Back To These Dirty Moments In Metal
– Warum Auto-Tune und AI sich niemals echt anfühlen können
Special
Es ist einer dieser Tage. Kurz auf dem Sofa liegen, einen Moment faul sein, durch Instagram scrollen und Reels mit Kollegin Tammy tauschen. Da werden wir aufmerksam auf ein kleines Video einer Dame, die erläutert, wie einfach es doch sei, einen Song beliebiger Spielart inklusive Songtext mit ein bis zwei Apps zu erstellen – in wenigen Minuten. Dass sich die Musikindustrie mittlerweile diverser technischer Hilfsmittel bedient, ist längst bekannt. Das Interessante daran ist, dass das Ganze ohne frühkindliche Musikerziehung (wir kennen alle den jahrelangen Flötenunterricht), musische Begabung oder lyrische Fähigkeiten möglich sein soll. Kurzum: Jeder Trottel kann das!
Die Aussage hat Tammy und mich komplett abgeholt und wir jonglieren direkt mit Ideen herum: welches Genre? Lass mal Metalcore nehmen. Das zieht ja immer ganz gut. Unser „selbst komponierter“ Song soll ja auch Reichweite machen. Wenn schon, denn schon. Welche Textinhalte? Schmerz ist gut, ganz viel Schmerz mit einem Hauch Trauer, unerwiderter Liebe und Ghosting. Schnell sind die Apps mit unseren (natürlich) fantastischen Ideen gefüttert. Noch schneller spucken die Programme das Ergebnis aus. Den Output ersparen wir euch aber an dieser Stelle.
Nach kurzer Zeit und wenigen Hirnanstrengungen ( würde auch gerne damit angeben, wie sehr wir uns bemüht haben, aber einfach: Nein!) haben wir einen 3,5-minütigen Track auf unseren Handys, der nach einer Mischung aus WHILE SHE SLEEPS, ARCHITECTS und BURY TOMORROW klingt … Und leider im Vergleich erschreckend gut mithalten kann. Erschreckend ist das richtige Wort. Wir freuen uns zwar im ersten Moment über das gute Ergebnis, aber dann kommt ganz schnell der bittere Beigeschmack. Wie einfach war das? Und wie emotions- und seelenlos ist das bitte? Und welche Bands, Musiker, Produzenten arbeiten im Jahr 2024 genau SO??!!
Ich gebe zu, ich bin da sehr oldschool veranlagt. Songwriting und -producing findet in meiner kleinen, heilen Musikwelt immer noch in einem Keller oder einer Garage statt. Irgendwo sitzen ein paar Menschen zusammen – lässig, auf einem alten, zerschlissenen Sofa, Kippen auf dem Tisch, Bier in der Hand oder wahlweise noch zugedröhnt bis in die Haarspitzen. Ich weiß … Klischee-Keule. Aber DAS ist, wie es einmal war und wie ich es vermisse. Ich habe auch das Gefühl, ich stehe damit nicht ganz allein da.
In einer Welt, in der Technik und Kommerz die Musikwelt zunehmend dominieren, ist die Sehnsucht nach authentischer, ungekünstelter Musik sehr laut geworden. Der Trend zur Überproduktion, zur Nutzung von Auto-Tune und computergenerierten Sounds hat die Musikindustrie in den letzten Jahrzehnten stark verändert.
Doch gerade in der Ära des digitalen Überflusses wächst die Nachfrage nach Musik, die wieder echtes Gefühl und handgemachte Kreativität vermittelt. Metal ist in all seinen Facetten bekannt für seine rohe Energie, kraftvollen Riffs und oft sehr persönlichen Themen. Doch hinter der musikalischen Wand aus verzerrten Gitarren, donnernden Drums und intensiven Vocals steckt eine oft übersehene, aber entscheidende Qualität: Ehrlichkeit.
Aufrichtige Musik entsteht nicht primär in einem Studio, das von einem riesigen Label finanziert wird, sondern in den eigenen vier Wänden eines Musikers oder in einem kleinen Proberaum. Sie ist das Produkt einer intensiven Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen, Gefühlen und Gedanken. Hier geht es darum, das eigene Wesen und die eigenen Emotionen in Musik zu übersetzen. Die Musik wird zum Spiegelbild des Künstlers, der sich nicht hinter einer kunstvollen Fassade oder kommerziellem Kalkül verstecken muss.
Ehrlicher Metal muss nicht immer „positiv“ oder „inspirierend“ sein. Oft ist er düster, roh und intensiv – reflektiert die Dunkelheit und die Herausforderungen, die Teil des menschlichen Lebens sind. Aber genau diese Unverblümtheit und Direktheit macht es so stark und lässt Raum für Gefühle, die in überproduzierten, auf Masse und Verkaufszahlen ausgerichteten Veröffentlichungen immer mehr verloren gehen.
Massentaugliche Produktionen und Standardrezepte dominieren und verdrängen die „unpolierten“ und authentischen Werke auf dem Markt. Dabei gehen die wichtigsten Kernpunkte von Musik verloren: Authentizität, Leidenschaft und Kunst.
Selbstgemachter Metal ist mehr als nur eine künstlerische Ausdrucksform – es ist eine Philosophie. In einer Zeit, in der vieles in der Musik von wirtschaftlichen Interessen geprägt ist, sind es die handgemachten Werke, die den Metal lebendig und relevant halten. Sie erinnern uns daran, dass Musik vor allem eines sein sollte: eine Form der Kommunikation, die Künstler:innen und den Hörer:innen gleichermaßen berührt und verbindet.
Ich höre mir den Track, den Tammy und ich vor ein paar Minuten zusammen „produziert“ haben, erneut an. Er ist immer noch gut. Aber ganz ehrlich: Er ist auch seelenlose Scheiße, die keinerlei Emotionen auslöst. Da ist kein „Ich fühle es“-Moment. Da ist kein „Ich kenne das“-Nicken und kein „Ich feiere die Textzeile“-Mitschreien. Da ist nichts. Und Musik sollte mehr sein als ein NICHTS aus der Ader von ChatGPT, AI und Co. KG.
Ich wünsche mir für einige Bands in der Szene, dass sie sich wieder mehr auf eigene Wurzeln, eigene Wege und die eigene Authentizität fokussieren, anstatt auf Verkaufszahlen, Auto-Tune und Playbackvocals. Musik ist schließlich da, um Geschichten zu erzählen. Geschichten, die im Kopf bleiben. Geschichten, die für immer bleiben.
Tammy und ich werden in diesem Leben wohl keine Metalcore-Band mehr gründen. Aber ich darf mir am Ende des Tages in meiner heilen Welt zumindest die Garage, das zerschlissene Sofa und ein paar Menschen mit einer Gitarre in der Hand und einem Blatt Papier vor der Nase vorstellen. Ich darf mir mehr Dreck und wildes Rambazamba auf und vor der Bühne wünschen.
Ich empfinde bei einem nicht perfekt gegriffenen Riff mehr als bei einer sauber einstudierten Bühnenshow. Vielleicht wünschen und brauchen wir das alle wieder ein bisschen mehr. Back to the roots. Back to these days. Back to those little, imperfect and dirty moments in metal.
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