Alcest
Interview mit Neige zu "Écailles De Lune"
Interview
ALCEST laden mit ihrem neuen Album „Écailles De Lune“ erneut zum Träumen ein und betören mit emotionalen, besinnlichen Klanglandschaften. Kreativer Kopf von ALCEST und Multiinstrumentalist Neige sprach mit metal.de über seine spirituelle Erfahrung, die er mit ALCEST musikalisch zu verarbeiten versucht, über sein Heimatland Frankreich und darüber, dass Politik und Musik nichts miteinander zu tun haben sollten.
Salut Neige! Ça va?
Hallo! Ich bin noch etwas müde, denn ich bin ja gerade erst zurück von der ersten Live-Show mit ALCEST, die in Bukarest stattgefunden hat, aber ansonsten geht’s mir sehr gut. Danke! An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal ganz herzlich allen danken, die diese Show ermöglicht haben, und auch den Leuten, die uns gesehen und unterstützt haben.
Während „Souvenirs D’un Autre Monde“ mit einer glücklichen, fast schon unbekümmerten Atmosphäre spielt, die sich auch in der Farbe des Albums, nämlich dem Grün wiederspiegelt, klingt „Écailles De Lune“ sehr viel erwachsener. Die auf diesem Album erschaffene Atmosphäre macht neugierig. Als Farbe verwendest du Blau, das für Unendlichkeit und Vertrauen steht. Wie wichtig sind dir visuelle Konzepte? Hast du manchmal auch Farben im Kopf, während du an deiner Musik arbeitest, oder ist das etwas, das du erst später zum Gesamtbild hinzufügst?
Du hast die Unterschiede zwischen diesen beiden Alben gut erkannt. Es ist in der Tat so, dass wenn ich an einem Song arbeite, ich auch bereits bestimmte Farben, Bilder oder abstrakte Formen in meinem Kopf habe, die letztendlich zu den Melodien passen, die ich spiele. Bei „Écailles De Lune“ hatte ich ein Dunkelblau, Violett und ein gewisses gold-gelbes Funkeln im Kopf. Visuelle Aspekte sind für ALCEST sehr wichtig, denn ich betrachte dieses Projekt als eine künstlerische Einheit. ALCEST, das ist mehr als Musik. Bilder und Wörter stehen für ein Gesamtkonzept, eine gemeinsame Idee, und ich versuche einen logischen Zusammenhang aus jedem dieser Aspekte zu bilden. Nichts, weder die Musik an sich, noch das Artwork oder die Verpackung der CD, ist entstanden, ohne dass ich mir tiefgehende Gedanken darüber gemacht habe.
Im Vorfeld zu „Souvenirs D’un Autre Monde“ konnte man lesen, dass du als Kind sehr oft von einer Art Märchenwelt geträumt hast, und dass du die Erinnerungen an dieses Land mit ALCEST musikalisch noch einmal auf- und erleben lässt. Wie wichtig, denkst du, sind Fantasien ganz allgemein, vor allem hinter dem Gesichtspunkt, dass die Realität ganz anders sein kann…?
Es finden sich weder Fantasien noch irgendwelche Märchenwelten in ALCEST, das ist ein ganz großes Missverständnis, das ich hier und jetzt definitiv ausräumen möchte. ALCEST ist für mich ein Weg, eine esoterische, spirituelle Erfahrung während meiner Kindheit musikalisch aufzuarbeiten. Wir sprechen nicht über irgendwelche Hirngespinste, sondern über ein Ereignis, das tatsächlich passiert ist und großen Einfluss auf mein Leben hatte! Ich hatte als Kind häufig Visionen und Erinnerungen von einem Ort, der definitiv nicht hier auf dieser Erde zu finden ist. Diese Dinge, die sich plötzlich in meinem Kopf manifestierten, konnte ich sehr genau beschreiben, ähnlich wie „echte“ Erinnerungen. Diese Bilder in meinem Kopf waren unbeschreiblich schön und alles – Bäume, Lichtungen, Bäche -, alles erzeugt einen strahlenden Glanz. Ferne, himmlische Musik schwebt in der Luft wie Parfüm. An diesem Ort wandert der Geist fernab seiner sterblichen Hülle und seiner fünf Sinne. Ich habe diesen Ort also auch ganz anders wahrgenommen, als es überlicherweise der Fall ist. Dort fühlt man weder moralische noch körperliche Leiden, Krankheiten oder Ängste, und man ist umgeben von einem Gefühl des Friedens und einer unbeschreiblichen Ekstase. Dieser himmlische Ort ist von Wesen aus Licht bewohnt, die unendlich gütig und beschützend wirken. Sie kommunizieren mit dir direkt, mit deiner Seele, in einer „Sprache“ jenseits von Worten. Diese Erinnerungen werden immer ein Teil von mir sein. Ich mag älter werden, aber diese Erfahrung bleibt.
Ich habe das Gefühl, irgendwie ein Stück weit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ in deinen Ausführungen bzw. in ALCEST zu erkennen. Hast du diesen Film jemals gesehen?
Aber ja, ich habe diesen Film gesehen und ich liebe ihn. Tatsächlich finden sich einige Parallelen zwischen diesem Film und der Musik von ALCEST. Darüberhinaus habe ich Yann Tiersen’s Arbeiten aufgrund dieses Films – wie viele andere Leuet auch – für mich entdeckt. Er ist einer dieser Musiker, die großen Einfluss auf mich hatten. Es ist schon beeindruckend, wie „Amélie“ und Songs von Yann Tiersen zusammenpassen… Ich glaube ich habe vorher noch nie eine solche Symbiose zwischen Kino und Musik erlebt… Faszinierend!
Lass uns wieder zurück zur Musik kommen. Zumindest in der Vergangenheit hattest du mehrere Projekte, an denen du zur gleichen Zeit mitgewirkt hast. Weiß man da eigentlich instinktiv, für welches Projekt eine bestimmte Idee am besten passt? Ist es schwierig, seine eigenen kreativen Gewohnheiten zu sezieren?
Mittlerweile bin ich ja nicht mehr mit so vielen Projekten beschäftigt. Im Moment arbeite ich ausschließlich mit ALCEST und LANTLÔS. Als ich noch mit AMESOEURS gearbeitet habe, habe ich häufiger darüber nachgedacht, für welches Projekt ich ein Riff oder einen Song verwenden könnte. AMESOEURS war übrigens ebenso dunkel und pessimistisch, wie ALCEST auf höherer Ebene ätherisch ist. Mit Ausnahme der Musik selbst, die unverkennbar meine Handschrift trägt, wirken diese Projekte also genau entgegengesetzt.
Inwiefern hat eigentlich dein Heimatland Frankreich deine Art und Weise Musik zu machen beeinflusst? Denkst du, dass deine Musik ganz anders klingen würde, wenn du in einem anderen Land aufgewachsen wärst?
Das ist eine sehr interessante Frage, die aber nur schwer zu beantworten ist… Viele Leute behaupten, dass französische Musik und französisches Kino zum Beispiel unschwer zu erkennen ist… Tatsache ist, dass einige Aspekte der französischen Kultur, Romantik und die Schönheit des Landes durchaus auf mich abgefärbt haben, genauso wie ganz besonders französische Schriftsteller wie Baudelaire, Maupassant und Verlaine zum Beispiel auch Einfluss auf mich hatten. Wenn ich also in einem anderen Land aufgewachsen wäre, würde ALCEST deshalb sicherlich auch anders klingen, aber wie sehr anders, das kann ich nicht beantworten. Vermutlich hätte ich ALCEST ganz bestimmt auch ähnlich konzepiert.
Ich habe mal gelesen, dass du DRUDKH ganz besonders gern magst. Ich gehe auch davon aus, dass du dir über den kontroversen Aspekt dieser Band bewusst bist. Denkst du, dass politische Ansichten von Musikern persönlich bleiben sollten? Oder um diese Frage zu präzisieren: Bist du der Meinung, dass in solchen Fällen politische Ansichten separat zur Musik betrachtet werden müssen, vor allem, wenn die Texte jeglichen Hinweis auf eine bestimmte politische Gesinnung verwehren?
Ich mag DRUDKH sehr, ja, und Roman Sayenko ist ein guter Freund von mir. Wir haben viel Respekt voreinander und bewundern die musikalische Arbeit des anderen. Ich wusste bis jetzt ehrlich gesagt gar nicht, dass da irgendwelche Kontroversen existieren. DRUDKH hat absolut nichts mit irgendwelchen politischen Ansichten, Aussagen oder dergleichen zu tun. Meiner Meinung nach sollten solche Dinge, also Politik und Musik, auch getrennt voneinander betrachtet werden. Musik ist viel intensiver und elitärer zu betrachten als weltliche Belange. Wie auch immer, ich mache mir nichts aus Politik, noch nicht einmal in meinem privaten Leben. Politik interessiert mich einfach nicht.
Aber glaubst du, dass besonders Deutsche ein Problem mit einem gewissen „Nationalstolz“ haben, auch wenn sich dieser „Stolz“ in keiner Weise politisch äußert?
Ich lebe nicht in Deutschland, und deshalb habe ich diesbezüglich auch keinen Überblick. Im Hinblick auf die Geschichte Deutschlands verstehe ich aber, dass einige Leute immer noch ein gewisses Schamgefühl haben und zu Recht mit Schrecken auf die verursachten Gräueltaten zurückblicken, auf der anderen Seite allerdings ist diese Nazi- oder Rassisten-Paranoia meiner Meinung nach ein ebenso hirnloses Extrem. Nichtsdestotrotz verstehe ich, dass die Menschen Angst davor haben, dass sich die Geschichte wiederholen könnte.
Bis vor wenigen Tagen gab es keine Live-Shows von ALCEST. Legst du nicht soviel Wert auf Live-Shows?
Doch, natürlich interessieren mich Live-Shows. Sonst würde ich jetzt ja auch keine spielen. Ich sehe Live-Shows allerdings als einen anderen oder weiteren Weg, um die Musik von ALCEST zu präsentieren. Das geschieht dann alles viel spontaner, dynamischer und vielleicht auch lebhafter. Unsere Shows sollen eine stark emotionale Erfahrung für das Publikum sein, und wir werden alles dafür tun, dieses Ziel auch zu erreichen.
Wer begleitet dich bei den Shows?
Das sind Fursy Teyssier (LES DISCRETS, AMESOEURS) am Bass, Winterhalter (LES DISCRETS, AMESOEURS, Ex-PESTE NOIRE) am Schlagzeug und Zero (ZERO) an der zweiten Gitarre und den Backing Vocals. Wir sind alle miteinander befreundet, und ich kann mir keine bessere Live-Crew für ALCEST vorstellen, als genau diese Zusammenstellung!
Ich danke dir ganz herzlich für das Interview. Merci.
Ich habe zu danken. Wir spielen in Kürze auch in Deutschland und hoffen euch dort zu sehen!