Sleep Token und Bilmuri
Euro Tour 2024
Konzertbericht
Es ist Sonntagabend. Das Wochenende neigt sich dem Ende zu, eine neue Woche droht und das Wetter macht der Atmosphäre von „Silent Hill“ alle Ehre. Wenn das mal nicht nach Realitätsflucht schreit. Wie passend, dass heute SLEEP TOKEN einen Tour-Zwischenstopp in der Frankfurter Festhalle einlegen. Also auf zum kollektiven Abtauchen per „Ritual“, um der mysteriösen Gottheit „Sleep“ zu huldigen, der sich die nicht minder mysteriöse Band um Vessel verschrieben hat.
Schon vor der Halle, um die sich eine lange Menschenschlange wickelt, wird klar: Das Publikum ist zu einem nicht unbeträchtlichen Teil englischsprachig. Vorrangig Amerikaner:innen reisen der Band mittlerweile regelrecht hinterher, haben Fanprojekte ins Leben gerufen und huldigen wortwörtlich ihren Idolen. Diese „Über-Fans“ werden dank jeder Menge, sehr hochpreisigem Merch auch ordentlich gemolken. Und es scheinen nicht wenige zu sein, die sich ihrer SLEEP TOKEN-Obsession derart hingeben, dass Sie sogar den hiesigen Pop-Up-Store (mit Merch, das es nur dort gibt!1!11) radikal leer gekauft haben. Insbesondere der nicht minder teuren, sogenannten (aufgepasst) „Sleep Tokens“– kleine für jedes „Ritual“ der Tour individuell gefertigte und natürlich streng limitierte Münzen, die vor allem bei den Hinterher-Reisenden zum Must-Have avanciert sind.
Wem die Musik wichtiger ist, kann diese teils marktschreierischen Auswüchse besser ignorieren – oder Merch ohne Tourbezug zu angemesseneren Preisen im Online-Shop erwerben. Denn wer unterstützt nicht gerne die Bands, die er oder sie schätzt. Insbesondere weil mittlerweile ein Großteil der Einnahmen durch Touren und das Merchandise generiert werden müssen. Aber all das, sollte sich noch in nachvollziehbarem Rahmen bewegen.
Es darf wieder bis IV gezählt werden
Das Publikum zeigt sich trotz der (vermehrt weiblichen) amerikanischen Über-Fanbase überraschend divers. Vom Teenager bis zur gestandenen, graumelierten Metalhead, weiblich bis männlich ist hier alles in der fast ausverkauften Festhalle vertreten. Ja, mittlerweile müssen sich die SLEEP TOKEN-Fans der ersten Stunde ihre Band mit einem Haufen anderer Menschen verschiedenster Couleur, Backgrounds und Musikgeschmäcker teilen.
Zum Tourauftakt musste noch auf III und IV wegen Krankheit verzichtet werden. Ob sich die beiden gegenseitig angesteckt haben? Schließlich ist nicht unbekannt, dass die Jungs allzu gerne mal gegenseitig auf Tuchfühlung gehen. So manch zärtlicher Kuss, kuschelnde Umarmungen oder auch laszivere Gesten wurden schon im Verlauf ihrer Gigs beobachtet. Heute müssen wir zum Glück nicht mit gesichtslosen (moment …) Backingtracks vorliebnehmen, und sollen in den Genuss eines wieder komplett gesundeten Line-ups kommen.
Party mit Depression und Saxophon
Das Backdrop kündigt mit BILMURI den Support der Tour an. Wer den Namen korrekt aussprechen möchte, möge „Bill Murray“ sagen. Und diese Ähnlichkeit ist selbstverständlich kein Versehen. Das Musikprojekt von Johnny Franck könnte auf den ersten Blick keine gegensätzlichere Richtung als der Hauptact einschlagen. Der Pop ist noch deutlich präsenter als bei SLEEP TOKEN, Rock- und wenige Metalcore-Elemente gibt es auch, und die Songs tragen Titel wie „ABSOLUTELYCRANKINMYMF’INHOG“, „FLUORIDEINTHEHARDSELTZERWATER“ oder „BOUTTA CASHEW“ (ja, alles großgeschrieben). Wer nach seinem ersten Eindruck die Schublade aufzieht und BILMURI unter „wenig tiefgründige Fun-Band“ wegsortiert, könnte jedoch falscher nicht liegen. Genau wie beim Headliner werden hier richtig ernste Themen verarbeitet. Die Songs handeln von Vergangenheitsbewältigung, schlechtem amerikanischen Trinkwasser oder gescheiterten Beziehungen. Dabei schaffen es BILMURI alleine mit Ihrer quietschfidelen Bühnenpräsenz einen krassen Kontrast zu den Inhalten zu schaffen. Zentral ist und bleibt heute außerdem Johnnys „fantastic ass“, den dieser dank des „perfekten Bühnen-Workouts“ stolz präsentieren kann. Auch den „Catwalk“ nutzen BILMURI rege: „Ein Catwalk ist eine gute Sache, aber man sollte nie einen Song auf den Catwalk beenden … es sei denn man hat einen schönen Arsch“ so die Weisheit des Sängers, als dieser nach Songende wieder den Rückweg vom Walkway-Ende zur Bühne antreten muss.
Musikalisch überraschen BILMURI mit einer spannenden Bandbreite. Xavier Ware am Schlagzeug, Reese Maslen an der Gitarre und Gabi Rose an Saxophone und Querflöte ergänzen das Live-Setup des Soloprojekts von Johnny Franck furios. Und das nicht nur an den Instrumenten, sondern auch an den Mikros, von Klargesang bis Growls. Nichtsdestotrotz muss geneigter Fan der härteren Klänge hier noch aufgeschlossener sein, als schon bei SLEEP TOKEN. Und doch: Gute Musik ist einfach gute Musik. Man muss es privat nicht hören, aber live anerkennen kann man es trotzdem.
Setlist von BILMURI:
1. EMPTYHANDED
2. ABSOLUTELYCRANKINMYMF’INHOG
3. FLUORIDEINTHEHARDSELTZERWATER
4. ALL GAS
5. BLINDSIDED
6. BOUTTA CASHEW
7. THE END
8. STRAIGHT THROUGH YOU
9. BETTER HELL (Thicc boi)
Schwarzes Loch in eine andere Welt
Das vorgelagerte Backdrop senkt sich. Worte haben hier nun nichts mehr verloren. SLEEP TOKEN „sprechen“ durch Licht, Dunkelheit, Gesang, Instrumente, einzigartiges Songwriting und durch unzählige Genres hinweg.
Die üppig mit Lichttechnik bestückten Traversen reichen weit über den Bühnenvorraum und scheinen das Publikum regelrecht zu umarmen. Die ersten Klänge von „The Night Does Not Belong to God“ werden angestimmt. Das runenhafte Symbol im Zentrum wird zu einem schwarzen Loch mit unendlicher Gravitation. Alles Licht wird gebündelt – und schließlich verschluckt. Die andächtige Stille des Publikums wird durchbrochen, als die Band die Bühne betritt. Ein intensiver, atmosphärischer Einstieg in ein grandioses Set. Moment. Nein, es ist ein Ritual.
Es folgt „The Offering“. In einem Moment kann Vessel gesammelt und jeden Ton gefühlvoll zelebrierend an der Spitze des Walkways stehen, im nächsten schreit und hüpft der lang geratene Sänger in seiner unvergleichlichen, tänzelnden Art über die Bühne, während das Licht im Stroboskop-Gewitter und Gitarren und Drums eruptieren. Und das Publikum gleich mit.
Zwischen Einkehr und Ausbruch
SLEEP TOKEN stoßen uns ohne Rücksicht in ein Wechselbad der Gefühle. Nicht nur ist jeder Song derart abwechslungsreich, dass man sich verzweifelt fragt, wie diese trotzdem aus einem Guss erscheinen können, auch das Set präsentiert eine wilde und trotzdem harmonierende Mischung aus allen drei Alben. Alles harmonisch in Form von 16 Songs aufgereiht, alles mit gleichbleibender, schwindelerregend hoher Qualität.
Links oben thronen die ebenfalls maskierten ESPERA. Die Identität des Sängerinnen-Trios ist bekannt, ihr stimmliches Können auch. Damit sind Sie eine nicht mehr wegzudenkende Ergänzung zur Live-Atmosphäre. Wenn Vessel in Dunkelheit getauchter Halle, inmitten eines strahlenden Laser-Lichtkegels am Keyboard steht und „Atlantic“ anstimmt, leiten uns die perfekt aufeinander abgestimmten Frauen behutsam in den – was sonst – erneuten Ausbruch über.
Noch intimer wird es mit „Missing Limbs“. Der Mikrofonständer mit rituellem Behang wandert an die Spitze des Walkways. Vessel folgt mit Gitarre. Manche singen leise und in sich gekehrt mit, manche geben sich dem Sog hin.
Aufbruch, Durchbruch, Überflug
Heute Abend können SLEEP TOKEN ihre Durchbrüche feiern. Mehrzahl. Denn mit dem Song „Alkaline“ und ihrem Zweitwerk schafften Sie es 2021 eine erste große Aufmerksamkeitswelle auf sich und ihr Schaffen zu ziehen. Nun folgt Durchbruch Zwei, „Chokehold“ und Opener des jüngsten Werks, das sich zum meistgestreamten Metal-Album in 2023 katapultiert hat. Den Aufstieg von SLEEP TOKEN nimmt Vessel hier wörtlich und erhebt sich in dramatisches Licht getaucht aus dem Boden des Walkways. Nur konsequent mit „The Summoning“ fortzufahren.
Die krasse Genre-Ambivalenz zeigt sich mit „Granite“. Da wird innerhalb weniger Minuten mal eben ein komplett diverses Publikum zunächst zu im Hip-Hop ansässigen Rhythmusgesten verleitet, um im nächsten Moment in diversen Moshpits zu rotieren – nur um zwei Minuten später den balladesken Einstieg in „Rain“ andächtig und einstimmig mitzusingen. Und nichts davon fühlt sich falsch an.
Die Harmonie von Musik und Licht ist während des gesamten Konzerts omnipräsent. Wenn während „Take Me Back To Eden“ die Nebelschwaden durch die gefächerten Laser wogen, befindet man sich nicht mehr im kalten, regnerischen Frankfurt. So könnte Eden aussehen. Doch lassen uns SLEEP TOKEN nicht ungerüstet zurück in die kalte Realität. Das Finale beginnt leise, am Keyboard, mit einem Meer aus gezückten Smartphonelichtern. Auch wenn „Euclid“ eine tragische Seite hat: Der Textabschnitt „The night belongs to you“ hat für viele an diesem Abend eine ganz eigene Bedeutung.
SLEEP TOKEN sind ein Gesamtkunstwerk
Die Band mag kein einziges Wort verlieren, doch um Gesten sind sie nicht verlegen. Uns so kniet Vessel am Ende des Walkways nieder und zeigt sich dankbar für all den Zuspruch, den die Band und sein Schaffen erfährt. Uns wurde derweil ein Abend der Genreverständigung zuteil, serviert auf den Schwingen höchster Live-Qualität. Vessels cleaner, eher im Pop angesiedelter Gesang, nuanciert, geradezu tongenau und gefühlvoll, oder sich plötzlich entladende Growls, gepaart mit IVs Gitarre, IIIs sirrendem Bass und IIs unfassbar tightem Schlagzeugspiel. All das sitzt so perfekt, dass man zwischendurch das Atmen vergessen könnte.
Setlist von SLEEP TOKEN:
1. The Night Does Not Belong to God
2. The Offering
3. Dark Signs
4. Higher
5. Atlantic
6. Hypnosis
7. Like That
8. Alkaline
9. Missing Limbs
10. Chokehold
11. The Summoning
12. Granite
13. Rain
14. Ascensionism
15. Take Me Back to Eden
16. Euclid
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