „Musik“ oder „Literatur“. Ich betrachte viele Dinge und Szenen des täglichen Lebens sehr intensiv und nachhaltig, gerade auch Situationen, denen viele Leute keine Beachtung schenken. Die Nacht hält mich „gefangen“ und ist eigentlich unabdingbare Voraussetzung für meine lyrische und musikalische Arbeit. Was ANGIZIA anbelangt, arbeite ich fast ausschließlich nachts. Daher gönne ich mir selten mehr als 3 Stunden Schlaf. Wahrscheinlich ist es das, was mich lenkt…und in meinen bizarren Gedanken bin ich irgendwann selbst Inspiration genug.

Somit kann ich ruhigen Gewissens sagen, dass ich eines Tages das dringende Bedürfnis hatte, mit präziser Prosa ein erstes Stimmungsbild für „kokon“ aufzuschreiben. Es war exakt der Text, der auch im Booklet des Albums zu finden ist, und den ich fortan an Emmerich Haimer, Gabriele Böck (Illustration) und all die Musiker weiter gegeben habe. Zudem beschlossen wir ja im Grunde relativ kurzfristig, ANGIZIA wieder neu zu entflammen; daher entstand der Plot diesmal auch parallel, ja fast in Koinzidenz mit der Musik, was für die Entwicklung des ganzes Projektes ungemein wichtig war.

„kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ ist Drama durch und durch, ohne jegliche Komik, welche in den bisherigen Werken doch immer präsent war. Worin liegen hierfür die Gründe?

Das wollte ich so. „kokon“ sollte ein relativ kompaktes Werk mit einer ganz eigenwilligen, dramatischen Grundstimmung sein. Wir wollten ein eher „reduziertes“ Stück haben, dass sehr eindringlich, „von außen betrachtet“ aber auch gut überschaubar ist. Daher haben wir diesmal z. B.: auch schweren Herzens auf ANGIZIA-typische Instrumente wie Akkordeon und Klarinette verzichtet, um keineswegs irritierend zu wirken. „kokon“ ist ein Drama. Daher brauchten wir einen Konzertflügel, giftige Stimmen und ein schwermütiges Cello – keine virtuosen Klarinetten, keine Klezmersounds und keine überzeichnete Komik. Ich liebe Dramatik, bizarre und dramatische Plots. Das Drama ist die Königsdisziplin des Theaters. Nichts weckt mich im Moment mehr als das Drama. Mit komischen Elementen hat und hatte ANGIZIA immer etwas zu sagen – im Moment aber überwiegt der Pathos, das Drama, die Leidenschaft – irre Tragik und nicht Augen zwinkernde Komik.

Steckt hinter dem Werk auch eine Botschaft an den Hörer?

„Leid und Leiden…das ist Leidenschaft.“

Was stand dieses Mal zuerst, die Lyrik oder die Musik?

Es entstand beides nahezu gleichzeitig, das Stück/der Handlungsstrang/das epische Konzept immer etwas vorgezogen. Unmittelbarer Ausgangspunkt für alle Arbeitsschritte war das eben erwähnte Stimmungsbild, und damit die Grundlage des ersten Szenenbildes und der Figuren selbst. Darauf aufbauend entwickelten sich erste musikalische Fragmente, grundsätzliche Ideen für die Illustrationen und das dramatische Ende des Stücks.

Mit der Detailarbeit im Zuge meiner eindringlichen Arbeit am Gesamtkonzept entwickelten sich dann erste Kompositionen, zunächst noch von Emmerich Haimer und mir gemeinsam (z. B.: „Spindelgroll“, „Es ist Leidenschaft“, „Aus Traum und Tanz. Ein Walzer“), dann aber ausschließlich von Emmerich Haimer. Wir haben relativ rasch festgelegt, dass es für die Entwicklung von „kokon“ am besten wäre, da ja Stück und Musik nahezu gleichzeitig entstehen sollten, wenn ich mich selbst eher auf den theatralischen Teil, das musikalische Konzept und das Libretto konzentriere, und Emmerich auf die Komposition und die Partituren für all die Musiker.

In unzähligen Nächten schrieb ich schließlich an all den Einzelszenen, am Libretto und an den Szenenbildern, während Emmerich Haimer parallel dazu den Großteil der Musik komponierte und ausgeschriebene Melodiebögen auch direkt für die einzelnen Musiker vorbereitete. Nachdem ich schlussendlich Instrumente und Musiker festgelegt hatte und wir gemeinsam an den Arrangements der einzelnen Versatzstücke gearbeitet haben, ging es an erste Proben mit David Six (Piano) und Nadja Milfait (Cello). Zudem arbeitete ich fortan parallel dazu mit Irene Denner intensiv an all den Basisstellen des Librettos bzw. am Grundgerüst der erforderlichen Illustrationen, die Gabriele Böck schlussendlich in monochrome Bilder umsetzte.

In Sachen Musik hat sich auch so einiges geändert. So wurde auf Akkordeon und Klarinette verzichtet. Welche Unterschiede gibt es noch zu euren vorherigen Arbeiten?

Auf Akkordeon und Klarinette haben wir bei „kokon“ schweren Herzens verzichtet, obwohl wir für diese Instrumente eigentlich grandiose Musiker haben und sowohl das Akkordeon als auch die Klarinette unsere letzten beiden Alben musikalisch mitgeprägt haben. „kokon“ sollte aber ganz bewusst nicht so sehr opulent, sondern ausschließlich dramatisch sein, ja nicht zu irritierend wirken und nicht permanent zwischen Komik und Tragik jonglieren. Der Hörer sollte nicht das Gefühl haben, dass er beim Rezipieren des Stücks intentional vom Drama abgelenkt wird, indem wir pures Drama mit schrulligen Zirkusmusik- oder Klezmer-Sequenzen mischen. Gerade im Instrumentalbereich wollte ich ein melancholisches Cello, einen virtuosen Konzertflügel und eine bizarre Bratsche haben.

Zudem war von Anfang an klar, dass wir diesmal einige Versatzstücke mit Akustikgitarren, Kontragitarren und „Singender Säge“ zum Ausdruck bringen werden. Darüber hinaus ist bei „kokon“ – gerade bei den theatralischen Versatzstücken (den „spoken word passages“) – meine Stimme selbst ein wichtiges Stilmittel. Auch das Cello brauchte viel Raum. Bei ANGIZIA werden klassische Instrumente immer eine große Rolle spielen. Das Klavier wird ANGIZA-Stücke stetig dominieren. Was sich zu früheren ANGIZIA-Alben teils bewusst unterscheidet ist die Auswahl der Instrumente selbst (Cello, Bratsche, Kontragitarre, Singende Säge…).

Wie darf man sich das bei ANGIZIA vorstellen, geht ihr mit einem fertigen Konzept, fertigen Arrangements ins Studio, oder gibt es dort noch Platz für Improvisationen? Welchen Einfluss haben die einzelnen Protagonisten auf das Gesamtwerk?

Ausgangspunkt vor den ersten Proben und vor den Studioaufnahmen ist freilich immer unser „fertiges“, verbindliches (musikalisches) Konzept, weil wir ja ganz genau die Wechselwirkung von Plot und Musik im Auge behalten wollen. Im Großen und Ganzen haben wir fertige Arrangements, dennoch bleibt immer wieder Platz für Improvisationen. Gerade bei „kokon“ gibt es freie Soli von David Six (Flügel), Nadja Milfait (Cello) und Martina Engel (Bratsche). Großartige Musiker haben immer einen Einfluss auf ein musikalisches Gesamtwerk. Zudem klingen alle ANGIZIA-Sänger nonkonformistisch und unverwechselbar.

Arbeitest Du deshalb an Deinen musikalischen Werken auch mit so vielen, verschiedenen Musikern aus verschiedenen Stilrichtungen, weil Du die Kommunikation/Konfrontation mit anderen Menschen brauchst, da dies ja auch eine Menge kreative Energie freisetzt?

Nun ja, der wesentliche Beweggrund ist, dass wir all diese guten Musiker versammeln, um das Bestmögliche aus dem musikalischen Konzept herausholen zu können. Bei „kokon“ gab es generell eine intensivere Kommunikation zwischen allen oder sagen wir „vielen“ Musikern, weil wir z. B. auch Teile der Musik (Flügel, Cello, Stimmen) „live“, also gemeinsam, auf einer Bühne aufgenommen haben. Deshalb absolvierten wir auch vorab einige gezielte Proben, die auch jene kreative Energie freigesetzt hatten, von der du gesprochen hast. Ich selbst arbeite sehr gerne mit famosen Musikern; am intensivsten ist meine Zusammenarbeit immerzu mit Irene Denner, Emmerich Haimer, Jochen Stock und Gabriele Böck.

Was kannst du uns über die Aufnahmen berichten?

Für „kokon“ fällten wir die glückliche Entscheidung, im Studio unseres einstigen Pianisten Mario Nentwich aufzunehmen. Das war vor allem aus künstlerischer, aber auch aus tontechnischer Sicht die beste Voraussetzung, die wir für „kokon“ schaffen konnten. Mario weiß genau was ich will/was wir wollen, ist selbst professioneller Musiker und konnte alles, wirklich alles umsetzen, was wir für „kokon“ beabsichtigt haben. Wir hatten einen strikten Aufnahmeplan und haben eigentlich vom ersten Tag an grundgelegt, wie wir den Sound von „kokon“ haben wollen. Jeder Aufnahmeschritt, jede Aufnahmesequenz, jedes Detail war auf das Endziel ausgerichtet.

„kokon“ entstand im Wesentlichen in Mario Nentwichs Concrete Studio in Göllersdorf. Die gesamten Flügelaufnahmen, Cello und manche Stimmen haben wir für ganz bestimmte Versatzstücke der so wichtigen Intimität, ja der Dynamik und der Theatralik wegen Live – auf einer Bühne – in der LMS Vöcklabruck aufgenommen und später in unser Hauptstudio integriert. Manche Sequenzen mit Kontragitarre, Bratsche und meiner Stimme absolvierten wir Live im Studio von Mario Nentwich. Die Professionalität aller Musiker hat uns völlig entspannte, äußerst intensive und ausschließlich harmonische Aufnahmen beschert. Während ich die Gesamtleitung und im Besonderen die theatralische Leitung hatte, übernahm Emmerich Haimer die musikalische Leitung und kümmerte sich zudem auch um die adäquate Umsetzung der Partituren. Ich kann also ruhigen Gewissens von perfekten Aufnahmen sprechen, die in einem Zeitraum von ca. 6 Monaten entstanden sind.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen dir und Emmerich Haimer? Wie würdest du euer Arbeitsverhältnis und aber auch euer zwischenmenschliches Verhältnis umschreiben?

Mit Emmerich Haimer verbindet mich sehr viel. Wir haben seit 1998 äußerst intensiv und in perfekter Kooperation an den ANGIZIA-Stücken „Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“, „39 Jahre für den Leierkastenmann“, „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“ und nun eben an „kokon“ gearbeitet, aber auch schon gemeinsam einige Projekte mit Kindern, u. a. eben die Produktion von „Das Vögelchen“ realisiert. Er ist ein unglaublich versierter Musiker, der nicht nur verschiedene Instrumente, im Besonderen freilich A-Gitarre, E-Gitarre & Kontragitarre, aber auch Singende Säge, Cello… beherrscht, sondern auch relativ spontan zu allen möglichen und grundgelegten Ausgangsstimmungen äußerst durchdachte Klangbilder erzeugen kann.

Im Grunde weiß er immerzu perfekt umzusetzen, was ich bzw. auch er für ANGIZIA haben wollen und vertraut eigentlich relativ ungeniert auf mein mitunter eigenwilliges und stures Köpfchen. Genau das macht unsere Zusammenarbeit so reizvoll. Gerade was das Auskomponieren von Melodiebögen für ANGIZIA betrifft, kann sich Emmerich wirklich in jedes beliebige Instrument hinein denken, egal ob wir an einem virtuosen Klavierteil basteln, einen Walzer, einen Tango, ein Klezmersolo oder eine Polka brauchen, ob wir in klassischen, rockigen oder Jazz-Gefilden schwelgen, ob wir melancholische, sarkastische oder cholerische Temperamente suchen, ob es Klavierbegleitungen oder Streicherarrangements sein sollen.

Im Moment gehe ich davon aus, dass ANGIZIA – rein kompositorisch – nur in der Symbiose Haas-Haimer funktioniert. Während wir früher sehr viel gemeinsam komponiert haben bzw. uns die Kompositionsarbeit weitgehend aufgeteilt haben, sahen wir uns für „kokon“ in der Versuchung, die Arbeitsweise dahingehend zu ändern, dass ich selbst weniger komponiere und mich ausschließlich auf das Gesamtkonzept, die theatralische Leitung und das Libretto konzentriere, während Emmerich Haimer den Großteil der Melodiebögen auskomponiert. Was „kokon“ betrifft, haben wir garantierte 1000 Emails ausgetauscht, ja immerzu gemeinsam die Entwicklung des musikalischen Grundgerüstes für „kokon“ diskutiert. Wir arbeiten dabei auch äußerst selbstkritisch und setzen uns gerne hohe Ziele, was die musikalische Komponente ANGIZIAs anbelangt. Somit entsteht eigentlich immer wieder ANGIZIA, ANGIZIA und noch einmal ANGIZIA, aber mit einem permanenten Drang zu neuen Klangbildern.

Längst sind wir auch sehr gute Freunde geworden und haben viele Entscheidungen für „kokon“ gemeinsam getroffen. ANGIZIA wäre ohne dieses perfekte Teamwork, das mich übrigens auch mit Irene Denner verbindet, die ihrerseits z. B. sehr viel für die Visualisierung ANGIZIAs beiträgt, undenkbar.

Bereits „39 Jahre für den Leierkastenmann“ erschien über euer eigenes Label namens Medium Theater. Was waren die Gründe für ein eigenes Label?

Ich bin sehr froh darüber, dass wir mit ANGIZIA völlig kompromisslos und unabhängig von irgendwelchen Labels und Vorgaben arbeiten können, weil wir im Rahmen unserer Möglichkeiten jede Entscheidung selbst treffen können. Klar haben wir nicht jene Label-Ressourcen, die manchen Bands opulente Tourneen oder überteuerte Deluxe-Editions eröffnen, doch alles was wir für die Vermarktung ANGIZIAs tun ist idealistisch, seriös und höchstprofessionell, ohne dafür im Einklang mit eigenartigen Labelentscheidungen stehen zu müssen.

Seit 2001 veröffentlichen wir sämtliche ANGIZIA-Alben auf unserem eigenen Label Medium Theater. WIR bestimmen, was wir tun. WIR bestimmen, was wir veröffentlichen. WIR bestimmen wie ANGIZIA nach außen dargestellt wird. Es gab zwar immer wieder, auch jetzt vor „kokon“, Gespräche mit – aus unserer Sicht – interessanten größeren Labels, die vom Profil her gut zu ANGIZIA gepasst hätten, doch gerade die Ergebnisse dieser Gespräche waren schlichtweg enttäuschend, derlei schal und plakativ und im negativen Sinne dennoch relativ aussagekräftig.

Natürlich war es, gerade zu Zeiten von „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“, alles andere als einfach, independent zu sein, und dennoch derlei aufwändige Produktionen zu betreiben. Im Grunde war es ein Höllenritt. Aber wir haben das gemeistert und sind nun stolz darauf, ohne jegliche Labelunterstützung mehrere tausend CDs in mehr als 60 unterschiedlichen Ländern dieser Erde verkauft zu haben. Für mich persönlich gibt es nur ANGIZIA, keine anderen Projekte. Wir brauchen kein spezielles Labelprofil. Auf Medium Theater erscheint nur ANGIZIA, sonst nichts.

„Ein Toter fährt gen Ringelspiel“ war auf lediglich 1000 Einheiten limitiert. Ist auch „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ limitiert?

Nein, „kokon“ ist nicht auf eine bestimmte Stückzahl limitiert. Es wird noch lange Zeit erhältlich sein.

Nonkonformismus ist ein Wort, das eigentlich ganz gut ANGIZIA beschreibt. Weitere Worte wären schräg, unangepasst, unkonventionell, exzentrisch, passioniert. Mit welchen Worten würdest du selbst ANGIZIA umschreiben, und wie kommt man eigentlich dazu, so etwas zu erschaffen?

Ich glaube, wir haben das Glück, dass wir frei aus unserem Musikempfinden heraus etwas entwickeln können, was unterm Strich immer nach ANGIZIA klingt. ANGIZIA ist also nonkonformistisch, weil uns die Allgemeinheit nicht interessiert. Wir sind unangepasst, weil wir uns nirgendwo anpassen. ANGIZIA ist „schräg“ und „exzentrisch“, weil wir das so wollen. Und es klingt passioniert, weil wir in allem Tun für ANGIZIA unsere Leidenschaft zum Ausdruck bringen. Was mich aber am meisten freut ist, dass wir ohne große, übernatürliche Anstrengungen, sondern frei der eigenen Feder, dem eigenen Treiben, dem eigenen Wollen folgend immer etwas erschaffen können, was ohne Zweifel erhaben nach ANGIZIA klingt – ganz egal ob man 10 Sekunden davon hört oder das komplette Album. ANGIZIA ist sozusagen der unbeeinflussbare Garant dafür, dass ein neues Album trotz einer steten Weiterentwicklung, trotz fortwährender Qualitätsverbesserung und trotz jener kühnen Suche nach neuen Facetten und Einflüssen immer noch nach ANGIZIA klingt. Zudem bilden Musik, Stück/Plot und Illustrationen immer eine Einheit.

Welchen Einfluss hatte Franz Kafka auf dich als Person und auf deine Werke?

Kafka hatte in all den Jahren keinen nennenswerten, ja gar keinen Einfluss auf ANGIZIA, auch nicht auf „kokon“. Klar kenne ich Kafkas Werke. Ich mag v. a. auch Kafka-Verfilmungen wie „Der Prozess“ von Steven Soderbergh oder „Das Schloss“ von Michael Haneke. Erst unlängst wurde ich mal gefragt, ob ich „kokon“ als postmoderne Inszenierung von Kafkas „Verwandlung“ verstehe, doch „kokon“ hat mit Kafkas Meisterwerk überhaupt nichts zu tun, ausschließlich die möglicherweise ähnliche, animalische Selbstwahrnehmung von Gregor Samsa und dem Homunkulus (zum Beginn des Stücks) und eine ähnliche, kunstgerechte „Metamorphose“ lassen vielleicht darauf schließen. Allerdings mutiert bei „kokon“ vielmehr der Anthiheld zum „negativen Helden“ als die Kokonkreatur zu einem fertigen Biest.

Rein literarisch betrachtet mag ich Handke, Jelinek und Canetti mehr als Kafka. Als Cineast sehe ich mich immer mehr von Filmen und auftretenden Stimmungen beeinflusst als von Schriftstellern. Was mir aber an Kafka-Werken imponiert ist das „Nicht erklären“ von Sachverhalten und inhaltlichen Begebenheiten. Kafka schafft Situationen, erklärt aber meist nicht, wie diese entstanden sind. Vielleicht ist das etwas was „kokon“ auch ausmacht. Weder weiß man, wo die Schachtel steht, noch wie die Kreatur in den Kokon gekommen ist. Gerade diese bewusste „Zurückhaltung“, ja jene seriöse „Verschwiegenheit“, macht eine Handlung spannend und ist v. a. einem Drama mehr als bekömmlich.

Wie sehr bist du selbst mit „kokon. Ein schaurig-schönes Schachtelstück“ zufrieden? Wie fühlst du dich, da nun das Werk veröffentlicht wurde? Und gibt es schon erste Reaktionen hierauf von Dritten?

„kokon“ ist das was ich wollte, und wofür ich äußerst intensiv gearbeitet habe. Die Reaktionen auf „kokon“ sind bislang ausschließlich überschwänglich.

ANGIZIA regen meiner Meinung nach auch die Fantasie des Hörers an. Denkst Du, dass die Fantasie in der heutigen Gesellschaft zu kurz kommt?

Ganz bestimmt kommt die Fantasie in der heutigen Gesellschaft zu kurz – aus verschiedenen Gründen. Alles wird von den Medien grundgelegt. Kinder lesen zu wenig und sehen zu viel fern. Viele Dinge, die unsere Gesellschaft prägen, sind völlig uninspiriert. Die Popkultur wird immer trivialer und Leute, die sich ernsthafte Gedanken machen werden sarkastisch als „Philosophen“ bezeichnet. Es wäre schön, wenn wir mit unseren Stücken die Fantasie des Hörers anregen können. Jeder kann sich z. B. selbst ausmalen, wie er sich bestimmte Figuren, etwa die protagonistische Kreatur von „kokon“, den Homunkulus, vorstellt – deshalb haben wir manche Charaktere, aber auch Szenen bei kokon“ monochrom gehalten, ohne Farbgebung und auch nicht detailliert dargestellt. Es bleibt immer noch „Raum“ für eigene Fantasie. Gerade die intimen Sprechteile von „kokon“ sollen dem Hörer das Wesen der Protagonisten näher bringen, aber nicht ohne als Konsument auch gefordert zu bleiben.

ANGIZIA betrachte ich mitunter auch als moderne Form des Hörspiels, weil wir auch immer wieder epische Sprechteile integrieren und auf mehreren Ebenen Geschichten erzählen, die – wie du sagst – auch die Fantasie anregen. Man schaltet nicht nach jeder Nummer gedanklich ab, um 2 Sekunden später etwas komplett anderes zu hören, sondern hat auch bei der 3., 4., 5., und 6. Nummer immer noch die Figuren des Titelstücks im Kopf. Das unterscheidet uns von Alben, bei denen es weder ein textliches Konzept noch inhaltliche Stränge gibt. Das Rezipieren des Stücks, sprich das Hören der Musik – gemeinsam mit dem Libretto – sollte die Fantasie des Hörers anregen. Darüber hinaus habe ich meine Texte diesmal so angelegt, dass sie auch außerhalb der erzählten Geschichte symbolisch wirken.

Bisher gab es von ANGIZIA keine Konzerte. Worin liegen hierfür die Gründe, und besteht eventuell doch einmal die Möglichkeit eines Auftritts?

Nun, wir hatten immer wieder internationale Konzertangebote, aktuell z. B. aus Buenos Aires, Mexico/City und Moskau, also aus Städten und Regionen, in denen ANGIZIA einen sehr hohen Stellenwert hat. Grundsätzlich schließen wir Konzerte nicht aus. Zum Einen ist es jedoch sehr schwierig, ja fast unmöglich, alle ANGIZIA-Musiker gemeinsam in einen Proberaum bzw. auf eine Bühne zu bringen, da wir es sonst gewohnt sind, in anderen Strukturen (ja auf Studiobasis) zusammenzuarbeiten. Alleine unsere Studioaufenthalte sind manchmal schon logistische Herausforderungen.

Dann hängt auch immer viel von der tatsächlichen Finanzierbarkeit ab. Immerhin sind wir in Vollbesetzung mindestens 10 Musiker. Die letzten beiden Monate hatte ich intensive Gespräche bezüglich der Organisation etwaiger Südamerika-Konzerte. Daher weiß ich nur allzu gut, wie viele Details da zu beachten sind. Es kommt wie es kommt, aber nachdem wir allesamt mit unserer verfügbaren Freizeit „haushalten“ müssen so gut es geht, stehen uns intensiv vorbereitete Studioalben immer näher als aufwändige Konzertplanungen.

Inwieweit sind ANGIZIA überhaupt noch Teil der Metalszene bzw. fühlst du dich zu dieser Musikszene überhaupt irgendwie hingezogen?

Rein musikalisch betrachtet zählen wir uns freilich bei weitem nicht zur Metalszene. Das muss man klar abstecken. Allerdings sind gerade die allermeisten unserer Hörer auch Metalfans und somit befindet sich ANGIZIA auch immer wieder im Dunstkreis der Metalszene. Ich selbst höre eher weniger Metal und fühle mich auch nicht wirklich zu dieser Musikszene hingezogen. Aber ich habe sehr viele Freunde, die unmittelbar mit der Metalszene verwurzelt sind und auch in dieser existieren. Für viele Metalfans ist ANGIZIA eine willkommene Abwechslung. Aktuell haben wir z. B. eine Konzertanfrage aus Moskau, in der größten Metallocation der Stadt. Das zeigt auch, dass man in der Metalszene bewusst in Kauf nimmt, dass ANGIZIA alles ist – nur keine Metalband.

Zumindest teilweise findet ANGIZIA ja auch in der Metalpresse statt, mit welchen anderen Medien arbeitet ihr zusammen?

ANGIZIA bewegt sich eigentlich völlig autark, in und zwischen allen denkbaren Genres. Erst kürzlich habe ich gehört, dass eine 86-jährige Argentinierin großer ANGIZIA-Fan ist. Ein japanischer Pop-Star wiederum kam extra mit dem Flugzeug zu unserer Listeningsession nach Wien. Ich weiß, dass viele unserer Fans mittelalterliche Musik hören, manche haben überhaupt keinen Zugang zu Metal, andere wiederum lieben Metal und ANGIZIA gleichermaßen. Wir haben keine bestimmte Zielgruppe. Aber unsere Fans sind allesamt extrem fanatisch und genau das gibt uns jene Intensität zurück, die wir selbst in „kokon“ investiert haben.

ANGIZIA findet ganz bestimmt in der Metalpresse statt, aber egal ob argentinische Radioshows, tschechische Kulturplattformen, deutsche Undergroundportale, Metalmagazine aus Südamerika… ANGIZIA hat einen Stellenwert und ein Stammpublikum, das wiederum in ihrem Wunsch, ANGIZIA-CDs zu kaufen, an nichts und niemanden mehr angewiesen ist als auf ANGIZIA selbst. Die Hochkultur, das Musiktheater, das Metalgenre, die Klassik, die Gothic-Szene – ANGIZIA hat überall dort seinen Platz, wo erkannt wird, welch Leidenschaft, Intensität und generell Qualität in diesem unkonventionellen Musikschaffen steckt. Mittlerweile polarisiert ANGIZIA auch weniger als früher und findet generell eine breitere Akzeptanz, zumindest in bestimmten Breiten.

Ich habe gelesen, dass du gerade wieder an einem neuen Stück arbeitest. Kannst du uns hierüber bereits etwas verraten?

Ja, ich arbeite derzeit am Plot für ein neues ANGIZIA-Stück, allerdings lässt sich dazu noch wenig Konkretes sagen. Geplant ist ein mondäner, verdrießlicher, lebhafter, ja vorwiegend grimmiger Alpen-Thriller im idyllischen, aber auch engstirnigen Bergbauernmilieu. Da steckt eine unglaubliche Wucht dahinter, v. a. was die Tiefe und den Abgrund einzelner Figuren betrifft. Das Libretto wird möglicherweise auch recht widerspenstige Charaktere mit einem interessanten altpoetischen Kunstdialekt beherbergen. Genau das reizt mich sehr – das nostalgische Bauernmilieu als dramatische Kunstform mit ANGIZIA typischen Stilmitteln. Es riecht nach einem blutrünstigen Drama in den Bergen. Keineswegs verirren wir uns da in klobigen, grobschlächtigen „Mistgabeldialogen“, verträumten Pferdekutschenfahrten oder filmreifen Kuhweidenromanzen a la Peter Rossegger. Nein, nein… ANGIZIA wird den Bergen „Thrill“ und Leben einhauchen.

Vielen Dank für das Interview! Die letzten Worte gehören dir!

Markus, vielen lieben Dank für deine Unterstützung, das unfangreiche Interview und deine Wertschätzung ANGIZIA und „kokon“ gegenüber. Ein herzliches Dankeschön an all unsere Fans, insbesondere an jene, die uns gerade in diesen Tagen ihre unbändige Freude über „kokon“ mitgeteilt haben.

26.02.2011

Geschäftsführender Redakteur (stellv. Redaktionsleitung, News-Planung)

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