Steven Wilson - Hand. Cannot. Erase.

Review

Eine junge Frau verstirbt und niemand aus ihrem Freundeskreis, ja sogar aus ihrer Familie vermisst sie. Drei ganze Jahre lang. Den Verwesungsgeruch im Bereich der Apartmenttür ordnen die Nachbarn einer nahen Müllkippe zu und die konstanten Geräusche des laufenden Fernsehers lärmenden Drogenabhängigen. Im Dezember 2003 findet man die größtenteils skelettierte Leiche von Joyce Carol Vincent inmitten von bereits verpackten Weihnachtsgeschenken.

STEVEN WILSON war noch nie der Mann für die leichten Themen, vermutlich würden solche seiner Musik aber auch einfach nicht gerecht werden. Der wahre Fall Joyce Carol Vincent bildet nun die musikalische und textliche Grundlage für Soloalbum Nummer vier eines der wichtigsten und visionärsten Musiker unserer Zeit. Die Voraussetzungen sind gut: Nach dem flächendeckend abgefeierten Progressive-Rock-Meisterwerk „The Raven That Refused to Sing (And Other Stories)“ dürften die Schreie nach einem neuen PORCUPINE-TREE-Album – „The Incident“ erschien immerhin bereits 2009 – größtenteils verstummt sein.

Wie klingt also jene Geschichte, wenn unser schwermütiger Brillenträger von der Insel sich ihrer annimmt? Zunächst einmal deutlich weniger proggy als „The Raven“ und irgendwie repräsentativer, wenn man das gesamte Œuvre des Mannes in Betracht zieht. Natürlich gibt es diese fiebrigen Prog-Ausbrüche mit hektischem Drumming, disharmonischem Orgelspiel und Jazzakkorden noch immer – am Ende von „3 Years Older“ beispielsweise. Auch das düstere und schwere „Home Invasion“ verbreitet eine ähnliche Stimmung. Im Ganzen machen sie aber nur einen Bruchteil der stilistischen Bandbreite von „Hand. Cannot. Erase.“ aus. Der instrumentale Opener „First Regret“ wird hingegen von pulsierenden, herzschlagähnlichen Synthesizer-Sounds getrieben und auch unter dem Titeltrack liegt ein Industrial-ähnliches Schlagzeug. Ansonsten herrscht über weite Strecken eine getragene, melancholische Atmosphäre. Stellenweise fühlt man sich an das erste (und beste) BLACKFIELD-Album erinnert, auch wenn dessen konventionelle Eingängigkeit natürlich nicht ganz erreicht wird. Ausufernde Länge erreichen diesmal jedoch nur drei der elf Songs.

Betrachtet man nur die vertonte Geschichte, so passen die Gesangsbeiträge der israelischen Sängerin NINET TAYEB ziemlich gut. „Perfect Life“ klingt dabei zwar fast filmisch, bringt das Album allerdings eher erzählerisch als musikalisch weiter. Weitaus besser verknüpft das folgende „Routine“ beide Gesichtspunkte. TAYEBs düsterere stimmliche Seite und ein paar härtere Elemente machen den Song zu einem der stärksten der Scheibe. Wenn man denn hier zwischen einzelnen Songs unterscheiden möchte. Wie fast immer bei STEVEN WILSON und allen zugehörigen Musikprojekten gilt: Mit wenigen Ausnahmen („Trains“) entfalten die Songs ihre wahre Wirkung nur im Albumkontext.

„Hand. Cannot. Erase.“ ist ein wunderbar vielschichtiges Album geworden, das die progressiven und härteren Ausbrüche akzentuierter einsetzt und viel Platz lässt, für die Atmosphäre, die die vertonte Geschichte mit sich bringt. Von den elektronischen Elementen, die STEVEN WILSON schon in der Vergangenheit immer wieder in sein Songwriting einfließen ließ, über gesprochene Passagen und lange Instrumentalparts bis hin zum an PINK FLOYD erinnernden Finale eines Songs wie „Regret #9“ – man folgt der musikalischen Geschichte unwillkürlich. „Hand. Cannot. Erase.“ Ist ein tolles Album geworden. „WILSON, der Kritikerliebling mal wieder“, wird man es hier und dort wie immer vernehmen. Aber der Mann ist halt einfach ein Qualitätsgarant. Diese (vielleicht wenig erscheinenden) acht Punkte sind deshalb auch im Kontext des großartigen Lebenswerkes des STEVEN WILSON zu sehen.

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21.02.2015

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