Anthemon
Anthemon
Interview
Selten gibt es sie, aber doch ab und zu mal: die kleinen, aber feinen Überraschungen. So geschehen, als mir das neue Werk der Franzosen von ANTHEMON in den Briefkasten gesegelt ist. Normalerweise meint man nicht, daß atmosphärische, melancholische und emotionale Musik jemanden zu begeistern vermag, dessen halber CD-Schrank nur aus Death, Thrash oder anderen Aggrosparten besteht. Ihr Zweitwerk "Dystopia" hat es jedoch wider Erwarten geschafft, tiefere Spuren zu hinterlassen. Grund genug also, mal bei Bandgründer und Gitarrist Sylvain Begot nachzuforschen … und tief zu bohren … bis auf einen sehr interessanten Grund.
Hi there! Was geht in Frankreich?
Hier ist alles ok. Das Leben in Frankreich unterscheidet sich nicht sehr von dem in Deutschland, wo ich übrigens ziemlich oft bin.
Erste Frage: Was genau bedeutet Anthemon? Handelt es sich um einen verschollenen Pokemon?
Haha, nein! Anthemon ist das griechische Wort für Blume (Peinlich, und ich hatte mal griechisch in der Schule! Anm. d. Verf.). Aber eigentlich haben wir unseren Namen von einer ganz bestimmten Blume namens Crysantheme. Sie ist bekannt dafür, gerne auf Friedhöfen gepflanzt zu werden. Ihre griechische Bezeichnung lautet Khrysanthemon, wovon wir uns die zweite Worthälfte zu eigen gemacht haben.
Euer neues und mittlerweile zweites Album heißt „Dystopia“. Dieses Wort beschreibt einen Zustand tiefer Traurigkeit und Depression. Habt ihr euch beim Schreiben der Songs so gefühlt?
Nein, nicht wirklich. Aber wir sind des Lebens und der heutigen Gesellschaft einfach überdrüssig. Alles ist irgendwie absurd heutzutage. Wir wollten ein Bild der modernen Society malen und wie sie Welt zu einem angsteinflößenden Etwas macht, das Leute versklavt, ohne daß selbige es merken. Wir werden gefüttert mit verblödenden TV-Programmen, bekommen nur noch sinnlose Jobs, unsere Existenzen verlieren an Bedeutung. Du siehst, dies ist kein fröhliches Thema. Außerdem sind wir keine Musiker, die die Massen zum ausgelassenen Tanzen animieren wollen. Deswegen sind unsere Songs dunkel.
Wollt ihr so euren Hörern und Fans auch auf eine gewisse Weise Auswege aus dieser bedrückenden Gesellschaft aufzeigen?
Wenn wir einigen die Augen öffnen können, wäre das schön. Aber es ist nicht unser Ziel zu predigen. Ich denke, wir warnen eher nach dem Motto: „Paßt auf! Seid keine Narren! Ihr seid Menschen und nicht bloß Konsumenten!“ Die Leute müßten wieder mehr lesen und auf das Fernsehen scheißen. Aber wir wissen, daß unsere Worte nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein sein werden. Meistens denken die Leute sowieso, daß wir nur über Science-Fiction schreiben. Und das liegt daran, daß sie keinen objektiven Blick auf ihr eigenes Ich werfen können oder wollen.
Könnt ihr eine Blaupause des Hörer vorlegen, auf den eure Musik gemünzt ist?
Nein, es gibt keinen typischen Anthemon-Hörer. Das einzige, was wir verlangen, ist, daß unser gegenüber einen offenen Geist und ein einfühlsames Musikverständnis hat. Wir picken Dinge aus allen Bereichen des Metal heraus – von seinen frühen Tagen bis hin zum heutigen Extrem-Metal. Trotzdem schreiben wir keine schwierigen Songpuzzles. Am meisten beeinflußt uns der klassische Heavy Metal. Danach folgen Atmospheric Metal, Death Metal, Black Metal, und so weiter. Dann noch ein wenig Gothic und 70er Rock. Früher hatten wir noch eine Sängerin, weswegen wir sogar die Nightwish-Ecke ein wenig angesprochen haben. Bei „Dystopia“ habe ich nun das Gefühl, daß man sich extrem mit dem Album auseinandersetzen muß. Sonst versteht man es nicht. Oberflächliches Zuhören bringt da nichts. Also ist dieses Album an Leute adressiert, die sich Zeit lassen, eine Platte zu entdecken, bevor sie sie beurteilen.
Glaubst du, die Flucht in die Musik ist der beste Weg, traurige und schwierige Momente im Leben zu meistern?
Ob es der beste ist, weiß ich nicht. Die Musik ist aber auf jeden Fall ein sehr guter Weg. Das hängt immer davon ab, wie sensibel man selbst der Musik gegenüber steht. Für die einen ist sie nur Unterhaltung zum Tanzen oder Hintergrundberieselung. Für andere hingegen öffnet sie das Tor in eine andere Welt, fernab des grauen Alltags. Ich gehöre, welch Überraschung, in die zweite Abteilung. Musik war schon immer ein wichtiger Teil meines Lebens, wobei ich stets Hörer UND Musiker gewesen bin.
Musikalisch unterscheidet ihr euch stark vom Death oder Thrash Metal. Glaubst du, daß sich auch die durch die Musik ausgedrückten Emotionen unterscheiden?
Diese Frage kann nicht mit ja oder nein beantwortet werden. Man kann mit der verschiedensten Musikrichtung trotzdem dieselben Gefühle vermitteln. Das hängt immer davon ab, wie der Hörer sie verstehen will. Reabelliun drücken z.B. starkes Chaos und Gewalt aus. Dasselbe macht eine Band namens Magma auf ihrem Album „Köhntartösz“, aber sie hat nichts mit Death Metal zu tun. Es ist nur die Spannung und die Leere, die du fühlst, wenn du diese Songs in dich auf- und auf diese Weise wahrnimmst. Normalerweise drücken wir andere Emotionen, als im Death oder Thrash üblich, aus. Aber es kann schon mal vorkommen, daß man dasselbe Bild im Kopf hat, es dann nur kompositorisch anders umsetzt.
Trotz der vorherrschenden Schwere und Depression auf „Dystopia“ überwiegen bei mir am Ende der Platte positive und zuversichtliche Gefühle. Geht es euch auch so?
Ja, absolut! Ich würde nie behaupten, daß unsere Musik nur dunkel oder depressiv ist. Sie stellt einen Mix aus diversen Gefühlen dar. Manchmal sehr positiv und überschwenglich wie im Großteil des Openers „Above Us“ oder der zweiten Hälfte von „Manifold Of…“. „Dystopia“ ist wie ein Buch. Jeder Song ist ein einzelnes Kapitel, jedes Riff ein einzelner Satz.
Fritz von Bodelschwingh sagte einmal: „Das Leid eines anderen mitzutragen, macht das eigene erträglicher.“ Was hältst du davon?
Weißt du, sich um andere zu kümmern, ist nicht meine Sache. Aus diesem Grunde bin ich vielleicht nicht geeignet, um diese Frage zu beantworten. Was mein Nachbar treibt, geht mir am Arsch vorbei. Ich habe genug mit meinen Verwandten, Freunden, mit meiner Freundin und mir selbst zu tun. Ich lebe und lasse leben. Aber der Satz ist nicht dumm. Das ist gewiß.
Aber ist die Botschaft dieses Satzes nicht vielleicht genau der unterbewußte Auslöser, persönliche und emotionale Lieder zu schreiben und viel von sich preis zu geben?
Du meinst quasi, daß sich Autor und Hörer dadurch helfen? Hmm…wir machen unsere Musik nicht für andere. Denn das wäre der Beginn des Abstiegs hin zu musikalischem Müll. Wir komponieren für uns selbst. Die in der Musik auftauchenden Emotionen resultieren aus persönlichen Erfahrungen und persönlichen Ausdrucksweisen verschiedener Sachverhalte. Natürlich können die Hörer unsere Gefühle teilen. Dadurch werden sie sich uns näher fühlen. Aber Absicht steckt dort keine dahinter.
Ihr spielt einen recht einzigartigen Mix aus verschiedenen Einflüssen. Woraus resultiert er?
Zuerst einmal sind wir sechs Leute in der Band, die alle einen grundverschiedenen Musikgeschmack haben. Die verschiedenen Stile habe ich vorher schon genannt. Ich selbst bin großer Fan der 70er. Das beeinflußt natürlich meinen Schreibstil. Wenn ich einen Song in der Rohfassung den anderen präsentiere, enthält er bereits sehr viele verschiedene Stile. Aber erst durch ihre Beiträge wird er komplett anders, weil sie ihre eigene Persönlichkeit ebenfalls einbringen. Diese Arbeitsweise ist sehr interessant. Zweitens wollen wir zeigen, daß unsere Musik absolut frei von jeglichen Zwängen ist. Nach der Veröffentlichung unseres Debüts „Arcanes“ hatten wir das Gefühl, wir müßten alle Grenzen, die wir uns selbst auferlegt haben, zerstören. Verstehe mich nicht falsch. Wir werden uns auf keinen Fall in eine hyperexperimentelle Band verwandeln. Wir möchten nur unsere Songs machen, ohne auf irgendwelche Barrieren Rücksicht nehmen zu müssen. Auf dem nächsten Album, das wir übrigens schon schreiben, wird man das noch deutlicher hören.
Kann es nicht aber auch riskant sein, alle Grenzen so links liegen zu lassen? Power Metallern enthält eure Musik dann zu viel Death Metal, während sich die Doomster an den schnellen Parts stören oder den Proggies die eingängigen Parts nicht gefallen. Oder ist es ein Vorteil, zwischen allen Stühlen zu sitzen?
Ich halte das Wort riskant hier für falsch gewählt, denn es impliziert, daß die Musik hier für ein Produkt gehalten wird, das wie Marmelade oder Toilettenpapier verkauft wird. Ich möchte nicht verleugnen, daß viele Bands nicht viel mehr in ihrem Schaffen sehen, als Platten zu verkaufen. Aber das ist nicht unser primäres Ziel. Wir haben einen künstlerischen Anspruch an unsere Songs. Wenn dies den Leuten gefällt, schön. Wenn nicht, verkaufen wir eben nur wenige Platten, aber das ist ok. Wir müssen nur so viele Scheiben an den Mann bringen, daß die Kohle für den nächsten Studioaufenthalt reicht. Natürlich wollen wir so viele Leute wie möglich erreichen. Dafür werden wir uns und unsere Art, Musik zu machen, jedoch nicht ändern. Opeth z.B., die ich übrigens für die beste Formation der letzten Jahre halte, mußten auch erst fünf Platten raushauen, um beachtet zu werden. Insofern ist es schon ein Handicap, wenn man sich nicht auf ein Genre festlegen läßt. Aus diesem Grunde denke ich auch, daß Anthemon nie große Bekanntheit erlangen werden. Wir passen einfach nicht in das Business-Schema, das Erfolg bringt.
Man soll niemals nie sagen. Trotzdem muß ich die nächste Frage stellen: Was haben Anthemon für Pläne für die Zukunft?
Wir möchten endlich touren und viel mehr live spielen. Falls uns jemand buchen will, nur zu. Und demnächst geht es an die Rehearsals zum neuen Album, das die Leute noch mehr überraschen wird. Ich hoffe natürlich positiv.
Warst du zufrieden mit dem Jahr 2004?
Es gibt nichts, worüber ich mich beschweren könnte. Ich habe eine neue Wohnung. Marc (Grunts, Baß – Anm. d. Verf.) ist Vater geworden und wohl gerade der glücklichste Mensch auf Erden. Was Anthemon angeht, sind wir mit dem Line-up und dem neuen Album sehr zufrieden. Ja, 2004 war kein schlechtes Jahr.
Hast du an Silvester irgendwelche Vorsätze für 2005 gefaßt?
Ich will mit dem Rauchen aufhören. Wie jedes Jahr, und ich werde es wieder nicht packen.
Habe ich irgend etwas vergessen zu fragen?
Eigentlich nur, wie das Wetter gerade in Paris ist. Ein frohes, neues Jahr wünsche ich nach Deutschland!
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