„Berlin. Welthauptstadt der Sünde“ ist eine neue Spielhilfe für das Horror-Rollenspiel CTHULHU, die das Berlin der 1920er und 1930er illustriert. Zusätzlich zu dem allgemeinen Teil, in dem die Stadt, ihre Geschichte und die Menschen, die sie bevölkern, beschrieben werden, enthält das Buch drei Szenarien die sich zu einer kleinen Berlin-Kampagne verbinden lassen. Es heißt also: Stadtplan einstecken, Feuerzeugbenzin nachfüllen und ab mit der Elektrischen ins nächste schaurige Abenteuer in hell erleuchteten Straßen und dunklen Gassen.
Willkommen in Berlin – Welthauptstadt der Sünde
Die Beschreibung der Reichshauptstadt strotzt nicht gerade vor Details, gibt aber einen lesenswerten und hilfreichen Überblick für den Spieltisch. Das Leben in der Stadt wird grundlegend dargestellt, an Schauplätzen im Detail nur jene, die am ehesten Anbindungen an den Cthulhu-Mythos bieten. In den Bibliotheken und Museen sowie auf den Friedhöfen des alten Berlins warten zahlreiche Geheimnisse, die Verstand und geistige Stabilität fordern.
Gut zwei Dutzend historische Persönlichkeiten werden in „Berlin. Welthauptstadt der Sünde“ vorgestellt. Dabei handelt es sich unter anderem um Schriftsteller wie Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky, die Reichspräsidenten Ebert und Hindenburg, Intellektuelle wie Einstein, aber auch den NSDAP-Funktionär und späteren Kriegsverbrecher Joseph Goebbels. Die Beschreibungen geben Impulse, wie sich diese Personen als Figuren in eigene Szenarien einbinden lassen und umreißen die jeweilige Lebenszeit in Berlin, enden oft also mit der Emigration nach Machtergreifung der Nazis.
Passend zum Titel wird außerdem dem turbulenten Nachtleben relativ großer Platz eingeräumt. Nicht nur in diesem Punkt ist anzumerken, dass es sich um die Übersetzung einer US-Publikation handelt. Für die amerikanischen Autor*innen stellt das frivole Treiben in Nacktanz-Clubs und Bordellen eine Grenzerfahrung dar, in der viele Menschen sexuelle Freiheit suchen, sich aber auch einige zwielichtige Gestalten tummeln. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Beschreibungen prüde und fremdelnd wirken, sie verordnen aber bereits kleine Ausflüge ins Rotlicht-Milieu deutlich als sündige Eskapaden, die einen Schritt in Richtung Sittenverfall bedeuten.
Kosmischer Schrecken und reale Monster
Dieser Punkt wird auch in den drei Abenteuern deutlich, die gut die Hälfte des Bandes füllen. So sehr in den Szenarien das Nachtleben als ein Einfalltor für Dämonen, Okkultisten und andere Schrecken dient, so wenig Berührungsängste zeigen die Autor*innen bei der Darstellung brutaler Gewalt und abartiger Verbrechen, sowie beim Einbinden nationalistischer Terroristen wie den Mitgliedern der Operation Consul in die Handlung. Zwar mag es reizvoll sein, die menschlichen Monster im Schatten kosmischer Schrecken als das kleinere Grauen zu behandeln, doch reale Serienmörder und Agitatoren mit an den Spieltisch zu bringen, dürfte nur mit viel Fingerspitzengefühl seitens der Spielleitung gelingen.
Zweifelsohne gewinnt die Dramaturgie der Szenarien an Eindruckskraft, wenn es gelingt, die moralische Grauzone auch als solche zu verdeutlichen. Das Gefühl der Beklemmung, der Kloß im Hals, wird größer sein, wenn die Spieler*innen realisieren, wem sie dort begegnen und welche historischen Konsequenzen folgen werden, aber wer genau so etwas in einem Horror-Rollenspiel sucht und damit leben kann, dass es in manchen Situationen kein Happy End geben wird, wird die Abenteuer in Berlin nie vergessen.
Drei Geschichten aus Berlin
An sich sind die Szenarien solide bis gut gelungen. „Der Teufel frisst Fliegen“ ist ein Detektiv-Abenteuer, das die Spielfiguren in die politische Halbwelt Berlins führt und ins Visier eines mordenden Schreckens bringt. Zwar werden beim Ende des Szenarios Entscheidungen des Finales berücksichtigt, die eigentliche Handlung ist jedoch starr vorgegeben und wenig beeinflussbar. Verschiedene Schauplätze und NSCs werden abgeklappert, die Spielfiguren mit der Zeit immer mehr zu Getriebenen, die kaum Möglichkeiten für eigene Entscheidungen finden. Spannend bleibt es allerdings bis zum Schluss, auch wenn man, wie oben bereits erwähnt, sich auf realen historischen Schrecken einlassen muss, der in diesem Zusammenhang vollkommen pietätlos ist.
„Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ ist ein surrealer Ausflug in eine fremde Dimension, in der Ängste – aber auch Hoffnungen – Gestalt gewinnen. Auch in diesem Szenario haben die Spieler*innen wenig Einfluss auf den Verlauf der Handlung, können sich aber über weite Strecken offen in einer bizarren Welt bewegen, die ein Zerrbild des realen Berlins darstellt. „Schreckfilm“ startet mit der charmanten Idee, die Spielfiguren in die Dreharbeiten zu einer Lovecraft-Verfilmung zu verwickeln, entwickelt sich jedoch bald zu einem ermittelnden Ausflug in die Okkultismus-Szene der Hauptstadt. Ohne das Ende zu verraten: Auch dort kommt es zu Darstellungen der Braunhemden, die man als Mensch, in dessen Hauptstadt heute ein Holocaust-Mahnmal steht, erst einmal sacken lassen muss.
Fingerspitzengefühl wird vorausgesetzt
Insgesamt beziehen sich die Abenteuer in „Berlin. Welthauptstadt der Sünde“ sehr stark auf historische Ereignisse. Der eigentliche kosmische Schrecken Mythos rückt angesichts der realen Grauen beinahe in den Hintergrund. Die Autor*innen wollten offenbar sehr edgy sein, verschenken dadurch aber viele Möglichkeiten, die CTHULHU ansonsten bietet, um vor dem Hintergrund der Irrelevanz der Menschheit beklemmende Szenarien an den Spieltisch zu bringen. Dies ist dem Sowjet-Szenario „Eiskalte Ernte“ unter ähnlichen Voraussetzungen besser gelungen.
Aufmachung und sprachliche Qualität bieten jedoch keinen Grund zum meckern. Der Band ist lesenswert geschrieben und, wenn auch in verschiedenen Stilen, hervorragend illustriert. Die Spielhilfe steckt voller Ideen und Impulse, um das Berlin der 1920er und 1930er an den Spieltisch zu bringen. Die Spielleitung kann mit viel Fingerspitzengefühl und entsprechend aufgeschlossenen Spieler*innen aus den drei vorhandenen Szenarien und dem weiteren Material viele schrecklich-schöne Momente in Berlin kreieren. Wer sie gesunden Geistes übersteht, wird sie nie vergessen.
Der Soundtrack für die finsteren Gassen und bunten Nächte Berlins: PRAISE THE PLAGUE – The Obsidian Gate / HOUR OF 13 – Black Magick Rites / SETH – La Morsure du Christ
Würfeln und blättern, statt lauschen und headbangen – In der Rubrik „Dice ‚em All“ stellen wir euch ausnahmsweise keine Musik vor, sondern Rollen- und Brettspiele.
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