Corvus Corax
Corvus Corax

Interview

Im Mittelalter wären sie absolute Stars gewesen, die Könige der Spielleute: CORVUS CORAX. Und auch heute, Hunderte Jahre später, ist die Faszination um die Musikanten des Mittelalters ungebrochen. Mit ihrem Mammutptojekt "Cantus Buranus" haben sie letztes Jahr von der Metal-Presse bis hin zu den Kunstparten der regulären Tagespresse jeden begeistert. Kurz danach ging es mit der VÖ des neuen TANZWUT-Albums auf ausgedehnte Tour und nun steht schon das neue reguläre CORVUS CORAX-Album in den Regalen. Ein Kreativoutput von dem andere nur träumen können. Castus, seines Zeichens Bandgründer, Pfeifer, Saitenzupfer und erster Sänger der Band, zeigte sich zufrieden, ein wenig erschöpft und garantiert nicht Fußball-begeistert.

Corvus CoraxHey! Wie verbringt man diese fußballdominierte Zeit als Spielmann?

Im Prinzip juckt mich das gar nicht. Ich finde es ganz interessant, wie sich die Leute da hineinsteigern können, aber da gehöre ich nicht dazu. Ich habe gestern (14.6., Deutschland-Polen, Anm. d. Verf.) bei einer Kneipe draußen gesessen, wo drinnen das Spiel geschaut worden ist. Es ist witzig, wenn auf einmal wieder der Nationalstolz aufflammt und es legitim ist.

Trotzdem brauche ich einen Weltmeister-Tipp.

Warte mal! Was hatte ich mir denn gewünscht? Uruguay!

Die sind leider gar nicht dabei.

Ach so! (bricht in schallendes Gelächter aus) Im Stern gab es einen Biertest. Tschechisches Budweiser hat zurecht gewonnen. Deswegen soll auch Tschechien Fußballweltmeister werden.

Gute Wahl! Ok, genug Fußball. Ab zur Musik: Was hat sich für Euch verändert seit dem durchschlagenden Erfolg mit „Cantus Buranus“?

Musikalisch hat sich für uns nichts geändert. Wir haben einfach nur einen unserer Träume mehr verwirklicht. Wir haben „Cantus Buranus“ gemacht, um etwas Neues zu schaffen. Das bedeutet jedoch nicht, dass unsere anderen Aktivitäten jetzt komplett auf Eis liegen. Genauso fing es mit TANZWUT an. Unser Spektrum hat sich nur um eine weitere Facette erweitert. Andere Bands ändern gleich ihre gesamten Konzepte und verwirren ihre Fans. Das wird bei uns nie der Fall sein.

Hat Euch „Cantus Buranus“ aber nicht Türen geöffnet, die Ihr mir CORVUS CORAX alleine nie hättet aufstoßen können? Habt Ihr Euch mit diesem Projekt nicht eine komplett neue Hörerschicht erschlossen, die ansonsten nie auf Euch aufmerksam geworden wäre?

Klar, das stimmt teilweise. In erster Linie waren wir aber froh, dass unsere wirklichen Fans, die auch unsere normalen Scheiben hören, am Ende begeistert waren, wie unterschiedlich wir musizieren können. Trotzdem sind wir natürlich froh über jeden Fan, der neu dazukommt. Die Zeiten werden nicht besser.

Inwieweit hat Euch dieses Mammutprojekt als Musiker weiter gebracht? Was habt Ihr gelernt?

Eigentlich wußten wir von Anfang an, dass wir es können. Dass es im Endeffekt so gut ankam, ist einfach gut fürs Selbstbewußtsein.

Hat Euch die Verwirklichung dieses Experimentes und die Zusammenarbeit mit Roadrunner auch im Ausland Türen geöffnet, wo deutsche Mittelaltermusik eher schwer an den Mann zu bringen ist?

Letztes Jahr waren wir mit CORVUS CORAX in Pennsylvania bei einem Renaissance-Festival, wo auch Roadrunner Amerika anwesend war. Es ist wirklich schwer, im Ausland Fuß zu fassen. Die Zusammenarbeit mit Roadrunner kam folgendermaßen zustande: Wir hatten „Cantus Buranus“ komplett fertig und vorfinanziert und sind dann erst mit dem Label in Kontakt getreten. Mit unserer eigenen Plattenfirma waren wir einfach noch nicht so weit, als dass wir dieses Projekt hätten bewerkstelligen können. Wenn man also etwas Fertiges vorliegen hat, dann macht es Sinn, mit solch großen Firmen zusammen zu arbeiten. Das gleiche gilt für das Ausland. Es gibt sehr viel Interesse in den USA, in Australien, in Japan, sogar im arabischen Raum. Das will aber alles gründlich von uns selbst geplant werden, bevor wir da groß Gas geben.

War es eine Umstellung, sich nun wieder auf die CORVUS CORAX-typische Arbeitsweise einzustellen?

Im Prinzip nicht. Wir hatten in der Zwischenzeit ja auch noch die Live-DVD und –CD von „Cantus Buranus“ in der Mache und es gab noch das neue Doppelalbum von TANZWUT. Dann erst kam die neue Scheibe von CORVUS CORAX an die Reihe. Also mußten wir uns nur von TANZWUT auf CORVUS CORAX umstellen. Das sind wir auch live gewohnt, weswegen es weniger ein Problem darstellte.

Beeinflussen sich alle diese Projekte untereinander nicht ein wenig?

In unseren Augen nicht. Aber natürlich gibt es Stimmen von außen, die gerne nach Parallelen suchen und sie auch finden, wie z.B. Chöre oder so etwas. Selbige sind sowohl auf „Cantus Buranus“ als auch auf vielen unserer normalen Scheiben enthalten. Die Arbeitsweisen sind meist recht gleich. Diesmal haben wir recht schnell und konzentriert gearbeitet. Wir standen extrem unter Zeitdruck, da wir die neue Scheibe unbedingt bis zum Beginn vom Kaltenberger Ritterturnier fertig haben wollten. Dort haben wir unsere eigene Bühne, auf der wir die letzten Jahre immer wieder das gleiche Programm performt haben. Die neuen Stücke bringen dort wieder einen frischen Wind hinein.

Eure neue Scheibe heißt „Venus Vina Musica“. Ein treffender Titel, der bestimmt aus der eigenen Feiererfahrung heraus gewachsen ist, oder?

Hehe, das Intro heißt übersetzt „Gegen Kopfschmerz“, weil dort ein Spruch gegen Kopfschmerzen zelebriert wird. Wenn man nach dem Titel „Lust, Weine und Musik“ lebt, sind die Kopfschmerzen vorprogrammiert.

Wo liegen die Unterschiede in der Herangehensweise an die Vertonung eines historischen Werkes und an eigenes Material?

Streng genommen sind auch unsere normalen Scheiben kein eigenes Material, sondern Fragmente, die wir in Bibliotheken gefunden haben. Bei „Cantus Buranus“ haben wir aus der mittelalterlichen Liederhandschrift „Carmina Burana“ Texte genommen und etwas dazu komponiert. Bei CORVUS CORAX haben wir diesmal verschiedene Dinge zusammengefügt. Zum einen erzählen wir die Geschichte eines Spielmannes, der nach Indien zieht, um dort die sagenumwobene Tänzerin Sanyogita zu befreien, weil sie damals die schönste Frau der Welt war. Die ganze Geschichte, die wir uns dazu ausgedacht haben, ist natürlich nicht auf wahren Begebenheiten beruhend, sondern ein Gespinst unserer eigenen Phantasie. Wir wollten den Leuten eine bessere Vorstellung des 13. Jahrhunderts vermitteln. Diesen Spielmann hat es gegeben, da mehrmals über ihn geschrieben wird. Ob es allerdings jedesmal der gleiche war, ist nicht 100%ig sicher. Die Geschichte, dass er überall auf der Welt Musik hört, sie aufgreift und am Ende in Indien mit verschiedenen Musikern für Sanyogita aufführt, ist jedoch ausgedacht.

Also fungiert die Person des Spielmannes nur als loser roter Faden, der die Platte an sich zusammenhält.

Genau. An sich braucht die Platte dieses Faden überhaupt nicht. Aber unsere Fans haben einen kleinen Geschichtsfetisch, genau wie wir. Also geben wir ihnen eine Geschichte von jemandem, der in von Schottland bis nach Asien zieht und alle seine Erlebnisse auf dieser einen CD bündelt. Auf diese Weise wird die CD sehr abwechslungsreich und deckt alle Facetten von CORVUS CORAX ab.

Ja, das stimmt. Man braucht länger als noch beim Vorgänger, um in die komplette Welt des Albums einzutauchen.

Das kann man so stehen lassen.

Inwieweit trägt die Platte autobiographische Züge und erzählt von Euren eigenen Reisen?

Wenn Du mich als Castus direkt ansprichst, dann ganz extrem. 1987 bin ich illegal durch Mittelasien gezogen. Ich hatte ein Durchreisevisum nach Rumänien. Es war zu DDR-Zeiten selbst schwer ins ebenfalls sozialistische Ausland zu gelangen. Mit meinem Durchreisevisum für Rumänien durfte ich mich drei Tage in der Sowjetunion aufhalten. Ich bin von Moskau nach Kasachstan mit dem Zug und von dort aus nach Mittelasien. Ich war in Aserbaidschan, Tadschikistan und so weiter. Ich bin der Seidenstraße entlang gefahren. Ein extrem geschichtsträchtiger Trip, z.B. bezogen auf 1001 Nacht. So ist für mich diese ganze Reise auf dieser Platte nachzuvollziehen, zumal ich nach der Wende auch die anderen Teile Europas bereist habe. Diese Platte spiegelt quasi das Original von uns wider. Wim und ich sind lange durch Europa gezogen und haben Straßenmusik gemacht, zwar nicht mehr mit dem Eselskarren, aber mit dem Auto. Genau darin liegt begründet, warum wir als CORVUS CORAX solche Musik machen. Wir haben uns schon immer gerne von anderen Kulturen beeinflussen lassen.

Auf solchen Reisen lernt man viele exotische Instrumente kennen. Wie groß ist die Herausforderung, solche hierzulande unbekannten Instrumente zu entdecken, ihr Spiel erlernen und am Ende sogar auf ihnen zu komponieren?

Im Prinzip ist dies gar keine Herausforderung, da so etwas für uns selbstverständlich ist. Ich habe mir z.B. gerade einen spanischen Dudelsack bestellt. Ich mag den Sound. Kürzlich war ich in Bali und habe mir Tscheng-Tschengs mitgebracht. Das sind Becken, die aufeinander geschlagen einen höllischen Rabatz machen, aber trotzdem einen schönen obertonreichen Klang haben. Ich habe beobachtet und gefilmt, wie sie von Einheimischen gespielt worden sind, und mir zusätzlich noch eine Videocassette zu diesem Thema gekauft. Diese Herangehensweise ist typisch für uns. Wir sind keine Rockmusiker, die stur nur ein einziges Instrument spielen. Wenn wir aber etwas Neues sehen, was uns anspricht, sind wir total begeistert. Auf unserer neuen Platte haben wir eine Riesencyster eingesetzt. So haben wir quasi eine Bassbegleitung, die im Mittelalter schon üblich war. Im Prinzip sieht das Teil aus wie ein Schweinetrog mit Saiten.

Gibt es irgendwelche Instrumente, an denen Ihr schon verzweifelt seid und ihr Spiel überhaupt nicht auf die Reihe bekommen habt?

Auf der letzten CD haben wir eine Wasserorgel eingesetzt. Die wollten wir jetzt wieder verwenden, haben sie aber nicht mehr in Gang bekommen. Wasserorgel spielen ist tricky. Jeder kann es gerne probieren, aber er sei gewarnt. Der Ledersack muss ständig feucht gehalten werden, weil er sonst reißt. Dann läuft Dir das Wasser in den Proberaum, ganz schlimm.

Gehen wir mal auf den Livesektor: Wie unterscheidet sich das Publikum, wenn man eine reine CORVUS CORAX-Show und einen „Cantus Buranus“-Auftritt vergleicht?

Das kommt drauf an, wo wir spielen. Wir haben kürzlich in Neu-Ruppin gespielt. Dort sind relativ wenig Fans gekommen, aber es waren trotzdem 2000 Leute da. Am Ende haben sogar Opas und Omas auf den Stühlen gestanden und mit ihren Krückstöcken gejubelt. Wir haben also das Glück, alle Altersgruppen faszinieren zu können. „Cantus Buranus“ wird als Klassik beworben, was natürlich viele ältere Leute anzieht. Zusätzlich führen wir damit viele junge Leute an die Klassik heran, die ansonsten sofort umschalten würden, wenn sie im TV ein Orchester sehen.

Wie habt Ihr letztes Jahr das Wacken Open Air erlebt, wo die Weltpremiere von „Cantus Buranus“ gefeiert wurde?

Am Anfang spürten wir nur extremes Lampenfieber. Wir hatten vorher in Cottbus eine Generalprobe, nach der allerdings noch viele Abänderungen stattgefunden haben. Zusätzlich konnten wir aus Statikgründen der Bühne nicht mit dem kompletten Orchester auftreten und mußten uns mit einer 80-Mann-Besetzung begnügen. Der technische Aufwand war extrem hoch, wurde aber dank unserer grandiosen Techniker ohne Probleme gemeistert. Als wir raus sind, haben wir eigentlich erwartet, dass man uns ausbuht und mit unserer Musik nicht umgehen kann, weil wir keine Gitarren haben. Am Anfang waren die Reaktionen auch noch verhalten, aber als dann im Laufe des Gigs unser Lichtmensch endlich mal das komplette Publikum beleuchtete, sahen wir, dass wirklich bis nach hinten alle Hände oben waren. Später wurde uns dann vom Veranstalter gesagt, dass in etwa 33.000 Leute anwesend waren. Was will man mehr? Es hat bestimmt nicht allen gefallen, aber man gemerkt, dass zumindest einige ergriffen waren, die sich danach auch wirklich mit uns beschäftigt haben. Es gibt eine Menge Metaller, die gerne Met trinken und auf Mittelaltermärkte gehen. Das hat uns schon etwas gebracht. Blödes Beispiel: Früher saß man Berliner Metalkneipen und war immer so eine Art Dudelheini, aber jetzt ist man wer, weil man nach MACHINE HEAD das Wacken Open Air geheadlinet hat, hehe. Deswegen gehe ich auch davon aus, dass wir dieses Jahr auf dem Summer Breeze abräumen werden, hehe.

TANZWUT haben kürzlich auch erst ihre neue Scheibe veröffentlicht. Woher kommt diese unbändige Kreativität, die alleine im letzten Jahr drei Alben hervorgebracht hat? Eigentlich sind es mit TANZWUT-Doppelalbum und der „Cantus Buranus“-Livescheibe ja sogar fünf.

Wir haben einfach alle Lust, Musik zu machen. Außerdem haben wir eine sehr effektive Arbeitsaufteilung. Als Teufel für TANZWUT im Studio eingesungen hat, war ich im Studio und habe den 5.1 Mix für „Cantus Buranus“ gemacht. Und während wir unten im Studio die Dudelsäcke eingespielt haben, lief oben die Plattenfirma weiter. Alles geht Hand in Hand und funktioniert gut. Aber jetzt reicht es. Zum Glück haben wir gerade schönes Wetter, dass wir eine kleine Urlaubsauszeit zu Hause nehmen können. An Pfingsten haben wir mit allen drei Projekten hintereinander gespielt. Freitags in Neu-Ruppin „Cantus Buranus“, samstags CORVUS CORAX auf der Freiburg, sonntags mit TANZWUT auf dem WGT und montags „Cantus Buranus“ auf dem WGT. Danach waren wir echt durch. Wir hängen jetzt sozusagen gerade in einem kreativen Loch. Aber das haben wir uns auch verdient.

Da wird keiner etwas gegen sagen.

Aber es geht ja weiter. „Cantus Buranus II“ wartet schon…

Wann kommt das eigene Festival, wo Ihr an drei Tagen mit allen Euren verschiedenen Projekten headlinet?

Hehe, ich weiß nicht, ob wir uns diesen organisatorischen Aufwand geben wollen. Wir haben bei der Aufführung von „Cantus Buranus“ auf der Berliner Museumsinsel gemerkt, wie hart so etwas ist. Ohne Unterstützung von Doro und Absolut Promotion oder unseres Bürgermeisters Herrn Wowereit hätte das alles nicht geklappt.

Nehmen wir mal an, eines Eurer drei Projekte würde total durch die Decke gehen, was wären die Folgen für die anderen beiden?

Wenn das wirklich passieren würde, wären wir professionell genug zu sagen, dass wir das jetzt durchziehen, würden aber die anderen Sachen nicht fallen lassen. Vielleicht würden sich die Wertigkeiten verändern. Im Moment haben wir das Glück, dass alle drei Standbeine gleichermaßen gefragt sind. „Cantus Buranus“ ist am aufwendigsten, weswegen wir am wenigsten damit auftreten. Aber auf der Bühne macht es unheimlich Spaß. Man merkt die Kraft, die dort frei gesetzt wird. Sollte jetzt jedoch die neue CORVUS-Platte abgehen wie Sau, würden wir es deswegen nicht ad acta legen.

Abschließende Frage: Was bedeutet Dir die Musik?

Ich habe schon immer Musik gemacht, seit ich denken kann. Ich komme aus einem sehr musikalischen Elternhaus. Ich bin sehr froh, dass ich mit 19 Jahren alles hingeschmissen habe. Sonst wäre ich Bauingenieur oder Architekt geworden. Das kann ich mir jetzt überhaupt nicht mehr vorstellen. Es war richtig, das Risiko einzugehen und mit 19 Jahren erstmal nur von Straßenmusik zu leben und das Hobby zum Beruf zu machen. Bei mir ist es nämlich wirklich eine Berufung. Ich werde immer Musik machen, bis ich irgendwann auf der Bühne danieder liege.

Galerie mit 23 Bildern: Corvus Corax - Summer Breeze Open Air 2023
17.07.2006

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