Alcest
Nach vorne in die Vergangenheit
Interview
Knapp fünf Jahre nach „Spiritual Instinct“ haben ALCEST jüngst ihr siebtes Studioalbum „Les Chants De L’Aurore“ veröffentlicht. Damit holten sie – schon wieder – Platz eins unseres Soundchecks. Mastermind Neige spricht im Interview über die Inspiration hinter dem Album, was ein Rasenmäher mit den Aufnahmen zu tun hat, und über seine Leidenschaft für Japan.
Hi Neige! Wie läuft es gerade so kurz vor der Veröffentlichung des Albums?
Neige: Wir haben das Album schon vor einer Weile fertiggestellt und mussten etwa sechs Monate auf die Veröffentlichung warten. Daher herrscht Vorfreude. Wir haben auch die Singles veröffentlicht. Es ist eine Menge Arbeit. Die Leute können sich nicht wirklich vorstellen, wie viel Arbeit es ist, selbst nachdem man das Album fertig hat. Zurzeit gebe ich jeden Tag Interviews. Es ist lustig, weil Musiker:innen wie ich oft gerade deshalb Musik machen, weil wir Schwierigkeiten haben, über unsere Gefühle zu sprechen. Dann steht das Album kurz vor der Veröffentlichung und wir werden gebeten, viele Interviews zu geben.
Aber insgesamt war es großartig. Wir sind wirklich zufrieden mit dem Feedback bisher; die Leute scheinen die neuen Songs zu mögen. Wir können es kaum erwarten, das Album zu veröffentlichen. Wir haben so hart daran gearbeitet und uns selbst so viel Druck gemacht. Jetzt wollen wir nur, dass es rauskommt und wir nicht mehr warten müssen.
In einem Interview vor vier Jahren haben wir über das Schreiben neuer Musik gesprochen, und du hast erwähnt, dass du dich zu der Zeit nicht sehr inspiriert gefühlt hast. Es sind fast fünf Jahre seit dem letzten Album vergangen, die bisher längste Pause zwischen Veröffentlichungen. Welche Gründe gab es?
Neige: Es gab viele Gründe. Erstens, als die Coronazeit anfing, waren wir schon seit etwa zehn Jahren fast ununterbrochen auf Tour. Wenn wir nicht auf Tour waren, haben wir Musik geschrieben oder waren im Studio. Ich war wirklich erschöpft, sowohl körperlich als auch geistig. Ich habe den Kontakt zu meiner inneren Welt und meiner Inspiration verloren. Deshalb war „Spiritual Instinct“ so düster. Ich war frustriert und konnte keine Verbindung zu der magischen anderen Welt, die ich in mir trage, herstellen.
Während Corona kam alles zum Stillstand und ich war gezwungen, zu Hause zu bleiben. Es dauerte etwa ein Jahr, bis ich mich erholt hatte. Ich habe mehr Zeit mit meiner Familie verbracht und Dinge gemacht, die nichts mit Musik zu tun hatten. Wie zum Beispiel meinen Führerschein zu machen. Es ist albern, aber es war nötig und Corona war eine gute Gelegenheit dafür. Es hat mir geholfen, ALCEST eine Weile zu vergessen, was gut war. Danach habe ich mich erfrischt gefühlt und war bereit, ein neues Kapitel zu beginnen. Ich habe mich gefragt, was ich wirklich mit diesem Projekt machen wollte und habe erkannt, dass ich zum ursprünglichen Konzept der ersten ALCEST-Alben zurückkehren wollte. Nämlich über diese andere Welt zu sprechen und die Menschen an einen besseren Ort zu transportieren. Deshalb ist „Les Chants De L’Aurore“ so harmonisch und erhebend.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich wieder inspiriert war, aber ich denke, das war gut. Außerdem wird das unser siebtes Album. Wir sind keine junge Band mehr; wir machen das schon seit über 20 Jahren. Mein Albtraum wäre es, eine dieser Bands zu werden, die nur ein paar gute Alben herausbringen und dann die Inspiration verlieren. Deshalb möchte ich mir die Zeit nehmen, die ich brauche; egal ob es drei Jahre, fünf Jahre oder sogar zehn Jahre sind. Das Einzige, was zählt, ist, gute, echte und inspirierte Musik zu machen. Man kann nicht alle sechs Monate ein Album herausbringen und erwarten, dass es großartig ist.
Galerie mit 28 Bildern: Alcest - Spiritual Instinct Tour 2020 in BerlinObwohl du gesagt hast, dass du zu den Wurzeln zurückgekehrt bist, gibt es ein paar neue Dinge, die ich musikalisch entdeckt habe. Was glaubst du, wird die Fans am meisten überraschen?
Neige: Ich denke, die größte Überraschung wird die Vielfalt der Songs sein. Keiner der Tracks klingt wie der andere. Wir haben einen acht Minuten langen Metal-Track, und dann haben wir „Flamme Jumelle“, die zweite Single, die mehr ein Dream-Pop-Song ist. Es gibt „Réminiscence“, das fast nur aus Klavier und Gesang besteht. „L’Adieu“ fühlt sich an wie aus einem Film. Dieses Album ist wirklich vielfältig und ziemlich komplex. Es braucht ein paar Hördurchgänge, um alles vollständig zu erfassen, weil es so viele Details hat. Ich denke auch, dass es ein bisschen wie eine Zusammenfassung unserer Karriere ist. Es hat Elemente von unseren allerersten Alben sowie einige modernere Einflüsse von unseren letzten beiden Alben. Aber es hat definitiv seine eigene Persönlichkeit. Es ist nicht nur eine Compilation; es hat eine sehr starke Identität.
Ihr habt das Album selbst aufgenommen – Zitat – „wie in den 70ern“. Wieso habt ihr euch dafür entschieden?
Neige: Wenn du ins Studio gehst, hast du nur begrenzt Zeit. Vielleicht zwei oder drei Wochen. Das fanden wir in der Vergangenheit frustrierend, weil wir immer viele verrückte Ideen haben und mit verschiedenen Mitteln und Arrangements experimentieren wollen. Aber wir hatten nie genug Zeit dafür. Also haben wir uns dieses Mal entschieden, unsere eigene Ausrüstung zu kaufen. Wir haben uns ein Sound-Interface und eine Menge Mikrofone besorgt und es einfach selbst gemacht. Wir haben uns für ein paar Monate in ein Haus eingeschlossen und das Album auf diese Weise aufgenommen. Es hat wirklich Spaß gemacht, weil wir die Freiheit hatten, Entscheidungen zu überdenken und uns die Zeit zu nehmen, die wir für Experimente gebraucht haben.
Gab es auch Pannen?
Neige: Oh, natürlich. Es gab viele Dinge, die schief gelaufen sind, weil es das erste Mal war, dass wir das selbst gemacht haben. Zum Beispiel haben wir viele sehr leise Instrumente aufgenommen, wie einige sehr sanfte Gesangsparts und ein Streichinstrument, das ähnlich wie ein Cello klingt. Dafür brauchst du absolute Stille. Deshalb gibt es Aufnahmestudios – sie bieten Isolation. In einem großen Haus hast du alle möglichen Geräusche von drinnen und draußen.
Es gab Zeiten, in denen wir nicht aufnehmen konnten, weil es zu laut war. Mit Leuten, die den Rasen gemäht haben, vorbeifahrenden Autos oder jemandem, der rumgeschrien hat. Wir hatten auch viel Druck, weil wir nicht wussten, ob wir es richtig hinbekommen würden. Wir haben vor, das wieder zu machen, aber wir werden wahrscheinlich jemanden dazuholen, der bei den technischen Aspekten hilft und frische Ohren mitbringt. Manchmal, wenn nur die Band aufnimmt, verliert man die Objektivität.
Mit den Experimenten, die du beschrieben hast, wie haben sich die Songs verändert? Sind sie so geworden, wie du es dir am Anfang vorgestellt hattest?
Neige: Naja, sie werden leider nie genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich bin nie wirklich zufrieden mit den Dingen. Ich bereue bei allen unseren Alben etwas. Es ist lustig, weil ich mir dieses Mal vorgenommen hatte, nichts zu bereuen, aber natürlich tue ich es trotzdem. Da kann man nichts machen. Ich denke, wir sind alle ein bisschen verrückt, und ich bin wirklich ein Perfektionist. Ich könnte so viele Anpassungen an einem Song vornehmen, dass wir am Ende nicht mehr wüssten, ob er nun besser oder schlechter ist. Im Vergleich zu den Demos sind die Songs viel arrangierter, mit verschiedenen Instrumenten und Arrangements, aber abgesehen davon haben sie sich nicht allzu sehr von den ursprünglichen Ideen entfernt.
Mir ist ein größerer Einfluss japanischer Elemente aufgefallen – nicht nur die ganz offensichtlichen, sondern auch einige Melodien, wie in „Améthyste“.
Neige: Oh, du hast die japanischen Melodien bemerkt? Ja, du hast völlig recht. Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand bemerken würde, also hast du ein gutes Ohr. Die Melodien in „Améthyste“ haben definitiv etwas Asiatisches. Es hat eine Stimmung, die aus einem Anime oder einem Ghibli-Film stammen könnte. Japanische Kultur, Musik, Anime, Manga – all diese Einflüsse sind so präsent in mir. Ich bin damit aufgewachsen, seit ich ein kleines Kind war und war immer in Kontakt mit der japanischen Kultur. Manchmal sage ich zu meinen japanischen Freund:innen, dass ich mich fühle, als sei ein Teil von mir selbst japanisch, weil ich so tief in diese Kultur eingetaucht bin. Sie ist ein Teil meiner Identität geworden, und man kann es in der Musik hören. Ich denke nicht, dass das in der Metalszene sehr verbreitet ist.
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Band | |
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Stile | Post-Black Metal, Post-Metal, Shoegaze |
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