Steven Wilson
Interview zum neuen Album "Hand. Cannot. Erase."
Interview
Als ich das Kölner Hotelfoyer betrete, verfallen die anwesenden Pagen bei meinem Anblick fast schon in Panik. Ja, wie sie mir denn weiterhelfen könnten. Zum Glück steigt da gerade noch ein anderer langhaariger Typ aus dem Aufzug, mit dem ich mir gleich einen Tisch im Hotelcafé teilen werde. Panik abgewendet. Der Mann mit dem schulterlangen Haar, der sich als STEVEN vorstellt, ist genau wie ich gerade erst aufgestanden und dementsprechend noch etwas müde. Also erst mal Frühstück. Er selbst kommt gerade aus Holland und hat zwei seiner raren BASS-COMMUNION-Shows gespielt, bei denen er mit Klangkünstler THOMAS KÖNER kollaborierte. Doch eigentlich soll es hier und heute um sein neustes Werk „Hand. Cannot. Erase.“ gehen. Ein Album, das die außergewöhnliche Geschichte einer jungen, beliebten Frau erzählt, die sich bewusst zum Ziel gesetzt hat, inmitten einer urbanen Gesellschaft zu verschwinden.
Viel mehr möchte STEVEN WILSON vorerst nicht über die lose auf dem Fall Joyce Carol Vincents basierende Storyline verraten. Doch zurück zu dem, was bisher geschah: Nach dem Achtungserfolg mit seinem dritten Solowerk „The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)“ (u.a. #3 in den deutschen Albumcharts), rückt der ehemalige PORCUPINE-TREE-Mastermind auf „Hand. Cannot. Erase.“ wieder etwas mehr vom klassischen Progressive / Art Rock ab und offenbart seinen beeindruckenden Facettenreichtum. Hören wir hier also das STEVEN-WILSON-Gesamtpaket? „Das war eigentlich gar nicht der Plan, eigentlich wollte ich mich bloß hinsetzen und wieder Musik schreiben. Bei ‚Raven‘ habe ich mich eben nur auf einen einzigen Aspekt meiner musikalischen Identität bezogen. Da wusste ich auch genau, dass ich für eine Band schreibe, die diesen Prog-Stil sehr gut spielen kann. Jetzt wollte ich aber auch wieder mehr elektronische Elemente, etwas Metal-Stuff und von Zeit zu Zeit auch mal einige Pop-Momente einbringen. Gleichzeitig wollte ich natürlich auch Teile des ‚Raven‘-Strang weiterverfolgen, was man den längeren Songs des Albums hier und da sicherlich anmerkt. Also ja, es ist mit Sicherheit ein Dokument meiner gesamten musikalischen Charakteristika geworden.“
Also ist „Hand. Cannot. Erase.“ jetzt gewissermaßen als Experiment nach dem großen Erfolgsalbum zu werten? Schließlich packt WILSON hier vergleichsweise viele Ideen in einzelne Songs. „Einer der Gründe, warum Raven kommerziell so erfolgreich war, ist, dass es von vorne bis hinten konsistent in seinem Stil war. Klar, vielleicht wird das mit dem neuen Album jetzt etwas schwieriger. Andererseits findet man hier auch vermehrt poppige Momente. Wir werden also sehen.“
„Ich habe schon immer elektronische Elemente in meiner Musik verarbeitet.“
Erstmals im Laufe seiner Solokarriere nahm WILSON zwei Alben hintereinander mit derselben Besetzung auf, deren Flexibilität man den beiden unterschiedlichen Werken deutlich anmerkt. Wie zufrieden er mit der aktuellen Zusammensetzung aus Guthrie Govan, Nick Beggs, Adam Holzman, Marco Minnemann und Theo Travis ist, kann der Brite dementsprechend gar nicht genug betonen. Einzig Travis wurde diesmal wesentlich weniger Platz für Flöten- und Saxofon eingeräumt, der Jazz sei „diesmal einfach weniger präsent“. Aber warum ist er das, etwa zugunsten der elektronischen Parts? Fließt hier WILSONs Arbeit an seinem Nebenprojekt BASS COMMUNION maßgeblich mit ein? „So etwas geschieht nicht bewusst beim Schreiben. Ich habe eben immer schon viel elektronische Musik gehört und das auch seit jeher in meinen Bands verarbeitet. ‚Raven‘ war eines der ganz wenigen Alben, wo solche Einflüsse überhaupt nicht durchkamen.“ Am prägnantesten tritt die Elektronik natürlich beim Vorabsong „Perfect Life“ in den Vordergrund. WILSON erklärt das unter anderem damit, dass er während seiner täglich Spaziergänge zur Entstehungszeit von „Hand. Cannot. Erase.“ viel Musik des Trip-Hop-Duos BOARDS OF CANADA (welche auch der Autor einfach nur empfehlen kann) gehört und großen Gefallen an deren nostalgischer, „gespenstischer“ Atmosphäre gefunden habe. Dort sieht er auch wieder die Verbindung zum inhaltlichen Konzept, denn in seinen Texten lässt WILSON die Protagonistin häufig zurückblicken, in Nostalgie schwelgen. „Natürlich kann man elektronische Musik nicht generell als nostalgisch bezeichnen. Aber Künstler wie BOARDS OF CANADA schaffen nun mal genau diese Atmosphäre. Es klingt bzw. fühlt sich einfach an, als könne sie Rückblicke, Dinge aus der Vergangenheit heraufbeschwören.“
Die Texte auf „Hand. Cannot. Erase.“ sind der Storyline entsprechend meist in der ersten Person gehalten. WILSON war allerdings schon früh klar, dass er den weiblichen Aspekt nicht nur lyrisch, sondern auch musikalisch maximal ausreizen wolle. Der Drei-Punkte-Plan: Für „Perfect Life“ engagiert er kurzerhand eine professionelle Synchronsprecherin, für einige weitere Passagen einen Knabenchor (dem er trotz aller Männlichkeit einen sensiblen Touch attestiert) und schlussendlich macht sich der Prog-Genius auf die Suche nach einer Sängerin für den Song „Routine“. „Ich habe diesen Song von drei oder vier Sängerinnen einsingen lassen. Dann kam Ninet und hat alles weggeblasen.„ Die angesprochene NINET TAYEB ist eine israelische Pop-Rock-Sängerin, welche WILSON seinerzeit von ex-Bandkollege AVIV GEFFEN empfohlen wurde. „Es ist sowieso immer etwas komisch, wenn andere deine Texte singen und dann muss es eben auch musikalisch passen. Aber bei Ninet stimmte von vornherein alles. Ich war so begeistert, dass ich ihre Stimme noch auf einigen weiteren Songs haben wollte.“
Nahostkonflikt? – „Who wants all this shit?“
Genau wie BLACKFIELD-Kollaborateur AVIV GEFFEN stammt NINET TAYEB aus Israel. Auch WILSON selbst hat dort gelebt. Die im vergangenen Jahr erneut eskalierte Gewalt im Nahostkonflikt mache ihn alles in allem einfach nur traurig. „Die Leute, die ich in Israel kenne, sind ausnahmslos für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Insofern halte ich Ninets Beteiligung an ‚Hand. Cannot. Erase.‘ fast schon für ein Statement an sich. Sie ist eigentlich Araberin. Eine arabischstämmige Sängerin, die in Israel lebt. Das macht sie quasi zum Symbol.“ Doch WILSON weiß natürlich, dass das Thema wesentlich komplexer ist: „Wann auch immer eine friedliche Lösung in Sicht ist, gibt es Fundamentalisten, die ihr Bestes tun, jeden Fortschritt zunichte zu machen. Viele Menschen auf beiden Seiten wollen dafür sorgen, dass der Frieden niemals kommen wird. Und genau das macht mich traurig. Denn, mal ganz ehrlich: Wer möchte diese ganze Scheiße?“
Nach einer letzten Tournee im vergangenen Jahr hat STEVEN WILSON BLACKFIELD mittlerweile verlassen. „Es gab einen Punkt, an dem ich gemerkt habe, dass ich oft zu viele Dinge zur selben Zeit tue. (Ein kleines Lachen konnten sich hier weder Autor noch Steven selbst verkneifen). Ich will mich lieber auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig für mich sind. Was nicht heißen soll, dass BLACKFIELD nicht wichtig für mich war. Doch letztendlich ist mir klargeworden, dass die zwei wichtigsten Dinge in meinem Leben meine Solokarriere und das Remixen klassischer Alben sind. Es war keine leichte Entscheidung, aber gerade meine Arbeit mit PORCUPINE TREE und BLACKFIELD hat einfach zu viel Zeit gefressen.“ Für den 47-Jährigen steht jetzt erst mal ein Jahr des Tourens an. Und was dann?
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Stile | Art Rock, Experimental, Progressive Metal, Progressive Rock |
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Toller Artikel über einen der zur Zeit wohl interessantesten Musiker. Ein Jammer, dass mit Porcupine Tree derzeit nichts geplant ist. Die Musik dieser Band hat mich seit Jahren begleitet. Auch wenn Steven Wilsons Solo-Alben ein qualitativ mehr als gleichwertiger Ersatz sind – rein emotional kommt an Porcupine Tree einfach wenig ran…